Das Buch Amos

Am 5,1-17: Totenklage über Israel

51Hört dieses Wort, ihr vom Haus Israel, / hört die Totenklage, die ich über euch anstimme:

2Gefallen ist sie und steht nicht wieder auf, / die Jungfrau Israel;

sie liegt zerschmettert auf ihrem Boden, / niemand richtet sie auf.

3Denn so spricht GOTT, der Herr: / Die Stadt, die mit tausend auszieht, / behält nur hundert übrig
und die mit hundert auszieht, / behält nur zehn übrig für das Haus Israel.

4Ja, so spricht der HERR zum Haus Israel: / Sucht mich, dann werdet ihr leben!

5Doch sucht nicht Bet-El auf, / geht nicht nach Gilgal, / zieht nicht nach Beerscheba!

Denn Gilgal droht die Verbannung / und Bet-El der Untergang.

6Sucht den HERRN, dann werdet ihr leben. / Sonst dringt er in das Haus Josef ein

wie ein Feuer, das frisst, / und niemand löscht Bet-Els Brand.

7Weh denen, die das Recht in bitteren Wermut verwandeln / und die Gerechtigkeit zu Boden schlagen!

8Er hat das Siebengestirn und den Orion erschaffen; / er verwandelt die Finsternis in den hellen Morgen,

er verdunkelt den Tag zur Nacht, / er ruft das Wasser des Meeres

und gießt es aus über die Erde / - HERR ist sein Name.

9Plötzlich wird er den Starken vernichten / und über die befestigten Städte bricht die Vernichtung herein.

10Sie hassen den, der im Tor zur Gerechtigkeit mahnt, / und wer Wahres redet, den verabscheuen sie.

11Weil ihr vom Hilflosen Pachtgeld annehmt / und sein Getreide mit Steuern belegt,

darum baut ihr Häuser aus behauenen Steinen / - und wohnt nicht darin,

legt ihr euch prächtige Weinberge an / - und werdet den Wein nicht trinken.

12Denn ich kenne eure vielen Vergehen / und eure zahlreichen Sünden.

Ihr bringt den Unschuldigen in Not, / ihr lasst euch bestechen / und weist den Armen ab im Tor.

13Darum schweigt in dieser Zeit, wer klug ist; / denn es ist eine böse Zeit.

14Sucht das Gute, nicht das Böse; / dann werdet ihr leben

und dann wird, wie ihr sagt, / der HERR, der Gott der Heerscharen, bei euch sein.

15Hasst das Böse, liebt das Gute / und bringt im Tor das Recht zur Geltung!

Vielleicht ist der HERR, der Gott der Heerscharen, / dem Rest Josefs dann gnädig.

16Darum - so spricht der HERR, / der Gott der Heerscharen, mein Herr:

Auf allen Plätzen herrscht Trauer / und auf allen Gassen schreit man: Wehe! Wehe!

Den Ackerknecht holt man zur Totenklage, / den Kenner der Totenlieder ruft man zum Klagen.

17In allen Weinbergen herrscht Trauer; / denn ich schreite durch deine Mitte, / spricht der HERR.

Überblick

"Du bist so gut wie tot!" - So könnte man die Worte des Propheten Amos in Am 5,1-17 gegen das Nordreich Israel zusammenfassen. Dass dieser Tod seine Gründe hat, nimmt ihm nichts von seiner Furchtbarkeit. Doch so sehr Anfang (Verse 1-2) und Ende (Verse 16-17) das Gefühl vermitteln, an einer Totenbahre zu stehen, so sehr haben andere versucht, die Botschaft des Amos nicht als endgültiges Urteil, sondern als Mahnung zu verstehen: "Wenn ihr so weitermacht, droht euch der Tod. Wählt lieber das Leben!"

 

Einordnung in das Buch

Zwischen den beiden großen Außensäulen Am 1,3 - 2,16 (Völkersprüche) und Am 7 - 9,4* (Berufungsvisionen mit Zwischentexten) stehen zwei Teisammlungen von Einzelsprüchen des Amos (Am 3,1 - 4,5 und Am 5,1 - 6,14), die durch eine Art Anklagelitanei mit folgendem Hymnus (Am 4,6-13) getrennt werden.

