Das Buch Amos

Am 8,1-3: Die vierte Vision

81Dies hat GOTT, der Herr, mich sehen lassen: Siehe, ein Korb für die Ernte.

2Er fragte: Was siehst du, Amos? Ich antwortete: Einen Korb für die Ernte.

Da sagte der HERR zu mir: / Gekommen ist das Ende zu meinem Volk Israel. / Ich gehe nicht noch einmal an ihm vorüber.

3Dann heulen die Sängerinnen des Palastes. / An jenem Tag - Spruch GOTTES, des Herrn - gibt es viele Leichen, überall wirft man sie hin. Still!

Überblick

Einordnung ins Buch

Die in Amos 7,10-17 dramatisch geschilderte Begegnung zwischen Amazja, dem obersten Priester am Staatsheiligtum des Nordreichs, und dem Propheten Amos aus dem Südreich Juda, endete mit zwei gegenseitigen Verurteilungen: Amos wird des Landes verwiesen, Amazjas Familie wird der Kriegstod angekündigt, Amazja selbst ein Tod "auf unreinem Boden", wohl eine Umschreibung des heidnischen Auslands. Und schließlich wird dieses Ende noch als Bild für das Ende des gesamten Nordreichs gedeutet, das ebenfalls ins Ausland, in die Verbannung ziehen muss.

Mit Am 8,1-2 wird - wie in einem Filmschnitt - abrupt aus dieser Szene ausgeblendet und  an die vorangehenden drei Visionen Amos 7,1-3.4-6.7-8(.9) angeknüpft. Wieder befinden wir uns in einer Art "Visionsprotokoll". Dabei folgt die literarische Form dem Muster der dritten Vsision:

  • Einleitungsformel: "Dies hat Gott, der HERR, mich sehen lassen" (Vers 1)
  • Vergewisserungsdialog (Vers 2a)
  • Deutung des Geschauten durch Gott (Vers 2b)

Der Schlusssatz der Deutung ("Ich gehe nicht noch einmal an ihm vorüber.") bestätigt wörtlich, was Gott schon am Ende der dritten Vision (Amos 7,3b) gesagt hat. Damit gibt sich diese Visionsstrophe von der Lesefolge her als Verstärkung der dritten Vision zu erkennen, die in neuer Bildsprache den Untergang "meines Volkes Israel" proklamiert. Auch diese Redeweise verbindet wörtlich Amos 7,8 und 8,2.

Die Übereinstimmungen zwischen dritter und vierter Vision sind deshalb zu betonen, weil die Bildwelt von Am 8,1-2 nicht auf die dritte, sondern auf die erste und zweite Vision zurück verweist. Dort spielten die Jahreszeiten (Frühjahr und Frühsommer) bereits eine große Rolle. Sie begegnen jetzt in Gestalt des Wortes "Ernte", das im Hebräischen doppeldeutig ist und auch die Vokabel für "Sommer" ist. So kann man gelegentlich (z. B. in der Elberfelder Bibel) auf die Übersetzung "Ein Korb mit Sommerobst" statt "ein Korb für die Ernte" (so die Einheitsübersetzung) treffen. Während die dritte Vision aufs Engste mit der Amazja-Amos-Perikope 7,10-17 verzahnt ist und das Ende der Vergebungsbereitschaft Gottes mit dem Redeverbot für Amos begründet, weisen die drei anderen Visionen eine etwas andere Linie auf: Sie wollen zumindest den Eindruck vermitteln, Amos habe im Laufe eines Saat- und Erntezyklus allmählich durch Visionen erkennen müssen, dass er das Nordreich nicht durch seine Fürsprache retten kann. Bedroht ist nicht nur die landwirtschaftliche Grundlage des "kleinen Jakob" (Amos 7,2.5) und seine Ernte, sondern Israel selbst steht zur "Ernte" an.

Mit der Rede von “jenem Tag” in Vers 3 wird ein neues Thema angeschlagen, das dann wieder in Am 8,9-10 und 8,13-14 eine Rolle spielt. Auf diese Verse soll wohl vorausverwiesen werden. Dem dazwischen stehenden Text Am 8,4-7 kommt die Funktion der Begründung des angekündigten Unheils zu.

