Das Buch Amos

Am 3,9-4,3: Worte gegen Samaria

9Ruft es aus über den Palästen von Aschdod / und über den Palästen in Ägypten!

Sagt: Versammelt euch auf den Bergen von Samaria, / seht das wilde Treiben in ihrer Mitte / und die Unterdrückung in ihrem Innern!

10Sie kennen die Rechtschaffenheit nicht / - Spruch des HERRN - ,

sie häufen Gewalt und Unterdrückung / in ihren Palästen auf.

11Darum - so spricht GOTT, der Herr: / Ein Feind wird das Land umzingeln;

er wird deine Macht niederreißen / und deine Paläste werden geplündert.

12So spricht der HERR: / Wie ein Hirt aus dem Rachen des Löwen

nur noch zwei Wadenknochen rettet / oder den Zipfel eines Ohres,

so werden Israels Söhne gerettet, / die in Samaria auf ihrem Diwan sitzen / und auf ihren Polstern aus Damast.

13Hört und bezeugt es dem Haus Jakob / - Spruch GOTTES, des Herrn, des Gottes der Heerscharen:

14Ja, an dem Tag, an dem ich Israel / für seine Verbrechen heimsuche, / werde ich die Altäre von Bet-El heimsuchen;

die Hörner des Altars werden abgehauen / und fallen zu Boden.

15Ich zerschlage den Winterpalast und den Sommerpalast, / die Elfenbeinhäuser werden verschwinden

und mit den vielen Häusern ist es zu Ende / - Spruch des HERRN.

41Hört dieses Wort, / ihr Baschankühe auf dem Berg von Samaria,

die ihr die Schwachen ausbeutet / und die Armen zermalmt

und zu euren Männern sagt: / Schafft herbei, wir wollen saufen!

2Bei seiner Heiligkeit / hat GOTT, der Herr, geschworen:

Seht, Tage kommen über euch, / da holt man euch mit Fleischerhaken weg,

und was dann noch von euch übrig ist, / mit Angelhaken.

3Ihr müsst durch die Breschen der Mauern hinaus, / eine hinter der andern;

man jagt euch dem Hermon zu / - Spruch des HERRN.

Überblick

Sozialer Terror gepaart mit luxuriöser Behaglichkeit der Verantwortlichen – auf diesen Nenner kann man die Anklage des Amos bringen, die in dieser kleinen Spruchsammlung ihren sprachgewaltigen Ausdruck findet. Sie trifft „Männlein“ wie „Weiblein“, die zu allem Überfluss auch noch fromm tun. Mit solcher Haltung ist bei Gott „nichts zu holen“.

 

Einordnung in das Amosbuch

Zwischen den beiden Hauptsäulen des Amosbuches (s. Einleitung), nämlich dem Völkerspruchzyklus (Am 1,3 – 2,16) und dem Visionszyklus (ab Am 7,1), sind zwei Sammlungen von Einzelsprüchen gestellt. Das Arrangement ist nicht das Redekonzept des Amos, sondern die Konzeption derjenigen, die seine Worte aus der Erinnerung heraus nach eigenen Prinzipien zusammengestellt haben. Die beiden Sammlungen umfassen Am 3,9 – 4,3(.4-5) einerseits und Am 5,1 – 6,14 andererseits. Getrennt werden sie durch den litaneiartigen Strophentext Am 4,6-13 als dritter Säule des Amosbuches (s. dazu die Einleitung zum Amosbuch)..

Hauptadressat der ersten Spruchgruppe ist die politische Hauptstadt des Nordreichs: Samaria (Vers 9). Sie ist wohl eine der beiden entscheidenden Auftrittsorte des Amos gewesen. Der andere war die kultische Hauptstadt des Nordreichs: Bet-El mit dem zugehörigen Staatsheiligtum, um das es in Am 7,10-17 gehen wird.