Mit Am 5,1 beginnt entsprechend der zweite Teil der Großkomposition Am 3-6. Wie Am 3,1 lautet auch hier die Eröffnung: “Hört auf das Wort ...” . Doch diesmal ist der Höraufruf nicht der Hinweis auf ein folgendes Gotteswort, sondern der Prophet ruft zur Aufmerksamkeit für sich selbst. Er erhebt seine Stimme zur Totenklage. Diejenigen, die die Worte als Buch zsammengestellt haben, scheinen den Propheten aus dem Schatten der reinen Gotteswort-Verkündigung hervortreten lassen zu wollen. Amos wird vom Schmerz über das bei Gott beschlossene Ende erfasst, das er zu verkünden hat. Unter anderem dazu dient die Form der Totenklage, die oft mit dem Seufzerruf "Wehe" begonnen wird. Mit guten Gründen fügt ihn die Einheitsübersetzung in Vers 7 ein, wo der hebräische Text unklar ist. Er bleibt aber auch ein weiterhin ein bestimmendes Element, ob als Zitat in Am 5,16 oder als Einleitung in Am 5,18 und 6,1. In dieser Häufung ist das Wehe nicht nur Ausdruck eigener Trauer, sondern vor allem Drohung für die Angesprochenen. Offensichtlich sollte die gesamte Teilkomposition als Totenklage des Amos verstanden werden, in die dann aber anders ausgerichtete Passagen eingeschoben wurden.

Der Neueinsatz mit Am 5,1 wird nicht nur durch die Wahl der literarischen Form (Totenklage) und den eröffnenden Höraufruf deutlich, sondern auch durch einen Wechsel in der Anrede. Am 5,1 wendet sich an das "Haus Israel" (vgl. weiter Am 5,3.4.25; 6,1.14). Dieser "Titel" zielt auf das Nordreich Israel als politische Größe und hat damit einen anderen Charakter als die Anreden “Söhne Israels” (3,1.12; 4,5) bzw. “Israel” (4,12), die das Volk auf seine Erwählung ansprechen.

 

Aufbau von Am 5,1-17

Hinter der Gestaltung  von Am 5,1-17 scheint ein literarischer Plan zu stehen, der sich beim ersten Lesen sicher nicht erschließt und die Lektüre heutzutage erschwert. Formal wie inhaltlich ganz verschiedene Textabschnitte sind so angeordnet, dass sich zumindest in der Endfassung ein sogenannter chiastischer oder konzentrischer Aufbau ergibt, in dem sich immer zwei Abschnitte entsprechen: 

 

A         Verse 1-3           Leichenlied

 

            B         Verse 4-6           Mahnwort (Thema "Suchen")

 

                        C         Vers 7                  Schuldaufweis (Thema "Rechtsbruch") 

 

                                   D         Vers 8-9              JHWH-Hymnus                                 

 

                        C’        Verse 10-12.(13) Schuldaufweis (Thema "Rechtsbruch")

 

            B’        Verse 14-15       Mahnwort (Thema "Suchen")

 

A’        Verse16-17        Unheilsankündigung: Leichenklagen.

 

In dieser Zusammenstellung erhält der gesamte Textkomplex eine eindeutige Mitte: das Bekenntnis zum universal mächtigen Gott, der sich mit seinem Namen JHWH kundgetan hat (Verse 8-9). Damit rückt der Überarbeiter Am 5,1-17 ganz in die Nähe der Komposition von Am 4,6-13. Bildet dort die erste Strophe des Namen-Gottes-Hymnus den markanten Schluss, so bildet hier die zweite Strophe des Namen-Gottes-Hymnus das Zentrum.

Vom Ursprung her ergibt sich allerdings eher ein anderer Leitfaden für die Lektüre: Das in Form eines Leichenliedes ausgesprochene Todesurteil über Israel als staatliches Gebilde erhält in den Versen 7 und 10-12 eine Begründung und in den Versen 16-17 eine Konkretisierung.

Dazwischen wird mit den Versen 4-6 und 14-15 eine abmildernde Betrachtungsweise geschoben: Sie schaut eher von außen auf Israel, das jetzt "Josef" genannt wird, und hat auch das Südreich Juda mit im Blick: Verhaltensänderung und Rückkehr zur Orientierung am Willen Gottes könnte das drohende Todesurteil - zumindest "vielleicht" (Vers 15) - noch aufhalten.

Ganz "aus der Art" schlägt V 13, der sich damit begnügt, die schlimme Zeit zu beklagen, und ein Kommentar aus viel späterer Zeit sein könnte (s. u.).

 

Zwischen Trauer und Ironie: Das Leichenlied Am 5,1-3

Eigentlich gehört ein Leichenlied (hebr. qînā ) an die Totenbahre. Das ausführlichste Beispiel stellt die Klage des Königs David angesichts des im Philisterkampf gefallenen Königs und Schwiegervaters Saul und vor allem von dessen Sohn Jonathan dar.. Mit ihm war David eng bedreundet. So beklagt David in 2 Samuel 1,17-27 den Tod seines Gefährten.  Im Laufe der Zeit wurde das Leichenlied zu einer Kunstform für professionelle Sänger und vor allem Sängerinnen, die den verstummten Trauernden sozusagen ihre Stimme leihen und auch Tränen hervorrufen sollten (vgl. Jer 9,16.19; Ez 32,16).