 

Vers 1: Die Schauung

Mit der aus den ersten drei Visionen bekannten Formulierung "Dies hat GOTT, der Herr, mich sehen lassen" wird ein neues "Objekt" des innerlichen Sehvorgangs in Amos eingeführt: keine dramatische Szene wie in den ersten drei Visionen, sondern ein Gegenstand mit Symbolcharakter. Während der Begriff "Korb" eindeutig ist, lässt das zweite Wort - hebräisch qayiṣ [gesprochen: kájits] zwei Deutungen zu und hat außerdem noch eine Lautverwandtschaft mit einem weiteren Wort. "Sommer" bzw. "Sommerobst", "Ernte" und "Ende" (hebräisch: qēṣ [gesprochen: kehts]) sind die drei Bildwelten, die aufgerufen werden.

Es handelt sich wohl - wenn man den sog.  Bauernkalender von Gezer aus dem 10. Jh. v. Chr. zugrunde legt (s. dazu den einschlägigen wikipedia-Eintrag unter https://de.wikipedia.org/wiki/Gezer-Kalender), der den “Monat des Sommerobstes” als letzten nennt - um die Früchte, die Mitte August bis Mitte September reif sind. Im wesentlichen dürfte an Feigen gedacht sein, Obst, das Jeremia 40,10.12 neben Wein und Öl als lagerfähige und damit lebenswichtige Grundlebensmittel nennt. Ihre Ernte bzw. Lese ist in Israel seit alters her Anlass für ein Freudenfest (vgl. Exodus 34,22b). Damit ist der Korb  zunächst einmal mit einer positiven Erwartungshaltung verbunden, indem er Leben und Freude assoziieren läßt.

 

Vers 2: Die Nachfrage

Angesichts der scheinbaren Eindeutigkeit des Bildes überrascht die Frage an Amos, die ihn zwingt, zu benennen, was eigentlich klar ist. Schon in der Frage liegt damit etwas Bedrohliches. Dies bestätigt die Deutung aus dem Mund des HERRN: Der Korb mit Sommerobst ist als gefüllter Erntekorb zu verstehen (vgl. dazu den gefüllten Erntewagen in Amos 2,13!), die Obsternte aber als Bild für eine ganz andere Ernte. Der “Obstschnitt” sollte auf den “Schnitter (Tod)” verweisen. Die Botschaft ist eindeutig: Keine Chance mehr für Israel! Dabei ist die Formulierung noch erschreckender als bei der dritten Vision. Sie steht nämlich in der Vergangenheit: Das Ende ist (bereits) gekommen - nur, das Volk hat es noch nicht gemerkt. Damit geraten zwei Dinge in einen Zusammenhang, der den Zeitgenossen des Amos und ihm selbst sogar vielleicht zuvor unausdenklich waren: die Erwählung durch Gott, die sich in der Wortwahl “mein Volk” ausdrückt und auf Dauer angelegt zu sein scheint, und das Wort “Ende”. Der harte Zusammenprall beider Gedanken bedeutet den endgültigen Widerruf des Unheilsverzichts auf die Fürbitte des Amos in den ersten beiden Visionen: Kein Mitleid mehr mit dem “kleinen Jakob”, um seinen Bestand zu sichern, sondern "Ende für mein Volk Israel”. Aus der Sicht des Amos ist er als Prophet im Sinne des Fürbitters gescheitert, um nun zum Todesboten zu werden. Da die vierte Vision diese Wende definitv markiert, wundert es nicht, dass nur und gerade hier die Gottesrede die Einleitungsformel erhält: “Und der HERR sagte zu mir”. 

 

Vers 3

Ähnlich wie der Vers Amos 7,9 ein Scharniervers zwischen der dritten Vision (Amos 7,7-8) und der Amos-Amazja-Szene (7,10-17) ist, bildet Amos 8,3 ein Scharnier zwischen der vierten Vision und dem folgenden Teil Amos 8,4-14, eine Zusammenstellung von Einzelworten. In deren Zentrum stehen die Begriffe "Trauer" und "Totenklage" (Amos 8,10).

