Einordnung ins Buch
Die in Amos 7,10-17 dramatisch geschilderte Begegnung zwischen Amazja, dem obersten Priester am Staatsheiligtum des Nordreichs, und dem Propheten Amos aus dem Südreich Juda, endete mit zwei gegenseitigen Verurteilungen: Amos wird des Landes verwiesen, Amazjas Familie wird der Kriegstod angekündigt, Amazja selbst ein Tod "auf unreinem Boden", wohl eine Umschreibung des heidnischen Auslands. Und schließlich wird dieses Ende noch als Bild für das Ende des gesamten Nordreichs gedeutet, das ebenfalls ins Ausland, in die Verbannung ziehen muss.
Mit Am 8,1-2 wird - wie in einem Filmschnitt - abrupt aus dieser Szene ausgeblendet und an die vorangehenden drei Visionen Amos 7,1-3.4-6.7-8(.9) angeknüpft. Wieder befinden wir uns in einer Art "Visionsprotokoll". Dabei folgt die literarische Form dem Muster der dritten Vsision:
- Einleitungsformel: "Dies hat Gott, der HERR, mich sehen lassen" (Vers 1)
- Vergewisserungsdialog (Vers 2a)
- Deutung des Geschauten durch Gott (Vers 2b)
Der Schlusssatz der Deutung ("Ich gehe nicht noch einmal an ihm vorüber.") bestätigt wörtlich, was Gott schon am Ende der dritten Vision (Amos 7,3b) gesagt hat. Damit gibt sich diese Visionsstrophe von der Lesefolge her als Verstärkung der dritten Vision zu erkennen, die in neuer Bildsprache den Untergang "meines Volkes Israel" proklamiert. Auch diese Redeweise verbindet wörtlich Amos 7,8 und 8,2.
Die Übereinstimmungen zwischen dritter und vierter Vision sind deshalb zu betonen, weil die Bildwelt von Am 8,1-2 nicht auf die dritte, sondern auf die erste und zweite Vision zurück verweist. Dort spielten die Jahreszeiten (Frühjahr und Frühsommer) bereits eine große Rolle. Sie begegnen jetzt in Gestalt des Wortes "Ernte", das im Hebräischen doppeldeutig ist und auch die Vokabel für "Sommer" ist. So kann man gelegentlich (z. B. in der Elberfelder Bibel) auf die Übersetzung "Ein Korb mit Sommerobst" statt "ein Korb für die Ernte" (so die Einheitsübersetzung) treffen. Während die dritte Vision aufs Engste mit der Amazja-Amos-Perikope 7,10-17 verzahnt ist und das Ende der Vergebungsbereitschaft Gottes mit dem Redeverbot für Amos begründet, weisen die drei anderen Visionen eine etwas andere Linie auf: Sie wollen zumindest den Eindruck vermitteln, Amos habe im Laufe eines Saat- und Erntezyklus allmählich durch Visionen erkennen müssen, dass er das Nordreich nicht durch seine Fürsprache retten kann. Bedroht ist nicht nur die landwirtschaftliche Grundlage des "kleinen Jakob" (Amos 7,2.5) und seine Ernte, sondern Israel selbst steht zur "Ernte" an.
Mit der Rede von “jenem Tag” in Vers 3 wird ein neues Thema angeschlagen, das dann wieder in Am 8,9-10 und 8,13-14 eine Rolle spielt. Auf diese Verse soll wohl vorausverwiesen werden. Dem dazwischen stehenden Text Am 8,4-7 kommt die Funktion der Begründung des angekündigten Unheils zu.
Vers 1: Die Schauung
Mit der aus den ersten drei Visionen bekannten Formulierung "Dies hat GOTT, der Herr, mich sehen lassen" wird ein neues "Objekt" des innerlichen Sehvorgangs in Amos eingeführt: keine dramatische Szene wie in den ersten drei Visionen, sondern ein Gegenstand mit Symbolcharakter. Während der Begriff "Korb" eindeutig ist, lässt das zweite Wort - hebräisch qayiṣ [gesprochen: kájits] zwei Deutungen zu und hat außerdem noch eine Lautverwandtschaft mit einem weiteren Wort. "Sommer" bzw. "Sommerobst", "Ernte" und "Ende" (hebräisch: qēṣ [gesprochen: kehts]) sind die drei Bildwelten, die aufgerufen werden.