Wenn Amos über die "gefallene Jungfrau" Israel ein Leichenlied anstimmt, dann ist das eine mehrfache Verfremdung (vgl. später eine ähnliche Verwendung der qînā in Ezechiel 19,1-14; 28,11-19 und 32,2-15).. "Israel" ist keine Einzelperson, sondern ein Staat, der wie eine Person angesprochen wird. Und dieser Staat liegt auch nicht auf dem Boden und ist "tot", sondern quicklebendig. Doch die Unterdrückungs- und Unrechtsmechanismen, die dieses Staatsgebilde am Leben halten, sind so gottwidrig, dass das göttliche Todesurteil für Amos schon feststeht und seine Vollstreckung schon vorweggenommen kann. Die "gefallene Jungfrau" hat dabei nichts mit moralischer Verfehlung zu tun (vgl. die frühere Rede von "gefallenen Mädchen"), sondern meint den viel zu frühen Tod des noch gar nicht zu seiner Blüte gekommenen Israel. Das Sprachbild erklärt sich, wenn man an den frühen Tod der noch jungfäulichen Tochter Jiftachs denkt, die vor ihrem Sterben ihr Schicksal beklagt. Hochzeitswunsch und Kindersegen bleiben ihr verwehrt (vgl. Ri 11.39-40). Amos kündet also die Verhinderung einer hoffnungsvollen Zukunft durch ein vorzeitiges Ende an und tut dabei so, als sei es schon eingetreten. Das ist bitterböse Ironie angesichts der Selbstsicherheit, die man bei der Unrechtsschätze sammlenden Oberschicht in Israel annehmen darf (vgl. Am 3,9-11; 6,1), aber vielleicht auch zugleich Ausdruck eigener Trauer des Amos, der - wie die Berufungen im Am 7,1-6 noch zeigen werden - solches Unheil gar nicht verkünden wollte. Viel lieber hätter er Gottes Verschonung gesehen. Tatsächlich aber musste er seinen Auftrag wie unter Zwang erfüllen (vgl.Am 7,15; 3,8)..

Vers 3 deutet das Bildwort vom "Fallen und Zerschmettern der Jungfrau" als militärische Eroberung (Tausend- und Hundertschaften sind miliärische Einheiten). Der spärliche verbleibende Rest erinnert an den Ohrzipfel in Am 3,12, den der Hirte dem Löwen noch aus dem Maul zerren kann, der gerade ein Schaf gerissen hat.

 

Wen sucht ihr? (Am 5,4-6)

Der Mahnruf Am 5,4-5 erinnert inhaltlich sehr stark an die ironische Wallfahrtaufforderung in Am 4,4-5, auch wenn die Sprachform jetzt eindeutig eine andere ist. Es scheint, dass der Prophet eingangs das Volk zitiert, das den Satz im Munde führt: "Sucht mich [gemeint ist Gott], dann werdet ihr leben." Ja, das hat Gott wirklich gesagt und der Satz gilt. Aber, so ist die Fortsetzung gemeint, damit ist nicht die Tempelläufigkeit nach Bet-El und Gilgal gemeint (s. dazu die Ausführungen zu Am 5,4-6 samt Anmerkungen). Gemeint ist auch nicht die Wallfahrt nach Beerscheba - dieser Hinweis wurde wohl erst hinzugefügt, als das Amosbuch für das Südreich Juda aktualisiert wurde (s. die kleine Biographie des Buches Amos in der Einleitung zum ganzen Buch), denn Beerscheba liegt am Rande des Negev und war ein Südreichheiligtum, das besonders mit der Person Isaaks verbunden war (vgl. Genesis 26, besonders Verse 32-33). All diese Tempelbesuche sollen doch nur die menschenverachtenden Unterdrückungen im Alltag vor Gott tarnen oder entschuldigen. Nein, von Bet-El und Gilgal ist kein Heil zu erwarten. Sie werden genau so untergehen wie der Rest des Landes. Das Bild von der gefallenen und zerschmetterten Jungfrau meint auch sie, oder noch eher: vor allem sie.. Die Rede von der "Verbannung" könnte bereits Erfahrungen mit den grausamen Verschleppungsaktionen der Assyrer zum Hintergrund haben, die seit 732 v. Chr. militärisch gegen Aram (heute Syrien) und das Nordreich Israel vorgingen.

