Das Buch Amos

Am 7,1-9: Die ersten drei Visionen

Erste Vision: Heuschrecken: 7,1–3

71Dies hat GOTT, der Herr, mich sehen lassen:

Siehe, da war einer, der einen Heuschreckenschwarm formte, als die Spätsaat zu wachsen begann. Und siehe, die Spätsaat folgt auf den Schnitt für den König.

2Sie machten sich daran, alles Grün im Land zu vertilgen. Da rief ich: Herr und GOTT, vergib doch! Wie kann Jakob bestehen? Er ist ja so klein.

3Da hatte der HERR Mitleid: Es wird nicht geschehen - sprach der HERR.

Zweite Vision: Feuerregen: 7,4–6

4Dies hat GOTT, der Herr, mich sehen lassen: Siehe, da rief jemand einen Angriff mit Feuer herbei, Herr und GOTT, und es fraß die große Urflut und wollte das Ackerland verschlingen.

5Da rief ich: Herr und GOTT, halte doch ein! Wie kann Jakob bestehen? Er ist ja so klein.

6Da hatte der HERR Mitleid: Auch das wird nicht geschehen - sprach GOTT, der Herr.

Dritte Vision: der Herr mit dem Zinnschwert: 7,7–9

7Dies hat er mich sehen lassen: Siehe, der Herr stand auf einer Mauer aus Zinn und in seiner Hand war Zinn.

8Und der HERR fragte mich: Was siehst du, Amos? Ich antwortete: Zinn. Da sagte der Herr: Siehe, ich lege Zinn in die Mitte meines Volkes Israel. Ich gehe nicht noch einmal an ihm vorüber.

9Isaaks Kulthöhen werden verwüstet und Israels Heiligtümer zerstört; mit dem Schwert erhebe ich mich gegen das Haus Jerobeam.

Überblick

Abrupter Szenenwechsel. Wurde bislang das Amosbuch bestimmt von der Rede-Attacke des Propheten gegen die Bewohner des Nordreichs Israel, sind jetzt die beiden Gesprächspartner Gott und Amos. Statt öffentlicher Plätze wie der Stadttorbereich von Samaria oder die Tempelanlage des Staatsheiligtums von Bet-El nun eine eher intime Situation: der rufende Gott und der angesprochene Herden- und Plantagenlandwirt Amos im Zweiergespräch.

 

Auf der literarischen Ebene ist das Ganze als Selbstbericht gestaltet (Ich-Form). Die so wiedergegebene Erfahrung wird als Vision ("der HERR hat mich sehen lassen" lautet der entscheidende Refrain in Vers 1.4.7), näherhin als eine Mischung aus Schauung und Hörerlebnis geschildert. Auch wenn keine Ortstangabe gemacht wird: Leserin und Leser fühlen sich nach Tekoa, dem Herkunftsort des Amos im Südreich Juda versetzt. Dies geschieht weniger durch den Text der Visionen selbst, als vor allem durch das unmittelbar folgende Gespräch zwischen Amos und dem Priester Amazja von Bet-El (Am 7,10-17), in dem der Prophet auf seine Berufung weg von der heimischen Landwirtschaft ins Nordreich Israel zu sprechen kommt:

"14 Amos antwortete Amazja: Ich bin kein Prophet und kein Prophetenschüler, sondern ich bin ein Viehhirte und veredle Maulbeerfeigen. 15 Aber der HERR hat mich hinter meiner Herde weggenommen und zu mir gesagt: Geh und prophezeie meinem Volk Israel!" (Am 7,14-15).

Auch wenn die Visionen in Kapitel 7 überraschend kommen, ist doch zumindest auf der Ebene des Gesamtbuches bereits eine Spur auf sie hin gelegt. Sie veranschaulichen nämlich, was Am 3,7 in wörtlicher Übersetzung so formuliert hat:

Denn nicht führt Adonaj JHWH eine Sache aus, ohne dass er seinen Plan seinen Knechten, den Propheten, offenbart hätte.

 

Die Großkomposition Amos 7,1 -8,3; 9,1-4

Schon dieser Hinweis macht deutlich, dass die ersten drei Visionen (7,1-3.4-6.7-9) nicht nur für sich gelesen werden können. Nicht einmal die Hinzuziehung der in Am 8,1-3 und 9,1-4 folgenden vierten und fünften Vision reicht aus. Sondern - wenn man einmal die im Buch weit entfernt stehende fünfte Vision kurz beiseite lässt - zumindest die von dritter und vierter Vision eingeschlossene Passage Am 7,10-17 gehört mit zu einer Großkomposition, die als durchgängiger und zusammenhängender Text gelesen werden will. Die hier in der Kommentierung vorgenommene Aufteilung dient einzig und allein der Wahrung der Übersichtlichkeit.

