Wer immer der Mensch war, dessen Gott sich als sein Sprachrohr gegen Israel bedient hat: Er war brilliant! Ein klarer Blick für die Wirklichkeit, der in eine ebenso klare Sprache gefasst wird. Das gilt auch dann noch, wenn der Prophet das Stilmittel der Ironie verwendet, so wie in Am 4,4-5.
Einordnung in den Kontext
Themenwechsel! Scheinbar! Nach drei Sprüchen über das politische Zentrum Samaria nun ein Wort zu den beiden Heiligtümern Bet-El und Gilgal1. Die Adressaten sind nicht mehr eindeutig der Oberschicht zurechenbar ("Söhne Israels"), und statt von sozialen Vergehen wird jetzt von kultischen Dingen gesprochen. Auch die zu Grunde liegende Form ist neu und dem neuen Thema angepasst: Eine Aufforderung zur Wallfahrt (vgl. Ps 100,2.4) mit den zugehörigen Opfern wird mit geradezu beißendem Spott verfremdet.
So ganz neu ist das Thema jedoch bei näherem Zusehen nicht. Der Kult klang bereits in Vers 8 der Israelstrophe an (s. Auslegung zu Am 2,6-16). Konnte man dort die Formulierung "im Haus ihres Gottes" als versteckte Anspielung auf den Ort Bet-El (zu deutsch: "Haus Gottes") verstehen, spielte Kapitel 3 das Thema Bet-El ausdrücklich in V 14 ein. Es scheint bewusst ein innerer Zusammenhang hergestellt zu werden zwischen Samaria und Bet-El, zwischen weltlichem Treiben und kultischem Tun. Die Fortsetzung erhärtet die Vemutung. Der vom Thema Rechtskritik beherrschte Abschnitt Am 5,1-17 beinhaltet mit VV 4-6 ebenfalls eine Passage, die von Bet-El - und sogar auch von Gilgal - spricht. Die Verse 21-27 beschließen das Kapitel 5 mit einem ausdrücklich dem Kult gewidmeten Text - diesmal ohne Ortsangabe. Schließlich bildet der um Bet-El kreisende sog. Fremdbericht Am 7,10-17 das Zentrum, um das herum der Visionszyklus 7,1-8; 8,1-2 und 9,1-4 angeordnet ist. Alle diese Stellen ergeben im Endtext des Amosbuches einen inneren Zusammenhang und interpretieren sich gegenseitig. Wenn auch verfremdet, gehört sogar noch Am 8,13-14 hierhin, wenn wiederum Samaria mit ausgewiesenen Kultorten zusammen genannnt wird; hier treten allerdings an die Stelle Bet-Els die Orte Dan und Beerscheba (zur Begründung s. die Auslegung zu Am 8,4-14).
Die sogenannte "Gottesspruch-Formel" ("Spruch GOTTES, des Herrn") am Ende von Vers 5 lässt übrigens deutlich den ursprünglichen Abschluss der Einheit erkennen, der von Späteren aber eher als Doppelpunkt verstanden wurde: Sie ergänzten die Verse 6-13.
"Kommt und sündigt!" (Vers 4)
Wie ein Priester, der zur Wallfahrt aufruft, scheint sich der Prophet hinzustellen und für Bet-El bzw. Gilgal zu werben. Je mehr Opfergaben, desto besser. Und doch ahnt man gleich, dass hier etwas nicht stimmen kann. Denn der Werberuf "Kommt" wird mit dem Verb "sündigen" verbunden. Der hebräische Text formuliert hier sogar einen noch direkteren Zusammenhang als die deutsche Übersetzung. Statt "Kommt und sündigt" müsste es nämlich noch genauer heißen: "Kommt ..., um zu sündigen" (hebräisch: bā’û ûpiš‘û). Das Verb "sündigen" (pāša‘) ist den Lesenden bereits als Substantiv (paeša‘) bekannt. In Am 2,6 und an den Parallelstellen innerhalb der Fremdvölkersprüche wurde es immer mit "Verbrechen" übersetzt. Es ist ein Sammelbegriff für die in Am 1,3 - 2,16 angeführten menschenverachtenden Untaten. Sie umfassen die Kriegsverbrechen der Fremdvölker und den Terror im Inneren Israels. Auf diesem Hintergrund ist die höhnische Einladung zur Opferdarbringung noch besser zu übersetzen: "Kommt nur nach Bet-El, um Verbrechen zu begehen, kommt doch nach Gilgal, um noch mehr Verbrechen zu begehen!"
Doch worin besteht das Verbrechen. Ist gemeint: "Kommt nur fleißig nach Bet-El, derweil ihr außerhalb des Tempels all eure Verbrechen begeht!"? Auch wenn dieser Gedanke durchaus dem Amos entspricht, liegt hier eine noch wesentlich heftigere Zuspitzung der Aussage zu. Dies lässt jedenfall die Fortsetzung vermuten.
Opfer aller Arten (Vers 4b.5a)
Denn an keiner Stelle folgt die Nennung irgendeines Verbrechens, wie sie bislang immer wieder im Amosbuch benannt wurden, insbesondere im vorangehenden Abschnitt Am 3,9 - 4,3. Stattdessen werden nur kultische Leistungen aufgelistet:
- das morgendliche Schlachtopfer, in dessen Zentrum nach Opferung einiger Fetteile des Tieres das gemeinsame Fleischmahl der opfernden Familie stand;
- die wohl ebenfalls mit einem Mahl verbundene Darbringung des Zehnten der Ackererträge (vgl. Deuteronomium 14,22) sowie anderer Naturalien (vgl. Deuteronomium 12,17; 14,23), die Genesis 28,22 ebenso auf Jakob zurückführt, wie der Gesamttext Genesis 28,10-22 die Kultstätte von Bet-El als Ort der JHWH-Verehrung mit Jakob in Verbindung bringt;2
- die als Dankopfer zu verstehende Verbrennung (“Rauchopfer”) von Sauerteig (sonst nur noch aus Levitikus 7,13 bekannt) sowie zusätzliche freiwillige Opfer, mit denen man besonders Eindruck machen konnte.
Wenn Amos auf die Aufforderung "Kommt ... und begeht Verbrechen" nur diese Liste folgen lässt, bedeutet dies: Wenn die Opfer die Aufgabe haben, über die Verbrechen im Alltag hinwegzutäuschen, sie zu übertünchen und sich vor den anderen als fromm und ehrenvoll darzustellen, dann werden diese Opferungen selbst zum Verbrechen. So scharf im Namen Gottes zu formulieren, muss sich erst einmal jemand trauen! Die Heilige Schrift verbindet mit dem Propheten Amos diesen Mut.
"So gefällt es euch" (Vers 5b)
Noch einmal muss auf den hebräischen Wortlaut geblickt werden. Eindeutig sagt der Text: "So liebt ihr es" (hebräisch: kî ken ’ahabtaem). Nur so wird ein weiteres Strukturelement erkennbar, das öfters im Amosbuch begegnet: das Gegensatzpaar "lieben - hassen (hebräisch: sānā)". Israel "liebt" den pervertierten Kult (Am 4,5), der zudecken soll, dass es im Tor den, der für das Recht eintritt, "hasst" (Am 5,10). "Hassen" sollte es aber eigentlich - so mahnen Spätere - das Böse, sein "Lieben" hingegen sollte auf das Gute ausgerichtet sein (Am 5,15). Solange die Wirklichkeit aber anders aussieht, fordert der Kult Israels JHWHs Hass heraus (Am 5,21): "Ich hasse eure Feste ...".