Vers 6 verdeutlicht: Was Gott fordert und ein wirkliches Überleben bewirken könnte, wäre einzig wirkliche Gottessuche. Was damit gemeint ist, werden erst die Verse 14-15 sagen, mit denen Vers 6 durch die seltene Bezeichnung "Haus Josef" für das Nordreich Israel verbunden ist (vgl. dazu das Klagelied auf den Untergang des Nordreichs durch die Assyrer Psalm 80, der in Vers 2 ebenfalls von Josef spricht). Ohne solche wirkliche Gottessuche wird Gott selbst zum Feind und Angreifer werden. Die Warnung wählt das furchtbare Bild der Brandschatzung, deren Flammen niemand Einhalt gebieten kann. Sprachlich wird an den Anfang angeknüpft: So, wie "niemand der auf dem Boden liegenden Jungfrau Israel aufhilft", so wird bei Nichtbefolgung der Mahnung auch "niemand den Brand Bet-Els löschen". Theologisch würde dies bedeuten: Gott selbst wird nicht rettend eingreifen. Für die konkrete Erfahrung bedeutet dies: Israel wird keinen politisch-militärischen Bündnispartner finden, der ihm beistehen würde. So ist es auch tatsächlich gekommen, und man muss sogar sagen: Die Geschichte hat sich wiederholt. Weder unterstützte am Ende jemand das Nordreich bei der Eroberung durch Assyrien, noch standen die Ägypter zu ihrer Bündnispflicht, als Nebukadnezzar 586 v. Chr. Jerusalem eroberte. Eher kann man sagen: Anders als die unzuverlässigen politischen Mächte hat Gott am Ende senem Volk, der "gefallenen Jungfrau Israel", doch wieder aufgeholfen - durch den überraschenden Helfer Persien, der 539 v. Chr. der babylonischen Vorherrschaft ein Ende setzte und Israel in Getalt der Provinz Jehud wieder aufblühen ließ.

 

Wenn Recht nicht mehr Recht ist (Am 5,7.10-12)

Vieles spricht dafür, dass in Vers 7 im Hebräischen ein einleitendes "Wehe" verloren gegangen ist, das die Einheitsübersetzung zu Recht ergänzt. Dieses "Wehe" gehört ursprünglich in das Leichenlied (s. Am 5,16f.) und beschwört damit die Welt des Todes. Wenn es nun aus dem Zusammenhang der Liedes herausgenommen und an den Beginn eines Schuldaufweises gesetzt wird, verändert sich seine Funktion: Aus der Klage über einen Toten wird die Drohung für noch Lebende, denen Recht und Gerechtigkeit nichts gelten. Sie haben nur noch den Tod zu erwarten, von dem Am 5,16-17 spricht.

Das Begriffspaar "Recht und Gerechtigkeit", das zusammen mit Am 5,24 und Am 6,12 insgesamt dreimal im Amosbuch vorkommt, fasst die ethische Basis zusammen, von der her Amos argumentiert. Dabei meint das Recht wohl die in der vorstaatlichen Zeit Israels wurzelnde Rechtsordnung,

- die Person und Eigentum vor willkürlichen Übergriffen schützt,

- den Anspruch auf Gerichtsverfahren und unparteiliche Urteilsfindung einem jeden Freien zusichert,

- aber auch konkrete Sachverhalte wie das Schuldwesen und die Schuldsklaverei regelt (vgl. Exodus 21-23).

Gerechtigkeit hingegen bezeichnet nach alttestamentlichem Denken ein die Gemeinschaft förderndes Handeln (“Gemeinschaftstreue”). Nicht die Durchsetzung des eigenen Anspruchs steht im Vordergund und er ist nicht die Norm, sondern das Wohl der Gemeinschaft.

Bei rechtem Verständnis und rechter Anwendung könnten also Recht und Gerechtigkeit wie Heilpflanzen für das gesellschftliche Leben wirken. Da sie aber tatsächlich von den Mächtigen nur zum eigenen Vorteil instrumentalisiert und in ihr Gegenteil verkehrt werden (das mit "verwandeln" übersetzte hebräische Wort pak bedeutet genauer: "umstürzen"), wirken sie auf diejenigen, die auf Recht und Gerechtigkeit hoffen, wie eine Giftpflanze oder ein ungenießbares Kraut. Die Unterwanderung von Recht und Gerechtigkeit erweist eine zersetzende toxische Kraft für das Zusammenleben von Menschen.