Die Komplexität der Konstruktion Am 7,1 - 8,3 macht es wenig wahrscheinlich, dass sie in dieser Form auf den verkündenden Propheten Amos zurückgeht.

 

Exkurs über die Entstehung der Großkomposition [kann gegebenfalls übersprungen werden]

Über das, was an Einzelworten auf ihn selbst zurückgeht und was spätere Hinzufügung ist, gehen die Meinungen in der Exegese auseinander.

Modell 1

"Klassisch" ist die Sichtweise, dass die Visionen 1 und 2 sowie 3 und 4 jeweils ein Paar bilden und in gewisser Weise doch biographisch die Berufungsgeschichte des Amos wiedergeben. Zweimal habe er Gott widersprochen, seinen indirekt vernommenen Redeauftrag nicht akzeptiert und statt dessen erfolgreich Fürbitte für das Nordreich einlegt (Verse 1-6). Beim dritten und vierten Mal  (Am 7,7-9; 8,1-3) musste der künftige Prophet die Unheilsworte Gottes nur noch hinnehmen. Weder Widerspruch noch Kommentierung seinerseits sind zu vernehmen. Dafür steht zwischen der dritten und vierten Vision eine Erzählung, die die Erfüllung seines Auftrags voraussetzt: Amos ist ins Nordreich gegangen, hat dessen "Ende" (s. Am 8,2) verkündet, und erhält als staatliche Gegenmaßnahme Auftritts- und Redeverbot. Er wird nach Juda zurückgeschickt. Dies wäre dann - diesmal nicht in der Form von "Visionsprotokollen", sondern eines "Fremdberichts" über Amos - der biographische Hinweis auf das Ende des öffentlichen Wirkens des Amos.1

Modell 2

Diesem Verständnis gegenüber steht die Sichtweise, dass sich nur in der dritten und fünften Vision (hier vor allem in den Versen Am 9,1a.4) Spuren des ursprünglichen Amos verbergen, die nachträglich "aufgefüllt" wurden durch das Visonspaar 1 und 2 einerseits und Vision 4 andererseits. Aus dem ursprünglichen Unheilsverkünder Amos wird durch diese Texte - in nachexilischer Zeit - ein Prophet, der göttliche Vergebungsperspektiven aufweist. Diese Lesart geht allerdings weniger vom Wortlaut aus als von den Bezügen in andere alttestamentliche Textbereiche hinein, die über bestimmte Stichworte funktionieren. Hier wäre der erfolgreiche Fürbitter Mose in Exodus 32 zu nennen, der den "Supergau" nach dem Guss des goldenen Kalbes zu verhindern vermag, als auch der Verweis auf die Sintfluterzählung in Am 8,1-3 (s. dazu die Auslegung der  vierten Vision). In jedem Fall setzt die Vergebungsperspektive voraus, dass man auf diesen Gott bzw. seine Propheten hört. Am 7,10-17 erzählt (bei diesem Erklärungsmodell ebenfalls ebenfalls in nachexilischer Zeit) exemplarisch - also nicht biographisch - davon, was passiert, wenn einem Propheten und damit Gott selbst der Mund verboten wird.2

 

Der Aufbau der ersten drei Visionen

Leicht erkennbar haben die ersten beiden Visionen (Verse 1-3 und Verse 4-6) einen parallelen Aufbau.

Eine Einleitungsformel stellt aus der Ich-Perspektive des Propheten das Folgende als Vision vor, d.h. als eine von Gott bewirkte Schauung (wörtlich: "So ließ mich Adonaj JHWH sehen").

Der Inhalt der Vision ist jeweils eine Naturkatastrophe, die sich im zweiten Fall ins Kosmische steigert und deren Auslöser jedesmal ungenannt bleibt ("da war einer"). 

Der Prophet reagiert mit einem Aufschrei, der einmal "Vergib doch!" und einmal "Halte doch ein!" lautet. Er zielt darauf, das geschaute Unheil von "Jakob" - d. i. der Erwählungsnahme für Israel - abzuhalten.

