Die Zeichen der Zeit zu lesen - das erfordert auch die Bereitschaft, sich selbst von den Geschehnissen der Zeit in Frage stellen zu lassen. Dies wäre heutzutage leicht am Thema Umweltkatastrophen zu veranschaulichen. Sie haben viel mit menschlichem Versagen zu tun. Den einen leuchtet das sofort ein, anderen überhaupt nicht. Sie machen weiter wie bisher. Für die Unheilslitanei Am 4,6-11 spricht aus den Zeichen der Zeit Gott selbst. Aber auch hier gilt: Nicht jeder will das wahr haben. Genau so gilt aber auch für die Heilige Schrift die Überzeugung: Ob man will oder nicht, die Begegnung mit Gott ist unausweichlich (V 12). Anders formuliert: Die Konsequenzen des eigenen Handelns holen einen irgendwann ein. Im Lobpreis des Gottesnamens stimmt Vers 13 zu: Und Gott hat Recht mit dem, was er tut! Aber er eröffnet auch immer wieder neu Lebensraum.
Einordnung in den Zusammenhang
Unvermittelt setzt Vers 6 mit einer fünfstrophigen Litanei ein. Sie ist innerhalb des Amosbuches das mittlere von insgesamt drei Strophenliedern. Die anderen beiden sind das Völkerspruch-Lied Am 1,3 - 2,16 sowie die Visions-Folge, die sich auf Am 7,1-2.3-4.5-6; 8,1-2 und 9,1-4 verteilt. Beschränkt man sich bei dem Völkerlied auf die "Ursprungs"-Fassung (ohne Moab-, Edom- und Juda-Strophe), haben alle drei Texte fünf Strophen. Man hat fast den Eindruck: Hier wird Wichtiges an den fünf Fingern einer Hand abgezählt - insgesamt dreimal im gesamten Buch. Wie 3 Säulen aus 5 übereinander geschichteten Rundsteinen tragen diese Texte das Haus des Amosbuches (s. dazu die Einleitung in das Amosbuch).
Einen direkten Anschluss an das vorangehende kultische Kritikwort Am 4,4-5 hat die Unheilslitanei Am 4,6-11 nicht. Im Hebräischen steht bezeichnenderweise ein "Und außerdem ..." (hebräisch: wegam) am Beginn, das die Einheitsübersetzung weggelassen hat. Das göttliche Ich, das spricht, begegnete zuletzt in Am 3,15, aber im Hebräischen längst nicht in der feierlichen Form, die Am 4,6 (’anî) und Am 4,7 (’ānôkî) wählen. Man müsste eigentlich über setzen: "Und außerdem: Ich, ich ließ euch hungern ...." Diese Form tauchte bislang nur in Am 2,9.10 auf, interessanterweise zwei Verse, die ebenfalls auf Ereignisse der geschichtlichen Vergangenheit zurückblicken.
Zusammen mit den beiden Schlussversen 12 und 13 macht der Gesamttext den Eindruck eines späteren Einschubs in das Amosbuch. Dem angeblichen Aufsuchen Gottes in Form von Opferwallfahrten nach Bet-El und Gilgal (Am 4,4-5) wird gegenübergestellt, wie es wirklich um die "Söhne Israels" (Am 4,5) bestellt ist. Sie rechnen gar nicht ernsthaft mit diesem Gott - schon lange nicht mehr. Aus einer späten Sicht bildet das aktuell von Amos angeklagte Unrecht nur das letzte Glied einer Kette verweigerter Umkehr, die an fünf Beispielen verdeutlicht wird. Ohne dass dieses aktuelle Unrecht selbst noch einmal genannt wird, ist klar: Mit Amos ist die Zeit der vielfachen Chancen, die Gott gegeben hat, vorbei. Was bei Amos selbst "Das Ende ist gekommen" heißt (Am 8,2), heißt jetzt: "... mach dich bereit, deinem Gott gegenüberzutreten." Dieser Gott wird schließlich noch in seiner kosmischen Schöpfermacht vor Augen gestellt. In Form eines typischen Gottes-Hymnus mündet V 13 in ein Bekenntnis zum Namen Gottes: "JHWH, der Gott der Heerscharen, ist sein Name." Vergleichbare Schlusswendungen werden noch in Am 5,27 un 9,5-6 begegnen. Offensichtlich sind diese Gottes-Namen-Hymnen auch so etwas wie ein das Amosbuch durchziehendes Element - ein auseinandergezogenes dreistophiges Namen-Gottes-Lied.