Was konkret gemeint ist, halten vor allem die Verse 10 und 12 fest, die als ursprüngliche Fotsetzung von V 7 verstanden werden können. Sie führen in das Stadttor, den Ort der Rechtssprechung. Dort kamen die Männer eines Ortes zusammen, um über anstehende Rechtsfälle das Urteil zu sprechen. Frauen, Unfreie und Grundbesitzlose galten nicht als rechtsfähig. Vieles, was zu klären war, bestand in Schadensersatzregelungen, also in der Festlegung von Wiedergutmachungsleistungen an den Geschädigten. Dabei gab es keine feste Rollenaufteilung zwischen Ankläger, Verteidiger und Richter. Die allgemeine Umschreibung dieser Aufgaben lautet: "für ōdas Recht eintreten" (hebräisch: kîach; EÜ: "der zur Gerechtigkeit mahnt"). Genau das aber passierte nicht: Statt für das Recht einzutreten, wird denen, denen es um Recht und Wahrheit geht, also den Verteidigern und Zeugen, die Aussage verweigert oder sie werden erst gar nicht vorgelassen. Denn "hassen" und "verabscheuen" beschreiben hier kaum reine Gefühlslagen, sondern aus solchem Hass hervorgehende Aktionen.

Vers 12, - der in seiner Einleitung an Am 3,2 erinnert und die Untaten als das benennt, was sie sind: Verbrechen, - verstärkt die Anklage aus V 10: Der Unschuldige gerät in Bedrängnis, die Sache des Armen wird vor Gericht erst gar nicht zugelassen und die gewünschten Urteile werde über Bestechungsgelder erkauft. Dabei lässt das hebräische Wort für "Bestechungsgeld" (paer statt des üblichen šochād) erkennen, dass es sich um zweckentfremdete Schadensersatzgelder handelt, die offensichtlich dem Opfer vorenthalten und dem Verkünder des Urteils zugeschanzt werden. Sehr oft dürfte es darum gegangen sein, verarmte Kleingrundbesitzer um ihren Landbesitz zu bringen, damit  Reiche die Grundstücke ihrem Großgrundbesitz auch noch zuschlagen konnten.1 Das ist die "ideale" Voraussetzung, andere in Abhängigkeit zu halten, selbst den größten Profit zu machen und Macth auszuüben.

Der zwischengeschobene Vers 11, der ein in sich geschlossenes Kurzwort aus Anklage und Unheilsankündigung bildet, könnte aus der Zeit nach der ersten assyrischen Eroberung stammen. Darauf verweist besonders  das erste im Hebräischen gewählte Verb, das wohl weniger "Pachtgeld nehmen" bedeutet als das Eintreiben von Tributleistungen für den ausländiischen Machthaber meint. Die böse Pointe der Anklage liegt darin, dass diejenigen, die genug Vermögen haben, um sich teure Häuser und ebenfalls kostspielige Weinberge zu leisten, die Tributleistungen für die Assyrer in Form von Naturalien lieber armen Kleinbauern abpressten, als an ihre eigenen Erntebestände zu gehen. 

Gerade solche Reiche dürfte der sogenannte Vergeblichkeitsfluch als Unheilsankündigung besonders hart treffen: Alle ihre Investitionen in Häuser und Weingärten werden sie selbst nicht genießen können. Der späte Heilsschluss Am 9,14 wird diesen Vergeblichkeitsfluch aufgreifen und zu einer geradezu paradiesischen Vision umkehren.

 

Die zweite Hymnus-Strophe (Am 5,8-9)

Aus reiner Lektüre erschließt sich den Lesenden kaum, warum die Abfolge Vers 7.10-12 durch einen Text ganz anderer Art abgebrochen wird, der sich durch die Formel "HERR ist sein Name" als zweite Strophe des Namen-Gottes-Hymnus zu erkennen gibt, dessen erste Strophe Kapitel 4 abschloss (Am 4,13).

Immerhin lässt sogar die deutsche Übersetzung erkennen, dass Am 5,7 und Am 5,8 durch dasselbe Verb "verwandeln" (genauer: "umstürzen") miteinander verbunden sind. Eine weitere Brücke läuft über die Plejaden (Siebengestirn) und Orion. Ihre astronomische Zuordnung im Alten Orient ist ambivalent. Sie können den babylonischen Gott Marduk begleiten, wenn er sich für Recht und Gerechtigkeit einsetzt; als Wettergottheiten sind sie aber auch mit Unwettern verbunden. Die jüdische Tradition bringt sie auf diesem Hintergrund mit der Sintflut in Zusammenhang.