Gottes Reaktion wird mit einem Verb umschrieben, das unter "Auslegung" noch näher anzuschauen ist (Einheitsübersetzung: "Mitleid haben") und mit der Zusage verbunden wird, das visionär in Aussicht Gestellte nicht zu tun.

Von diesen beiden Visionen unterscheidet sich die dritte Vision Am 7,7-9 markant.

Nach mehr oder weniger identischer Einleitungsformel ist diesmal Gott selbst Gegenstand der Vision. Im Gegensatz zu den ersten beiden Schauungen ist aber das, was er tut, nicht selbsterschließend. "Zinn" und "Mauer aus Zinn" sind eher rätselhafte Symbole, die einer Deutung bedürfen.

So folgt diesmal auch nicht ein Aufschrei des Propheten, sondern ein zweistufiges Deutegespräch zwischen Gott und dem Propheten. Zunächst wird gesichert, ob Amos richtig sieht - nämlich Zinn -, sodann wird die Rede vom Zinn gedeutet und mit einem (militärischen) Angriff gegen Israel in Verbindung gebracht.

An die Stelle der Verzichtserklärung, das in Aussicht Gestellte auszuführen, wird jetzt festgehalten, dass die Verschonung kein weiteres Mal erfolgen wird. Diese Aussage ist offensichtlich so unumstößlich, dass der Prophet gar nicht mehr mit irgendeiner Gegenrede reagiert.

 

Vision 1 (Amos 7,1-3)

Der Sache nach erinnert die Einleitungsformel ("Dies hat GOTT, der Herr, mich sehen lassen") an die Überschrift Am 1,1 ("Die Worte, die Amos, ein Schafhirte aus Tekoa, über Israel geschaut hat ... "), das konkrete Verb für "schauen" (hebr. ḥāzā) bzw. "sehen" (rāʼā) ist allerdings jeweils ein anderes. Jedoch wird ḥāzā noch einmal in Am 7,12 begegnen. Unabhängig vom konkreten Verb ist in jedem Fall erkennbar, dass "Vision" im Alten wie auch im Neuen Testament mehr umfasst als ein reines Sehen. Es ist oft auch ein inneres Hörereignis und es kann eben auch geschehen, dass der Seher zum Sprecher wird (Ähnliches findet sich auch im 7. Kapitel der Offenbarung des Johannes im Neuen Testament).

Was ist der Inhalt der Vision? JHWH plant Unheil: die Vernichtung der letzten Ernte vor der mindestens halbjährigen Trockenzeit, in der kein Nachwachsen irgendwelchen Getreides zu erwarten ist. Ursache ist eine Heuschreckenplage. Sicherheit über die Bedeutung des Wortes “Spätsaat” verleiht weniger die Erklärung “und siehe, die Spätsaat folgt auf den Schnitt für den König” als der sog. Bauernkalender von Gezer aus dem 10. Jh. v. Chr., der die “Spätsaat” nach unserer Monatszählung der Zeit von Mitte Januar bis Mitte März zuordnet und die entsprechende (Gersten-)Ernte in den April fallen läßt. Die “grüne” Existenzgrundlage des Volkes - Getreide wie Viehfutter - wird durch eine Heuschreckenplage im wahrsten Sinne des Wortes im Keime (wörtlich: “beim Beginn des Aufsprießens”) erstickt. Während die Schauung weder den Bildner des Schwarms noch das betroffene Land konkretisiert, ist für Amos dennoch klar, was gemeint ist: JHWH wendet seine Schöpfermacht (“bilden” [hebräisch yāṣar] ist identisch mit dem Verb für die "Formung" des Menschen Gen 2,19) gegen Israel. Wie ein Film scheint das Visionsgeschehen vor Amos' innerem Auge abzulaufen, bis er schließlich am dramatischen Höhepunkt, kurz vor Vollendung des Vernichtungswerkes, ein “Mein Herr, JHWH, vergib doch!” herausschreit.