So wenig, wie Am 4,6-13 direkt an den vorangehenden Text anknüpft, so gibt es auch keinen Übergang zum Folgetext. Das Totenklagelied auf die "Jungfrau Israel" (Am 5,1-2) knüpft gedanklich eher an die Unheilsworte Am 3,9 - 4,3 an. So könnte man sagen: Am 4,6-13 weitet den Blick und ordnet die Unheilsbotschaft des Amos in ein größeres Ganzes ein: in die Geschichte des Schöpfergottes mit seinem Volk. Der geschichtliche Horizont, also die "Stunde" der unheilvollen Begegnung mit Gott, könnte die Zeit der Zerstörung Jerusalems und der babylonischen Gefangenschaft sein.1
Fünf Plagen (Verse 4,6.7-8.9.10.11)
Hunger und Durst sind die ersten Schläge, die beschrieben werden (Verse 6-8). Natürlich kennt Israel beide Erfahrungen aus der Wüstenzeit beim Auszug aus Ägypten (vgl. z. B. Exodus 15,22 - 17,7). Der ausbleibende Regen erinnert jedoch noch mehr an den Propheten Elija, der dem König Ahab eine Trockenperiode verkünden muss (vgl. 1 Könige 17,1; 18,1.41-45a). Allerdings weist die Rede von Städten und Dörfern weniger in die Wüsten- als in die Staatszeit Israels. Es kann also ganz allgemein auf die Alltagserfahrung Israels angespielt sein, auf Dürrekatastrophen mit Ausbleiben der Ernte und Austrocknen der lebenswichtigen Bachläufe. Nicht exakt datierbare Ereignisse sind gemeint, sondern sich wiederholende Grunderfahrungen. An sie knüpfen auch die "Horrorvisionen" des Amos in Am 7,7,1-3.4-6 an.
Allerdings kommen einige Besonderheiten hinzu. Einmal mehr muss der hebräische Text bemüht werden, um die bittere Ironie und die Anspielungen des Textes wahrzunehmen. Statt "Ich ließ euch hungern" müsste es in Vers 6 heißen: "Ich gab euch blanke/reine Zähne". Geht man davon aus, dass ein nicht unwichtiges, wenn auch unangemessenes Motiv des Opferns (s. dazu die Vorgängerverse Am 4,4-5) die Erwartung von göttlichen "Gaben" in Form der Fruchtbarkeit war2, dann wird genau diese Erwartungshaltung gleich durch die erste Strophe der Litanei unterlaufen: Statt Fruchtbarkeit hat Israel - eben aufgrund seiner falschen Gesinnung und seines entsprechenden Handelns - "reine Zähne" als Gottes "Gabe" erhalten. Hier verbirgt sich schon die zweite Anspielung: Üblicherweise ist "Reinheit" im Sinne von Unschuld (vgl. z. B. Psalm 26,6; 73,13) die Voraussetzung für die Teilnahme am Opferkult (vgl. z. B. Psalm 15). Doch bei den Israeliten sind das einzig "Reine" statt des Herzens die Zähne, und zwar deshalb, weil sie nichts zu beißen haben.
Das "Taumeln der Städte", die nach Wasser Ausschau halten, findet seine Entsprechung in Am 8,12-14. Auch hier ist von einer taumelnden Suche die Rede, doch diesmal nach dem Wort Gottes. Die Suche nach Wasser und nach Gottes Wort bringt auch Jesaja 55,1ff. zusammen, so dass sich zumindest bei einer buchübergreifenden Lektüre als Gesamtzusammenhang ergibt: Die ausbleibende Versorgung war Gottes Antwort darauf, dass Israel sich dem lebensweisenden Wort Gottes versagt hat. Man verstand die Zeichen der Zeit als Aufforderung, die Schwierigkeiten durchzustehen, nicht aber Ursachenforschung zu betreiben und etwas zu ändern.
Als dritter Schlag (V 9: “Ich schlug” statt EÜ “Ich vernichtete”) werden Missernten auf Grund von Kornbrand, verursacht durch sengend heiße Wüstenwinde, von Mehltau, bedingt durch Wurmfraß, von Trockenschäden (unsicherer hebräischer Text) in Gärten und Weinbergen sowie von Heuschreckenfraß in den Feigen- und Ölbaumplantagen genannt. Das ganze Szenario erinnert an Joël 1,2-20, wahrscheinlich einer der Gründe, warum gerade diese beiden Prophetenbücher in der Bibel nebeneinander stehen.