Genau dieses Thema wird in Vers 3 vorbereitet. Als dramatisierende Ausgestaltung des "Endes" wird der Blick auf den Königspalast und seine Sängerinnen gelenkt. Sie dienen nicht mehr dem Amüsement des Hofes, sondern sind die Totenklägerinnen des Untergangs.

 

 

Auslegung

Die Rede vom "Ende" (Vers 2)

Lange Zeit stand unumstößlich und unhinterfragt fest, dass die markante Ankündigung des "Endes" in Amos 8,2 in späteren Zeiten so etwas wie ein Katalysator geworden ist. Die so wuchtig daher kommende Formulierung des Amosbuches, die dort allerdings nur ein einziges Mal auftaucht, wird in exilisch-nachexilischer Zeit zum Auslöser einer Betrachtung der Zerstörung Jerusalems im Jahr 587/586 v. Chr. bzw. der sich anschließenden Zeit des babylonischen Exils der jüdischen Oberschicht, dem erst die Perser mit dem Sieg über Babylon 539/538 v. Chr. ein Ende setzten. Heute mehren sich die Stimmen, die auch die vierte Vision des Amosbuches in diese späte Zeit einordnen, weil ihnen eine Vorwegnahme der auffallenden Rede vom "Ende" über 150 Jahre vor dem Exil - bei einer Ansetzung des Amos und seiner ersten "Verschriftlicher" in der zweiten Hälfte des 8. Jh. v. Chr. - wenig plausibel erscheint.

Letzte Sicherheiten in solchen Einordnungsfragen wird es nicht geben. Es bleibt aber spannend, die weiteren Texte  anzuschauen, die um das Wort "Ende" kreisen:

In Ezechiel 7 wird das Wort vom Ende zum Kristallisationskern einer großen Unheilsankündigung (vgl. bes. VV2.3.6):

1 Das Wort des HERRN erging an mich:  2 Du, Menschensohn: So spricht GOTT, der Herr, zum Ackerboden Israels: Ende! Es kommt das Ende über die vier Ecken der Erde.  3 Jetzt ist das Ende über dir; ich lasse meinen Grimm gegen dich los, ich spreche dir das Urteil, das deinem Wandel entspricht, und bringe über dich alle deine Gräueltaten.  4 Mein Auge zeigt kein Mitleid mit dir und ich übe keine Schonung, sondern deinen Wandel vergelte ich dir und deine Gräueltaten sollen sich in deiner Mitte auswirken. Dann werdet ihr erkennen, dass ich der HERR bin.  5 So spricht GOTT, der Herr: Unglück! Nie da gewesenes Unglück! Siehe, es kommt.  6 Ein Ende kommt. Es kommt das Ende. Es ist reif für dich. Siehe, es kommt.  7 Es kommt das Verhängnis zu dir, Bewohner des Landes. Es kommt die Zeit, der Tag ist nahe: Tumult, kein Jauchzen mehr auf den Bergen!

Gegenüber der einmaligen und damit vielleicht um so wirkungsvolleren Rede vom "Ende" in Am 8,2 hämmert der Prophet dieses Ende geradezu ein. Den "Anfang dieses Endes" hat der Prophet selbst miterlebt, als er in den 590er Jahren v. Chr. in einer ersten Deportationswelle nach Babylon verschleppt wurde. Dort wird ihm von Gott her klar, dass dieses Ende das Ende noch nicht war. Der Fall Jerusalems und seine Brandschatzung durch die Perser stehen noch aus.

Was Ezechiel 7 im prophetischen Vorausblick formuliert, deutet Klagelieder 4,18 aus dem Rückblick: die Zerstörung Jerusalems und das Exil:

"Man stellte unseren Schritten nach, wir konnten nicht auf die Straßen. Unser Ende war nah, die Tage voll, ja, unser Ende kam."

Jeremia 51,13 hingegen bezieht das "Ende" auf den Untergang Babels:

"Die du an großen Wassern wohnst, so reich an Schätzen, dein Ende ist gekommen, dein Maß ist voll."

So trifft gemäß dem weisheitlichen Grundsatz, dass der Täter in die von ihm gegrabene Grube selbst hineinfällt, das hochmütige und in seine eigene Macht verliebte Babylon dasselbe, was es Jerusalem angetan hat: das Ende.