Während auf die Vergebungsbitte noch einmal gesondert unter "Auslegung" geschaut wird (Amos als Fürbitter), ist zumindest festzuhalten, dass sie überrascht. Denn innerhalb der Visionen ist von einer "Schuld", die der  Vergebung bedarf, überhaupt nicht die Rede. Das bedeutet: Die Visionen sind ganz aus dem Ablauf des Amosbuches heraus formuliert: Die Leser/-innen wissen bereits, was Israel alles auf dem Kerbholz hat aufgrund der vorangehenden Worte des Amos. Von der Buchlogik her reicht die große Visionskomposition die Begründung nach, weshalb Amos überhaupt im Nordreich mit der Predigt aufgetreten ist, die ab Am 1,2 zu lesen ist. Er fühlte sich aufgerufen, Unheil zu verkünden, hat zweimal erfolgreich das Ansinnen Gottes abgewendet, musste sich aber schließlich geschlagen geben. Ob hinter diesem Buchaufriss authentische Biographie oder ein später entwickeltes, eher schablonenhaftes Prophetenbild steckt (s. oben die beiden Entstehungs-Modelle), ist am Ende nicht zentral. Die entscheidende Aussage bleibt bestehen: Es ist mit einem an Maß an Widerstand zu rechnen, bei dem Gott "die Nase voll hat". In diesem Sinne wird sowohl der Untergang des Nordreichs (722 v. Chr.) als auch des Südreichs (587/86 v. Chr.) gedeutet. Allerdings ist mit der jeweiligen göttlichen Sanktion auch die Erkenntnis verbunden, dass sie nie das völlige Ende bedeutet. Gott kennt Vergebung und Neuanfang.

Doch davon ist an dieser Stelle des Amosbuches noch nicht die Rede. Eine erste "Zwischenstufe" wird eingebaut: Die Fürbitte des Amos wird erhört. Obwohl Gott allen Grund hätte, zuzuschlagen, hält er den geplanten Zornesausbruch mit katastrophalen Folgen für die Landwirtschaft zurück.

 

Vision 2

Schlimmer geht immer - so möchte man sagen. Auf die Heuschreckenplage im Frühjahr folgt eine sengende Sommerhitze, die auch noch den letzten Grundwassertropfen aufleckt. Die Bildsprache knüpft an die Vorstellung des Schöpfungsberichts von Genesis 1 an, wonach zur Freilegung des bewohnbaren, trockenen Bodens die Urflut in unterirdische Kammern verschlossen wird. Quellen sind in solcher Sichtweise regulierte Öffnungen dieser Kammern. Wenn sie ausgetrocknet werden, dann ist damit die Möglichkeit von Wachstum grundsätzlich weggenommen. Den Menschen wird sozusagen "der Hahn abgedreht". Die jedes Realitätsmaß übersteigende Bildwahl erinnert sowohl an das Motto in Am 1,2 ("Da welken die Auen der Hirten und der Gipfel des Karmel verdorrt.") sowie an die kosmische Sprache der drei Hymnus-Strophen mit Tsunami-Androhungen (Am 4,13; 5,8; 9,5-6), aber auch an die Übersteigerung der positiven Erwartung Am 9,13 ("triefende Weinberge"). Vom Gott Israels wird hier als Herrn des Kosmos gesprochen, der als Schöpfer in völliger Souveränität sein Werk widerrufen und wieder aufleben lassen kann.

Offensichtlich verschlägt das Bild dem Propheten derart die Argumentation, dass sein Widerspruch kein theologischer mehr ist ("Vergib doch!"), sondern nur noch der Verzweiflungsruf: "Halte doch ein!" Der Rest folgt dem Muster der ersten Vision.

 

Vision 3

Wie sehr die dritte Vision von den beiden vorangehenden abweicht, wurde schon beschrieben. Das Jahreszeiten-Schema - das sich übrigens in der vierten Vision (Am 8,1-3) fortsetzen wird - spielt keine Rolle. Es geht um reine Kriegsbilder. Hier ordnet sich  das "Zinn" ein, ein Metall, das schon in alten mespotamischen Hymnen besungen wurde (frühere Übersetzungen sprachen fälschlicherweise von "Blei"3). Es ist so bedeutsam, weil es in der richtigen Mischung mit Kupfer bei der Schmelze zur Bronze führt. Wer aber Bronzewaffen statt schlichter Eisenwaffen besaß, war kriegerisch im Vorteil, da das Zinn aufgrund seiner chemischen Eigenschaften zu einer das Eisen überragenden Härte führt.

Die Vision zeigt also Gott selbst als den Herrn über alles Waffengrundmaterial, egal ob für das Bronzeschwert oder für Bronzeschilde, welche teilweise Stadtmauern gegen Angriffe schützten. Aber diese seine Grundausstattung verwendet er nicht länger zum Schutz Israels, sondern zum Angriff gegen sein eigenes Volk. Offensichtlich hat es sich seinen Gott selbst zum Feind gemacht.