Die beiden letzten Strophen (Verse 10-11) der Plagen-Litanei nennen Angriffe auf das Leben selbst. Pest (erinnert wird an die ägyptische Pest in Exodus 3,9) und Krieg sprechen eine eindeutige Sprache. Man riecht geradezu beim Lesen die Dramatik der Situation. Aber auch der Leichengestank (vgl. Jesaja 34,3; Joël 2,20) bewirkte keine Änderung. Die fünfte Strophe scheint noch einmal eine Steigerung zu beschreiben: die Erinnerung an den Umsturz von Sodom und Gomorra3 kann sowohl ein Bild für die von Amos angekündigte und 722 v. Chr. erfolgte Zerstörung des Nordreichs sein als auch für den Untergang Jerusalems im Jahr 586 v. Chr.4 Hierzu passt das Bild vom aus dem Feuer geretteten Holzscheit. Anders als Amos, der in seiner Hirtensprache in Am 3,12 vom geretteten Ohrläpppchen eines Schafes aus dem Maul des Löwen als sicherem Tötungsnachweis durch ein Raubtier spricht, scheint das gerettete Holzscheit eher einen überlebenden Rest zu meinen, der dennoch nicht umgekehrt ist. Dies gilt ebenso für das kleine Südreich Juda, das von den assyrischen Feldzügen 732 und 722 v. Chr. verschont blieb, als auch von der Rückkehrergemeinde in Jerusalem nach der babylonischen Gefangenschaft5. Auch die größten geschichtlichen Katastrophen haben keine wirkliche Umkehr zum Gott Israels bewirkt. Zertsörerische Machtgier und die Kleinen unterdrückende Wirtschaftsinteressen behielten die Oberhand.
Das Gerichtswort (V12)
Der göttliche Erzieher hat versagt und schlägt nun erbarmungslos zu. So könnte man die Androhung aus Vers 11: "Darum will ich so an dir handeln, Israel" (wörtliche Übersetzung) verstehen. Dabei bleibt das "so" etwas rätselhaft. Ist eine Wiederholung all der Schläge gemeint, die bislang aufgelistet wurden? Oder ist zu übersetzen: "Darum handle ich an dir so, Israel", "und zwar so, wie du es im Augenblick erlebst"? Diese vielleicht etwas plausiblere Lösung könnte sich dann auf das babylonische Exil beziehen. Dieses bittere Strafgericht wäre dann aber nicht die völlige Vernichtung, sondern ein Instrument und eine Zeit der "Bereitung", es neu mit Gott zu versuchen und die Begegnung mit ihm zu suchen. Die Ausdrücke "sich bereiten" und "Gott begegnen" erinnern an Exodus 19,11.14.17 und damit an die dreitägige Bereitung des Volkes Israels, unter der Führung des Mose am Sinai JHWH gegenüberzutreten. Nicht um Strafe und Vernichtung, sondern um ein gemeinsames Unterwegssein im Angeischt und unter der Führung Gottes geht es - in Exodus ebenso wie wohl auch in Am 4,12.
Ein Bekenntnis zum Namen Gottes (V 13)
Nachdem die Verse 6-11 auf verschiedenste Naturvorgänge angespielt hat, bekennt sich Vers 13 ausdrücklich zum Schöpfergott. Auch der Gott, der sich in seiner Schöpfermacht gegen Israel wenden kann, ja, der sein Schöpfungswerk rückgänig machen kann6, ist kein anderer als der Gott, der sich einst unter dem Namen JHWH zu erkennen gegeben hat. Die Besonderheit des Verses liegt darin, dass Schöpfung und Gericht zusammengedacht werden. Auch das “Schreiten über die Höhen” (vgl. Micha 1,3) ist ein Gerichts-Motiv und meint kein Ausschreiten Gottes zum Guten, sondern ein Einschreiten gegen Israel und seine Höhen (vgl. Am 7,9).
Dass aber alles in Form eines Hymnus formuliert wird, deutet zugleich an, dass erstens dieses Gericht von Israel als gerechtfertigt anerkannt wird und zweitens auch weiterhin auf die Rettungsmacht dieses Gottes gesetzt wird. So kann sein Name angesichts der Katastrophe des Exils, in der das Amosbuch neu gelesen wird, gepriesen werden.