Noch ein letztes Mal führt das Amosbuch in die Vorstellung eines Visionsprotokolls. Dabei erscheint diese fünfte Vision weit abgehängt von den vorangehenden Visionsstrophen (7,1-3.4-6.7-8; 8,1-3). In der Konzeption des Gesamtbuches soll sie wohl die Reihe der Unheilssprüche 8,4-14 wie mit einem Ausrufezeichen abschließen, ähnlich wie die vierte Vision als Antwort auf die Amos-Amazja-Szene (Amos 7,10-17) gelesen werden will. In gewisser Weise verändern die Visionen damit ihre Funktion. Während sie vom Wortlaut her ein seine Begründung schuldig bleibender Verkündigungs- bzw. Berufungsauftrag an den Propheten sind, werden sie nun zu Urteilssprüchen, die durch die in den Vortexten genannten Vergehen begründet werden. Dabei stellt sich die fünfte Vision in der Abfolge eindeutig als ein Höhepunkt in der Visionsfolge dar.
Vers 1
Schon die Einleitung weicht deutlich von der bisherigen Formulierung "Dies hat Gott, der HERR, mich sehen lassen" (vgl. Verse 7,1.4.7; 8,1) ab. Sehr viel direkter heißt es jetzt: "Ich sah", und Gegenstand der Schauung ist weder "etwas" (s. der "Erntekorb" in der vierten Vision) noch ein "jemand" (so in der ersten und zweiten Vision); vielmehr wird klar und deutlich "der HERR", also Gott selbst als Gegenüber des Propheten benannt. Das verbindet Amos 9,1 mit 7,7. Diese Übereinstimmung zwischen dritter und fünfter Vision scheint kein Zufall zu sein. Denn beide Texte sind auch durch das "Stehen" des HERRN (auf einer Mauer bzw. auf einem Altar) miteinander verbunden sowie durch die Tatsache, dass sie - im Gegensatz zu den übrigen Visionen - keinen Bezug zur Landwirtschaft enthalten. Ganz im Gegenteil: Liest man die dritte Vsion in ihrer engen Verknüpfung zur Amos-Amazja-Szene in Bet-El, sind beide Schauungen durch ihren kultischen Bezug (Königsheiligtum von Bet-El und Altar) miteinander verbunden.
So gibt sich vom ersten Vers her die jetzt fünfte Vision Amos 9,1-4 als Verstärkung der dritten Vision zu erkennen, mit der sie vielleicht einmal ursprünglich ein Paar bildete. Der Eindruck der Steigerung bleibt auch in dieser Kombination bestehen. Denn einzig in der fünften Vision verlässt Amos seine Position als Schauender und wird Teil des geschauten Geschehens. Als derjenige, der durch den Schlag auf eine tragende Tempelsäule das Gebäude zum Zusammenbruch bringen soll, wird er zum ausführenden Organ des Wortes Gottes. Das Verb "erbeben" erweckt den Eindruck: Der Prophet soll ein Erdbeben (vgl. Amos 1,1; 2,13) ankündigen, das er selber in Gang setzt. Das rätselhafte Bild ist kaum real aufzulösen. Vielmehr dürfte gemeint sein: Weil der Prophet nicht aus sich heraus spricht, sondern als Sprachrohr seines Gottes, wirkt im Prophetenwort Gott selbst. Im Aussprechen der Botschaft wird das angekündigte bzw. geschaute Ereignis - eben das Erdbeben als Strafgericht Gottes - bereits in Gang gesetzt. Dabei doppeln sich die Bilder auch noch, insofern das Erdbebenbild mit der Vorstellung eines kriegerischen Angriffs ("mit dem Schwert töten") gekoppelt wird.1
Von der ursprünglichen Verkündigung des Amos her gedacht, kann der nicht näher beschriebene Tempel eigentlich nur derjenige von Bet-El sein, über den wir archäologisch nichts weiter wissen. Bedenkt man, dass Amos 8,4-14 eher in die nachexilische Zeit gehört, hat man in dieser Zeit das Stichwort "Tempel" sicherlich auf den Tempel schlechthin, nämlich den Jerusalemer Tempel bezogen, den die Babylonier im Jahr 587/86 v. Chr. gebrandschatzt und dem Erdboden gleich gemacht haben.