Es handelt sich wohl - wenn man den sog. Bauernkalender von Gezer aus dem 10. Jh. v. Chr. zugrunde legt (s. dazu den einschlägigen wikipedia-Eintrag unter https://de.wikipedia.org/wiki/Gezer-Kalender), der den “Monat des Sommerobstes” als letzten nennt - um die Früchte, die Mitte August bis Mitte September reif sind. Im wesentlichen dürfte an Feigen gedacht sein, Obst, das Jeremia 40,10.12 neben Wein und Öl als lagerfähige und damit lebenswichtige Grundlebensmittel nennt. Ihre Ernte bzw. Lese ist in Israel seit alters her Anlass für ein Freudenfest (vgl. Exodus 34,22b). Damit ist der Korb zunächst einmal mit einer positiven Erwartungshaltung verbunden, indem er Leben und Freude assoziieren läßt.
Vers 2: Die Nachfrage
Angesichts der scheinbaren Eindeutigkeit des Bildes überrascht die Frage an Amos, die ihn zwingt, zu benennen, was eigentlich klar ist. Schon in der Frage liegt damit etwas Bedrohliches. Dies bestätigt die Deutung aus dem Mund des HERRN: Der Korb mit Sommerobst ist als gefüllter Erntekorb zu verstehen (vgl. dazu den gefüllten Erntewagen in Amos 2,13!), die Obsternte aber als Bild für eine ganz andere Ernte. Der “Obstschnitt” sollte auf den “Schnitter (Tod)” verweisen. Die Botschaft ist eindeutig: Keine Chance mehr für Israel! Dabei ist die Formulierung noch erschreckender als bei der dritten Vision. Sie steht nämlich in der Vergangenheit: Das Ende ist (bereits) gekommen - nur, das Volk hat es noch nicht gemerkt. Damit geraten zwei Dinge in einen Zusammenhang, der den Zeitgenossen des Amos und ihm selbst sogar vielleicht zuvor unausdenklich waren: die Erwählung durch Gott, die sich in der Wortwahl “mein Volk” ausdrückt und auf Dauer angelegt zu sein scheint, und das Wort “Ende”. Der harte Zusammenprall beider Gedanken bedeutet den endgültigen Widerruf des Unheilsverzichts auf die Fürbitte des Amos in den ersten beiden Visionen: Kein Mitleid mehr mit dem “kleinen Jakob”, um seinen Bestand zu sichern, sondern "Ende für mein Volk Israel”. Aus der Sicht des Amos ist er als Prophet im Sinne des Fürbitters gescheitert, um nun zum Todesboten zu werden. Da die vierte Vision diese Wende definitv markiert, wundert es nicht, dass nur und gerade hier die Gottesrede die Einleitungsformel erhält: “Und der HERR sagte zu mir”.
Vers 3
Ähnlich wie der Vers Amos 7,9 ein Scharniervers zwischen der dritten Vision (Amos 7,7-8) und der Amos-Amazja-Szene (7,10-17) ist, bildet Amos 8,3 ein Scharnier zwischen der vierten Vision und dem folgenden Teil Amos 8,4-14, eine Zusammenstellung von Einzelworten. In deren Zentrum stehen die Begriffe "Trauer" und "Totenklage" (Amos 8,10).
Genau dieses Thema wird in Vers 3 vorbereitet. Als dramatisierende Ausgestaltung des "Endes" wird der Blick auf den Königspalast und seine Sängerinnen gelenkt. Sie dienen nicht mehr dem Amüsement des Hofes, sondern sind die Totenklägerinnen des Untergangs.