Das bedeutet: Den sich mächtig dünkenden Verkehrern der heilvollen Gerechtigkeitspflanze in ungenießbares Unrechtskraut steht ein mächtiger Gott gegenüber, der noch viel größere "Umstürze" bewirken kann: heilvolle (Wechsel von Finsternis zum Morgen) wie auch unheilvolle (Verdunklung, vernichtende Regengüsse). Wenn dieser Gott nun bei seinem Namen JHWH genannt wird (die Einheitsübersetzung 2016 schreibt grundsätzlich statt des Gottesnamens HERR), dann wird er von den vermutlich in nachexilischer Zeit schreibenden Verfassern auch in seinem richtenden Wirken anerkannt.

Vers 9 "erdet" die kosmische Redeweise und knüpft an die Erfahrungen mit Mächten wie Assur und Babylon an. Gegen sie halfen weder das Militär noch Befestigungen. Das zentrale "HERR ist sein Name" will aber auch sagen: Der Sieg der anderen beruhte nicht auf deren Stärke, sondern im Hintergrund hat Gott sie als seine Instrumente eingesetzt. In allgemeiner Weise passt hierhin auch noch einmal die Nennung von Gestirnen (Peljaden und Orion), insofern es eine alte Tradition gibt, dass Gott auch die Gestirne zur Kriegsführung eingesetzt hat (vgl. z. B. das Debora-Lied im 5. Kapitel des Richterbuches und darin Ri 5,20;  außerdem Josua 10,12).

 

Schlimme Zeiten! (Am 5,13)

Der Zusammenhang zwischen dem Schuldaufweis Am 5,7.10-12 und der zugehörigen ("Darum ...") Unheilsankündigung in Vers 16-17 wird mehrfach unterbrochen. Erstmals geschieht dies durch den Ausruf V13, dessen einleitendes "darum" nicht recht zu passen scheint und möglicherweise von dem späten Verfasser aus Am 5,16 entlehnt worden ist, Der Ausruf selbst: "Eine böse Zeit ist dies" verbindet das Amosbuch mit dem Michabuch (s. Micha 2,3). Das Schweigen kann verstanden werden als Ausdruck des Schreckens, aber auch des geduldigen Ausharrens auf die Rettung durch Gott (vgl. Klagelieder 3,26) aus einer Situation, die durch menschliche Worte nicht mehr behebbar ist. Insgesamt herrscht in diesem Vers ein geradezu apokalyptischer Ton. Auf diese Zeit der Apokalyptik (besonders ab dem 2. Jh. v. Chr.) könnte der "Weise" (hebräisch: maskîl; EÜ: "wer klug ist") hinweisen, von dem auch im zur Apokalyptik gehörenden Buch Daniel die Rede ist (vgl. Dan 11,33; 12,3.10).

 

Vielleicht!? (Am 5,14-15)

Diese Verse lesen sich wie die Fortsetzung der Verse 4-6. Der Anfang bestätigt die obige Auslegung: Nur wirkliche Gottessuche lässt Gottes Zuwendung statt Gottes Feindschaft erwarten. Das im Volk kolportierte Zitat: "Sucht mich, und ihr werdet leben!"  enthält jetzt seine Entsprechung, indem die Aufforderung, das Gute zu suchen, mit dem Hinweis begründet wird: "... damit ihr lebt und so JHWH, der Gott der Heerscharen, mit euch ist, wie ihr [immer; Ergänzung Gunther Fleischer] sagt". Der Prophet stellt nicht die Richtigkeit der Aussage in Frage, verspottet aber die sich im Zitat ausdrückende Grundhaltung, Gottes Beistand sei ein Automatismus, der durch Opfer quasi erkauft werden könne. Das Gemeinte wird indirekt durch eine Wortvernetzung verdeutlicht: Das Volk und ganz besonders die Verantwortlichen und Mächtigen im Volk sollten "das Gute lieben",2 "lieben" aber tatsächlich vor allem ihre Opfergänge (s. Am 4,5); "hassen" sollten sie das Böse, tatsächlich aber "hassen" sie den, der sich im Tor für das Recht einsetzt (Am 5,10). "Gott suchen" bzw. "das Gute suchen" meint also vor allem Opfergottesdienst und vor aller Wallfahrt den Einsatz für das Recht des anderen, und zwar aus tiefer Überzeugung und wirklichem Willen.2

Aber selbst die Wende zu solcher Gottessuche ist keine Garantie. Gottes barmehrzige Zuwendung bleibt ein Akt seiner Freiheit und Souveränität und ist nicht Folge eines erpresserischen Aktes. Der entsprechende Grundsatz wird in Exodus 33,19 formuliert: “Ich bin gnädig, wem ich gnädig bin und ich erbarme mich, wessen ich mich erbarme” (vgl. als weitere Belege des prophetischen "vielleicht" Zefanja 2,3; Joël 2,14; Jona 3,9; Klgl 3,29).