Sehr viel grundsätzlicher verkündet Genesis 6,13 das "Ende allen Fleisches" als Antwort auf die sich auftürmende "Gewalttätigkeit" des Menschen. Gemeint ist die Sintflut, die sich aber über die zugleich miterzählte Rettung des Noach, seiner Familie und der Tierwelt als eine Geschichte des Neuanfangs erweist. Von dieser Erzählung her gelesen, die ja wie eine Art Vorzeichen allen folgenden biblischen Texten vorangestellt ist, kann Amos 8,1-3 ebenfalls nur als ein Ende gelesen werden, dem ein Neuanfang innewohnt. Ob das bereits dem Propheten Amos selbst klar war, mag dahingestellt bleiben. Die aus seinen Worten aber ein Buch formten, taten es wohl in dieser Überzeugung.

 

Ein Ende mit Schrecken (Vers 3)

Besonders die ausdrückliche Erwähnung der Vielzahl der "Leichen" (dazu vgl. noch Nahum 3,3), aber auch der kurze Schweigeaufruf "Still!" erinnern deutlich an das andere Unterggangsszenario Amos 6,9-10. Die Konzentration auf den Palast passt zu Amos 7,9.11, der respektlose Umgang mit den Leichen, der sich im Wort "hinwerfen" ausdrückt, ist aus Amos 4,3 bekannt. Diese vielfältigen Bezüge sprechen am ehesten dafür, dass in Vers 3 weniger der Prophet selbst zu Wort kommt, als eine spätere Hand, die gestaltend in die Dramaturgie des Amosbuches eingreift. Das wenig hoffnungsvolle Szenario ist vielleicht vom gerade zurückliegenden Untergang Jerusalems im Jahr 586 v. Chr. oder einer noch späteren Zeit inspiriert. Hingewiesen sei zumindest auf das ebenfalls in einer Vision geschaute "Horrorbild" des Propheten Sacharja, der die Zeit um 520 v. Chr. mit den Worten umschreibt: "und siehe, die ganze Erde ruht und liegt still" (Sacharja 1,11). Gemeint ist hier die Erde als großes Gräberfeld mit Friedhofsstille.

Ein solches Unheilswort wie Am 8,3 "schreit" geradezu nach einer hoffnungsvollen Auflösung, die aber im Amosbuch noch bis ins letzte Kapitel auf sich warten lässt.

Kunst etc.

Mary Harrsch: The Prophet by Emil Nolde recreated by Lego artist Nathan Sawaya, CC BY-NC-SA 2.0
Mary Harrsch: The Prophet by Emil Nolde recreated by Lego artist Nathan Sawaya, CC BY-NC-SA 2.0

Der vom Lego-Künstler Nathan Sawaya (geb. 1973) nachgebaute Propheten-Kopf des Malers Emil Nolde (1867 - 1956), der hier seine Kunst im Holzschnitt erwiesen hat, gibt eine Ahnung vom Schrecken göttlicher Visionen. Unabhängig von der Frage, was man sich im Einzelnen unter einer solchen "Vision" tatsächlich vorzustellen hat, ist sie biblisch vielfach nicht als beglückende Begegnung mit dem Leben erschaffenden und in seinen Dienst rufenden Gott verstanden. Vielmehr hat sie etwas Erschreckendes und Verstörendes. So erfahren wir auch von keinem einzigen Propheten, der sich nach seinem Auftrag gedrängt hat. Gerade Am 8,1-3, die vierte Vision des Amosbuches, lässt dies deutlich werden.

Übrigens: Das Erschreckende solcher Visionen bleibt auch im Neuen Testament bestehen. Wohl kaum zufällig wird dem Engel Gabriel, den Maria in der Verkündigungsszene schaut, als eines der ersten Worte in den Mund gelegt: "Fürchte dich nicht." Lässt man süßliche marianische Frömmigkeit beiseite, spürt man aus dieser "Beschwichtigung" geradezu den Schrecken heraus, der Maria zunächst einmal in die Glieder gefahren ist und auch als solcher benannt wird (vgl. Lk 1,29-30).