 

Ein Brückenvers (Vers 9)

Dieser Vers schafft eine Brücke zwischen der dritten Vision und dem ab Vers 10 folgenden "Fremdbericht". Hingewiesen sei nur auf die absolut seltene Stichwortbrücke "Isaak" in Am 7,9 und 7,16, obwohl sonst im Amosbuch von "Jakob" die Rede ist. Wahrscheinlich gehört in diesen Zusammenhang aber auch die sehr gelegentlich Nennung des Heiligtums von Beerscheba (Amos 5,5; 8,14), zu dem es eine Isaak-Vorgeschichte gibt (vgl. Genesis 26,23-35). In dieser Erkenntnis aber könnte die Lösung der Frage liegen, was dieser Vers 9 eigentlich will, dessen Sprache stark an die sogenannte deuteronomistische Theologie erinnert (s. dazu die Einleitung in das Buch Amos). In dieser Geschichtstheologie, die den Untergang des Gesamtreiches Israel in den Blick nimmt, das "von Dan [im Norden] bis Beerscheba [im Süden]" reicht (Richter 20,1; 1 Sam 3,20; ; 2 Sam 17,11), ist das "Haus Jerobeam" Verursacher der Katastrophe, da König Jerobeam I. in den  Heiligtümern von Dan und Bet-El ein Stierkalb als Götterstatue aufgestellt haben soll (vgl. 1 Könige 12,26-33). Er, der im 10. Jh. v. Chr. (!) im Nordreich als Nachfolger Salomos regierte, gilt also als "Urvater" der königlichen Verführung zum Götzendienst, in dem die Deuteronomisten die Hauptsünde Israels sehen. Die Namensgleichheit mit  König Jerobeam II. zur Zeit des Amos im 8. Jh. v. Chr. (!) - denn dieser ist zweifellos in Am 1,1 gemeint - erlaubt also einen großen Geschichtsbogen: Die Worte des Amos aus der dritten Vision werden aus ihrem ursprünglichen Zeitzusammenhang gelöst und auf die viel größere Epoche der Gesamtgeschichte des Nordreichs die beiden "Jerobeams", aber auch des Südreichs (Stichwort "Isaak") bezogen. Alle, das "Haus Israel" (Nordreich) und das "Haus Isaak" /Südreich) haben in ihrem Untergang Gott als Feind erleben müssen. Alle sind derselben "Sünde Jerobeams" verfallen. Dabei zeigen Jerobeam I. und Jerobeam II. zwei Seiten derselben Medaille auf: Götzendienst (Jerobeam I.) äußert sich alttestamentlich immer auch in einer auf Macht und und Egoismus bzw. soziale Unterdrückung setzende Herrschaft (Jerobeam II.).

Durch Vers 9 ist also die in Vers 10-11 folgende Unheilsdrohung gegenüber "Jerobeam"  dynastisch zu verstehen. Dies könnte zum einen eine nachträgliche Korrektur in die nächste Generation sein, denn: Von einem gewaltsamen Tod Jerobeams II. wissen wir nichts, wohl aber von der Ermordung seines Sohnes Sacharja (2 Kön 15,10). Er stirbt durch das "Schwert" (Vers 11), auf welches das "Zinn" der dritten Vision vorausverweist. Es ist aber auch eine Erweiterung der Perspektive in die Vergangenheit, denn nach 2 Könige 14,24 hielt Jerobeam II. an den "Sünden Jerobeams (I.)" fest. Diese bestehen aber  neben dem Aufstellen der Kalbsstatuen in Bet-El und Dan nach 1 Könige 12,31f. in Folgendem: “31 Auch machte er das Haus der Kulthöhen und Priester, die aus allen Teilen des Volkes stammten und nicht zu den Söhnen Levis gehörten. 32 ... In Bet-El ließ er auch die Priester auftreten, die er für die Kulthöhen gemacht hatte.” Auffällig ist die Verbindung zwischen dieser Bemerkung und Amos 7.9 durch das Stichwort "Kulthöhen". Sie erinnert an den ebenfalls deuteronomistischen Generalvorwurf, es würde "auf jeder Höhe und unter jedem grünen Baum” Gottesdienst betrieben, womit natürlich Götzendienst gemeint ist (zu dieser Formel vgl. z. B.  Deuteronomium 12,2 und 1 Kön 14,23). Wenn Am 7,9 auf diesem Hintergrund zu verstehen ist, geraten Jerobeam und Amazja durch die Vorschaltung des Verses vor den Fremdbericht in das Zwielicht des Synkretismus, der den Vorwurf des Redeverbots noch verstärkt (s. dazu die Erläuterungen zu Amos 7,10-17).