Nicht zuletzt erinnert die Vorstellung eines mit Menschenkraft ausgelösten Tempeleinsturzes, der die Menschen unter sich begräbt, an die Simson-Erzählung in Richter 16,23-31 (zum Text s. unter "Kontext"). Allerdings sind die Textsorten sehr verschieden: im Amosbuch eine Vision, die symbolhaft aufgelöst werden will; im Richterbuch die legendenhafte Überhöhung einer Figur aus der frühen Geschichte Israels, deren historischer Kern schwer auszumachen ist. Noch wichtiger ist die unterschiedliche Pointe: Richtet sich des Simson Kraft gegen die Philister, also gegen die Feinde Israels, wendet sich das Tun Gottes mittels des Propheten Amos gegen sein eigenes Volk.
Der Versteil: "Was dann von ihnen noch übrig ist, töte ich mit dem Schwert." bildet eine Klammer mit dem Beginn von Vers 4: " Und wenn sie vor ihren Feinden her in die Gefangenschaft ziehen, dann befehle ich dort dem Schwert, sie zu töten". Diese Rahmung weist auf den nachträglichen Einschub der dazwischen liegenden Verse 2-3 hin, so dass die ursprüngliche Fortsetzung von Vers 1 in Vers 4b liegen dürfte: "Ich habe meine Augen auf sie gerichtet zum Bösen und nicht zum Guten."
Vers 4b
Dieser provozierende Schlussatz beschreibt keine neue Handlung, sondern wertet das in Vers 1 beschriebene Unheil: Gott erklärt sich zum Feind seines eigenen Volkes. Einmal mehr zeigt sich die Nähe der fünften Vision zur dritten. Denn einen solchen wertenden Satz gab es bereits auch dort: "Ich gehe nicht noch einmal an ihm [d. h. an meinem Volk Israel] vorüber" (Amos 7,8). Und wieder wird man die Formulierung in 8,4b als Steigerung verstehen dürfen.
Verse 1c-3
In den Visionstext eingebaut ist die Ankündigung der Vergeblichkeit jeglichen Fluchtversuchs vor den Maßnahmen JHWHs. Dies wird allgemein in Vers 1c festgestellt und dann fast litaneiartig in den Versen 2-3 entfaltet. Näherhin wird die Unmöglichkeit der Flucht durch die Auflistung bis ins Kosmische gesteigerter Bergungsmöglichkeiten herausgestellt, die allesamt dem Zugriff JHWHs nicht entzogen sind. Die Formulierungen erinnern zum Teil an Psalm 139,8-10 (vgl. dazu unter der Rubrik "Auslegung" mit Wiedergabe des Psalmtextes), zum Teil scheint bewusst auf Vokabular des Amosbuches zurückgegriffen worden zu sein. So ist die "Schlange" aus Am 5,19 bekannt, der "Karmelkopf" aus 1,2, "Gefangenschaft" und "Schwert" kennen die Leser/innen bereits aus 4,10.
Verse 5-6
Passend zur fünften Vision folgt die letzte Strophe des Namen-Gottes-Hymnus (nach 4,13 und 5,8f.), insofern sie deutlich vom Bild des Erdbebens in der vorangehenden Vision geprägt ist. Vorbereitet durch die Frage Amos 8,8 wird nun vor allem der Gott gepriesen, der die Möglichkeit hat, die Schöpfungsordnung umzustürzen, die Leben überhaupt erst ermöglicht. Positive Aussagen zur Schöpfung entfallen in dieser gegenüber 4,13 und 5,8 längsten Hymnusstrophe ganz. Um so entscheidender ist jedoch, dass JHWH souverän über dem Untergang steht. Auch die Zerstörung des Tempels ändert daran nichts. Der Zusammenbruch des irdischen Gemäuers bedeutet nicht den Untergang der himmlischen Wohnung. Als der Jen-zeitige und Jen-seitige ist Gott allein von solcher Unerschütterlichkeit und Verlässlichkeit, dass auch nur von ihm her die Wiederherstellung der Lebensordnung möglich ist. Dies ist allerdings Ausdruck eines großen Glaubens: In einer Katastrophe (Zerstörung Jerusalems und Exil), die nur noch mit der Sintflut verglichen werden kann (9,6b), hält das biblische Zeugnis an dem Gott fest, der diese Katastrophe selbst herbeigeführt hat. Sein Name wird weiterhin vom Volk angerufen - des eigenen Versagens bewusst und auf einen Neuanfang hoffend, den nur dieser Gott mit Namen JHWH gerwähren kann. In der Einheitsübersetzung geht dieser Gottesname etwas unter, da hier die durchgängige Wiedergabe der hebräischen vier Buchstaben JHWH in altkirchlicher Tradition und in Respekt gegenüber dem Judentum, in dem der Gottesname zwar geschrieben, aber nicht ausgesprochen wird, "der HERR" lautet.