Die Schlusswendung macht deutlich, dass die Verse 14-15 als allerletzte Mahnung verstanden werden wollen. Die erste assyrische Eroberungswelle ist schon über das Nordreich ("Josef") hinweggerollt. Nur noch der Rumpfstaat um die Hauptstadt Samaria, wie er zwischen 732 und 722 v. Chr. bestanden hat, existiert als "Rest". Und genau diesem Rest scheint die Mahnung zu gelten, die vermutlich schon von den Schülern des Amos im (noch) sichereren Süden Juda  formuliert wird.

 

Es wird zum Heulen sein (Am 5,16-17)

Der Schluss der großen Spruchkomposition Am 5,1-17 knüpft in der Wahl der Bildersprache an die Totenklage Am 5,1-2 an. Inhaltlich hingegen ist die Unheilsansage in den Versen 16-17 die Antwort auf die Schuldaufdeckung in Am 5,7.10-12. An sie knüpft V 16 mit dem einleitenden "Darum ..." nahtlos an: Die gesellschaftszerstörende Missachtung von Recht und Gerechtigkeit  wird zum Tod der zerstörerischen Mächte selber führen. Dann wird es so vieler Leichenlied-Sänger/-innen bedürfen, dass man mit den "Professionellen" ("Kenner der Totenlieder") gar nicht auskommen wird. Selbst Ackerknechte werden zur Totenklage herangezogen werden müssen. Dabei dürfte gerade deren beispielhafte Nennung kaum Zufall ssein. Sie gehören sozial genau zu der Gruppe von Menschen, die in den Prozessen um ihr Recht betrogen werden. Am 5,16-17 kündet also an, dass am Ende die Opfer über die Täter ihren Totengesang erheben werden.

Vers 17 knüpft mit seinem versteckten Hinweis auf die toten Weinbergbesitzer an den Vergeblichkeitsfluch von Vers 11 an. Die Formulierung "durch deine Mitte schreiten" weist aber auch schon voraus auf die dritte Berufungsvision in Am 7,7-9. Hier wird dem Propheten offenbar, dass Gott selbst das Unheil "in die Mitte" seines Volkes  bringen und nicht mehr an ihm "vorbeiziehen" wird. "Vorbeiziehen" und "schreiten" sind im Hebräischen ein einziges Verb:῾ābar. Weniger auf die Menschen in den Weinberger als auf den fruchtbringenden Ort selbst hat wohl der Verfasser von Am 1,2 den Begriff verstanden, wenn er das Verdorren des Karmelgipfels ankündigt. "Karmel" ist nicht nur der Name eines Berges, sondern er kann zugleich übersetzt werden als "Weinberg Gottes" (hebräisch: kaeraem ʼel). Hier klingt eher die kosmische Macht Gottes durch, die in Am 5,8 besungen wird.

Das gesamte Drohwort wird durch seine beiden rahmenden Formeln ausdrücklich als Gotteswort ausgewiesen. Unheil verkünden darf und kann kein Prophet aus eigener Vollmacht, so wenig er auch der "Vollstrecker" eines göttlichen Urteils ist. Für die vorangehende Situationsanalyse aber kann schon sein prophetisch geschärfter Blick reichen.

 

 

 

 

Auslegung

Zwei Themen beherrschen diesen großen Textabschnitt: 

1. Mensch, du bist immer verantwortlich für dein Tun.

In seiner ganzen Unentrinnbarkeit der Sprache der vorweggenommenen Totenklage lassen die Worte den angeklagten Tätern keine Chance, sich ihrer Verantwortung zu entziehen. Auch wenn vorstellbar ist, wie sich die Täter selbst herausgeredet haben - sei es mit frommen Worten wie: "Wir bringen doch unsere Opfer dar" oder "Wir sind doch von Gott erwählt", sei es mit rational klingenden Argumenten wie der Wirtschaftlichkeit von Großgrundbesitz oder gar der selbstbetrügerischen Vorstellung, es ginge immer alles zumindest formaljuristisch gemäß dem Recht zu - keines der Argumente "ent-schuldigt". Verbrechen bleiben Verbrechen und werden vom Propheten ohne Angst und ohne Ansehen der Person als Verbrechen benannt. Insofern stellt die erste Hälfte von Vers 12 so etwas wie eine Bündelung der Gesamtkomposition dar: "Denn [besser: "Ja,] ich kenne eure vielen Vergehen und eure zahrlreichen Sünden ...". Diese Kenntnis, die biblisch nicht aus dem Blick eines Polizistengottes erfolgt, sondern - in menschlichen Bildern gesprochen - aus dem besorgten und bekümmerten Blick eines Liebenden, der an den Verirrungen derer leidet, an denen er hängt, - diese Kenntnis bleibt ncht ohne Folgen. "Darum suche ich euch heim für alle eure Vergehen", formuliert der ebenfalls mit der "Kenntnis" Gottes argumentierende Vers Am 3,2. 