Auslegung

Der Prophet als Fürbitter

Dass ein Prophet als Fürbitter auftritt, ist schon ein sehr besonderes Motiv. Analysten ihrer Zeit, Warner und Mahner, Dränger auf Änderung, Anstifter zu neuer Hoffnung - all das sind sie normalerweise. Dabei sehen sie sich zu ihrer Verkündigung von Gott selbst ermächtigt, als dessen Sprachrohr sie sich verstehen.

Gerade wenn das der Normalfall ist, fällt die Fürbitter-Rolle aus dem Rahmen. Denn hier ist der Prophet nicht Sprachrohr Gottes, sondern er tritt Gott mit seinen eigenen Gedanken und Vorstellungen entgegen. Aus dem Sprachrohr wird so etwas wie ein Mensch des Widerworts oder eines Verhandlungspartners.

 

Ordnet man die ersten beiden Visionen (Am 7,1-3.4-6) in irgendeiner Weise der Biographie des Amos zu (s. Modell 1 im "Überblick"), dann stellen sie das früheste überlieferte Beispiel für diese Sonderrolle dar. Amos wäre dann ein Vorläufer und prophetischer Typos für den fürbittenden Abraham in Genesis 18,23,33; 20,17 und besonders für Mose, der in Ex 32,11-13 Fürbitte für sein Volk einlegt, nachdem dieses durch den Guss des goldenen Kalbes vor Gott völlig versagt hat: 

"11 Mose aber besänftigte den HERRN, seinen Gott, indem er sagte: Wozu, HERR, soll dein Zorn gegen dein Volk entbrennen, das du mit großer Macht und starker Hand aus dem Land Ägypten herausgeführt hast. 12 Wozu sollen die Ägypter sagen können: In böser Absicht hat er sie herausgeführt, um sie im Gebirge umzubringen und sie vom Erdboden verschwinden zu lassen? Lass ab von deinem glühenden Zorn und lass dich das Unheil reuen, das du deinem Volk antun wolltest! 13 Denk an deine Knechte, an Abraham, Isaak und Israel, denen du selbst geschworen und gesagt hast: Ich will eure Nachkommen zahlreich machen wie die Sterne am Himmel, und: Dieses ganze Land, von dem ich gesprochen habe, will ich euren Nachkommen geben und sie sollen es für immer besitzen."

Es ist schwer zu entscheiden: Wird Amos der am Ende scheiternde Fürbitter, dem Abraham zur Seite gestellt wird, der Sodom und Gomorra ebenfalls nicht retten konnte? Und sollte Mose als den Amos wie den Abraham überbietende Gestalt vorgestellt werden? Oder ist es vielmehr so, dass mit bzw. nach dem babylonischen Exil überhaupt erst der Gedanke der Fürbitte aufgekommen ist zur Bewältigung eigenen Versagens vor Gott? Dann wären Abraham und Mose die Vorbilder für Amos. Im Fokus stünde dann nicht ihr Scheitern, sondern dass das Scheitern nicht vollständig war. Abraham konnte zwar Sodom und Gomorra nicht retten, wohl aber seinen Neffen Lot und dessen Familie. Mose konnte zwar nicht verhindern, dass  keiner aus der Gruppe der Kalbsverehrer das verheißene Land betreten durfte. Aber die Nachfolgegeneration durfte Einzug halten. In solcher Perspektive wären dann auch die beiden Fürbitten des Amos Hoffnungszeichen - nach dem Vorbild der beiden großen Vorgänger - in das Amosbuch eingebracht worden in nachexilischer Zeit.  

 

Der "kleine Jakob"  (Verse 2 und 5)

Wenn Amos mit dem "kleinen Jakob" argumentiert, dann verbirgt sich dahinter  ein Appell an Mitleid und Erbarmen: Gott kann doch - trotz aller unleugbarer Schuld - das Volk, das seine Existenz allein ihm verdankt, an das er sich gebunden hat und das ohne ihn nicht sein kann, nicht mit einem Schlag treffen, den der “kleine” Jakob nicht überlebte. Die konkrete Formulierung erinnert übrigens an die eigentliche Jakobsgeschichte. Vor der ersten Wiederbegegnung Jakobs mit seinem Bruder Esau, den Jakob raffiniert um dessen Erstgeburtsrecht gebracht hat und die sich beide danach aus dem Weg gegangen sind, betet Jakob:

"Ich bin zu gering [wörtlich: "Ich bin zu klein"] für all die Hulderweise und alle Treue, die du deinem Knecht erwiesen hast. Denn nur mit einem Stab habe ich den Jordan dort überschritten und jetzt sind aus mir zwei Lager geworden. 12 Entreiß mich doch der Hand meines Bruders, der Hand Esaus!" (Genesis 32,11-12).

Es könnte sein, dass das Motiv der "Kleinheit Jakobs" in nachexilischer Zeit die Furcht des aus dem Exil zurückgekehrten Gottesvolkes beschreibt, das sich seines Versagens vor Gott bewusst ist und Angst hat, durch die übermächtigen beherrschenden Großvölker der Umwelt (erst Persien, später Griechenland) unterzugehen. Vielleicht ist das Fürbittgebet des Amos erst in dieser Zeit entstanden, oder aber es konnte in dieser Zeit mit großer Überzeugung als Text aus früherer Zeit erneut unterschrieben und gebetet werden.

 

"Mitleid"? (Vers 6)

"Selbstbeherrschung", "Selbstbegrenzung" trifft wohl genauer das, was die Einheitsübersetzung mit "Mitleid haben" übesetzt (hebräisch: niḥam). Gott wird nicht "schwach" angesichts der Folgen seines Plans für die Menschen, als hätte er vorher nicht richtig nachgedacht. Er "bereut" auch nicht, wie andere übersetzen, als würde er einen Planungsfehler einsehen. Sondern dieser Selbstentschluss zugunsten seines Volkes ist durch kein vorausgehendes Handeln des Menschen zu begründen noch dadurch zu erreichen oder gar einzuklagen. Er ist so wenig herleitbar wie das Erwählungsgeschehen, von dem es in Deuteronomium 7,7f. heißt, dass der Grund dazu nicht in einer Besonderheit Israels, sondern einzig in der Liebe Gottes liegt. Diese Liebe ist nicht erklärbar. Doch lässt sich aus ihr leben!

Das Motiv der Selbstbeherrschung Gottes findet sich übrigens noch besonders anschaulich in Hosea 11,8f.:

8 Wie könnte ich dich preisgeben, Efraim, wie dich ausliefern, Israel? Wie könnte ich dich preisgeben wie Adma, dich behandeln wie Zebojim? Gegen mich selbst wendet sich mein Herz, heftig entbrannt ist mein Mitleid [vielleicht treffender: "Mein Wille zur Selbstbeherrschung hat mich ergriffen]. 9 Ich will meinen glühenden Zorn nicht vollstrecken und Efraim nicht noch einmal vernichten. Denn ich bin Gott, nicht ein Mensch, der Heilige in deiner Mitte. Darum komme ich nicht in der Hitze des Zorns.

In spätere Zeit gehört wohl der zweite Paralleltext, der das Verb niḥam ebenfalls im Zusammenhang einer Fürbitte verwendet. Diesmal ist es Mose, der nach dem Guss des goldenen Kalbes für sein verirrtes Volk bei Gott einspringt (vgl. Ex 32,11-14; der Text ist unter "Kontext" abgedruckt).

 

"Der HERR geht nicht länger vorüber" (Vers 8)

Die Formulierung des "Vorübergehens" weckt innerbiblisch zwei Assoziationen: Zum einen wird man an Stellen wie Micha 7,18 erinnert:

"Wer ist Gott wie du, der Schuld verzeiht und an der Verfehlung vorübergeht für den Rest seines Erbteils!"

Die Ankündigung, nicht länger vorüberzugehen, meint auf diesem Hintergrund die Ankündigung Gottes, nicht länger vergebungsbereit zu sein und über die Schuld nicht länger hinwegzusehen.