Schon das Alte Testament hat erkannt, dass der Zusammenhang zwischen Unrecht und göttlicher Strafe nicht einfach ein Automatismus ist. Das ist manchmal schwer auszuhalten und lässt sich nicht einfach erklären. Wichtiger aber ist, dass der Glaube, vor Gott für die eigenen Taten verantwortlich zu sein, einen anderen und sehr gefährlichen Automatismus unterbricht bzw. nicht erlaubt, nämlich den Abwehrmechanismus:  Schuld sind immer die anderen. Der drohende Untergang des Nordreichs führt im Amosbuch nicht zur Klage über die brutalen Assyrer oder die Ungerechtigkeit Gottes, der sein eigenes Volk im Stich lässt, sondern zu der Erkenntnis: Im Gottesvolk selbst läuft etwas völlig aus dem Ruder. Die Schuld liegt auf Israels Seite. Amos listet diese Schuld gnadenlos in allen Einzelheiten auf. Verdrängung eigenen Versagens lässt sich biblisch nicht rechtfertigen.

Aber: Wo man tatsächlich die Folgen seines eigenen Handelns zu spüren bekommt, ist dies kein Grund, Gott aufzugeben. Ganz im Gegenteil: Genau an diesem Gott hält nicht nur Amos, sondern etwa auch der späte Überarbeiter fest, der den Gottes-Namen-Hymnus in Am 5,8-9 einfügt: Gottes Name ist JHWH, d. h. "Er [Gott] ist wirksam da" - und er trägt seinen Namen zu Recht.

 

2. Die Dinge sind niemals unabänderlich. Dies gilt ganz besonders aus der Perspektive Gottes

Besonders durch die Mahnworte in Am 5,4-6.14-15 wird deutlich: Selbst ein vom Propheten vorweggenommenes Leichenlied muss noch nicht das letzte Wort Gottes sein. Dem in Aussicht gestellten Todesschatten wird in der Komposition Am 5,1-17 das "Vielleicht" göttlicher Vergebung und Rettung zur Seite gestellt (Vers 15). Dieses "Vielleicht" hält Zukunft offen. Es gibt noch Raum zur Hoffnung, wo Menschen eher ein definitves Nein sagen. Deshalb darf weder der Prophet noch sonst ein Mensch die Umsetzung des angeblich sicher scheinenden Urteils Gottes vorwegnehmen. Sie würde dem göttlichen "Vielleicht" ein menschliches "Auf keinen Fall!" entgegensetzen.

Doch bedeutet das göttliche "Vielleicht" keine billige Hoffnung, sondern es lässt den Raum für den Menschen offen, von Irrwegen umzukehren. Dazu kann nicht oft genug Gelegenheit gegeben werden - gerade weil die Umkehr so schwer ist.  

Kunst etc.

Auch, wenn gar nicht so ganz sicher ist, welche Pflanze im hebräischen Text von Am 5,7 zum Vergleich genannt wird: Tradiitonell wird das Giftkraut, zu dem das Recht verkehrt wird, mit der Wermutpflanze (artemisia absinthium) identifiziert. Die Blätter schmecken extrem bitter und sind zum direkten Verzehr nicht geeignet. Man darf also nicht an die Aufbereitung für medizinische Zwecke bzw. an die Nutzung für alkoholische Getränke denken. Am 6,12 nennt die Pflanze ausdrücklich in Parallele zu "Gift".

Im Grunde sieht die Pflanze auch schon wenig appetitlich aus. Das flach über dem Boden sich ausbreitende Gewächs passt im Übrigen auhc gut zum Parallelausdruck "zu Boden schlagen", wenn es um die Gerechtigkeit geht.

Die Pflanze vor Augen (s. Bild) erklärt sich eigentlich schon fast von selbst, was Amos sagen will, wenn er von der Verkehrung des Rechts in bitteren Wermut spricht.

 /.content/.galleries/images/bibellektuere/Wermut-Pflanze.jpg, Copyright CC BY-SA 4.0
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