Es gibt aber auch noch einen anderen, viel tiefergehenden Bezugstext, nämlich Ex 34,6:

"Der HERR ging vor seinem[des Mose]  Angesicht vorüber und rief: Der HERR ist der HERR, ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an Huld und Treue: 7 Er bewahrt tausend Generationen Huld, nimmt Schuld, Frevel und Sünde weg, aber er spricht nicht einfach frei, er sucht die Schuld der Väter bei den Söhnen und Enkeln heim, bis zur dritten und vierten Generation"  (Exodus 34,6).

Hier ist der "Vorübergang" ein anderes Wort für die Erscheinung Gottes selbst. Der da aber dem Mose erscheint, begegnet als einer, dessen Vergebungsbereitschaft ("Tausende", also nach biblischer Zahlensymboli: unzählbar viele) um ein Vielfaches größer ist als die Bereitschaft zur Strafe, die "an einer Hand abzuzählen ist" ("drei bis vier"). Von hierher gelesen kündigt Gott mit dem "nicht vorübergehen" in Amos 7 seinen zeitweiligen Rückzug an, der gekoppelt ist mit dem Wirksamwerden der Strafe. Diese Ankündigung schließt aber von Exodus 34 her gelesen ein, dass es auch wieder eine Zeit des "Vorübergangs des HERRN" und damit der Vergebung geben wird.

Einstweilen aber kündigt Amos aber erst einmal Unheil an: Gott will "Zinn in die Mitte seines Volkes" bringen. Die hoffnungsvolle Seite, das Aufkommen anderer Zeiten, wird erst der Prophet Jeremia ankündigen. Bei ihm heißt es in Jer 31,33:

"...so wird der Bund sein, den ich nach diesen Tagen mit dem Haus Israel schließe - Spruch des HERRN: Ich habe meine Weisung in ihre Mitte gegeben und werde sie auf ihr Herz schreiben."

Diese "neue Mitte" wird wiederum ein eindeutiges Kennzeichen tragen:, das der folgende Vers 34 ausdrücklich benennt:

"... Denn ich vergebe ihre Schuld, an ihre Sünde denke ich nicht mehr."

Kunst etc.

Jean Bondol, Amos sieht den Herrn auf einer Mauer (1372), Public Domain Mark 1.0
Jean Bondol, Amos sieht den Herrn auf einer Mauer (1372), Public Domain Mark 1.0

Weder Blei noch Zinn, sondern Maurerkelle

Die mittelalterliche Buchillustration zur dritten Vision des Amosbuches ist überraschend,  zugleich aber ein wunderbares Beispiel, wie sehr die Auslegung alter Texte von den Gepflogenheiten der Zeit der Ausleger geprägt werden.

Das 14. Jh., aus dem die Miniatur stammt, ist ganz sicher mit der Kunst des Bauens vertraut. Die Epoche der Romanik ist bereits vorbei, die Gotik hat schon die schönsten Blüten hervorgebracht. In solcher Kenntnis des Bauhandwerks überlegt sich ein Illustrator, was Amos da wohl in der Hand des HERRN gesehen haben mag, der auf einer Mauer steht. Die Assoziation liegt nahe: eine Maurerkelle.  Dieses Handwerkszeug dürfte zwar zur Zeit eines Amos wohl noch nicht bekannt gewesen sein. Aber das bekümmert den Illustrator nicht, denn er will einen biblischen Text Menschen, die die Heilige Schrift im Wesentlichen über Bilder wahrnehmen, so anschaulich wie möglich machen. Und er hat auch eine Vorlage dafür: Die lateinische Übersetzung des Hieronymus (die sogenannte Vulgata). Auch er scheint an eine Maurerkelle zu denken (wie auch immer diese zu seiner Zeit, im ausgehenden 4. Jh. n. Chr. ausgesehen haben mag). "Trulla cementarii" ist das lateinische Wort, das er wählt. Und mit selbiger verputzt der Herr eine Mauer, die am Ende "poliert" dasteht.

Interessant ist, wie in solch freier Übersetzung der Sinn des Bildes sich völlig verändert. Denn aus einem Gerichtsbild wird ein Reparaturbild. Die auf dem Bild zu sehende glänzend weiße Mauer bzw. die zugehörige Vision nimmt in dieser Deutung die Ausbesserung der Mauerrisse vorweg, von denen das Heilswort Amos 9,11 später sprechen wird:

"An jenem Tag richte ich die zerfallene Hütte Davids wieder auf und bessere ihre Risse aus, ich richte ihre Trümmer auf und stelle alles wieder her wie in den Tagen der Vorzeit."