 

Exkurs: Samaria und Bet-El

 

Samaria  muss man sich als eine Prunkstadt vorstellen, die König Omri (882 - 871 v. Chr.) und seine Nachfolger als Hauptstadt des Nordreichs aus dem Nichts erbauen ließ. Gipfel des Luxus sind Häuser mit Elfenbeinfassaden, welche die Archäologie noch in Resten gefunden hat. Sie war das politische und wirtschaftliche Zentrum des Landes. Den wahrscheinlich schon älteren Reichstempel beließ man hingegen in Bet-El. Solche Heiligtümer, die mit großen religiiösen Gefühlen verbunden sind, kann man nicht einfach beständig austauschen. Mit Genesis 28, der Erzählung von Jakobs Traum von der Himmelleiter an einem Ort, den er Bet-El ("Haus Gottes") nennt, erhält Bet-El einen heiligen Gründungstet. 

 

Die Einzelsprüche

Beispielhaft werden in Am 3,9-11 zwei der umliegenden Völker - Ägypten (vgl. Exodus 1,9-22; 2,23-25) und die Stadt Aschdod (vgl. Am 1,8) als Stellvertreterin für das Philisterreich ( zur Bedrückung durch die Philister vgl. z. B. Richter 10,6-16; 1 Samuel 17) - wie auf die Zuschauerränge eines Amphitheaters gerufen. Die umgebenden Berge Samarias bilden die Tribüne. Die "Fachleute" für Gewalttätigkeit werden als Zeugen herbeigerufen, um sich das gewalttätige Treiben in Samaria anzuschauen und das fällige Rechtsurteil des HERRN zur Kenntnis zu nehmen. Aus wessen Mund die „Einladung“ an die Völker ergehen soll, bleibt offen. Der Funktion nach sind es jedenfalls Herolde. Ein vergleichbares Stilmittel findet sich in Jesaja 40,1, wo sprachlich ebenfalls offen bleibt, durch wen die Tröstung Jerusalems geschehen soll. Gerne eröffnet die Heilige Schrift Vorstellungsräume, die die Lesenden mit ihren eigenen Bildern füllen dürfen.

 

Mit der Botenspruchformel „So spricht der HERR“ (s. zu dieser Formel die Auslegung von Am 1,3 – 2,16) in Am 3,12 beginnt ein Spruch, der den Viehwirt Amos  deutlich heraushören lässt. Er kennt sich im Hirtenrecht bestens aus und wendet es in bitterer Ironie auf den Untergang Samarias an. Seine eigentliche Fortsetzung findet der Spruch in der Unheilsansage Vers 15. Nur sie passt mit ihrer Rede von den zwei-etagigen Luxushäusern mit eigenem kühlen Obergeschoss für den Sommer zur auf Diwanen liegenden Führungsschicht.

 

Zwischengeschaltet ist in Am 3,13-14 ein offensichtlich auf den Kult in Bet-El abzielendes Unheilswort. Die Altarhörner als Zufluchtsstätte für Menschen, die sich ohne triftigen Grund der Verfolgung durch Bluträcher ausgesetzt sahen, werden abgehauen werden. Der Tempel, ja, Gott selbst, wird keine Rettung mehr bereit halten.

 

Das drastischste Wort, erneut mit einem Hör-Aufruf eingeleitet (s. den Überblick zu 3,1-2), stellt wohl Am 4,1-3 dar. Wiederum spricht nicht nur der Prophet Amos, sondern auch der Viehwirt. Unter Anspielung auf das beste Rassevieh weit und breit, nämlich das Vieh von den fetten Weiden Baschans im Norden (Richtung Hermongebirge), wird die weibliche Oberschichte gnadenlos in ihrer Rücksichtlosigkeit vorgeführt und mit einem Urteilsspruch versehen.

Auslegung

zu Am 3,9-11

Eine Übersetzung kann fast gar nicht wiedergeben, wie sehr es in dieser Strophe "knallt". „Wildes Treiben“ (hebräisch: mehûmôt rabbôt), „Unterdrückung“ (ʽāšûqîm), „Gewalt und Unterdrückung“ (ḥāmās wāšôd) – so versucht es die revidierte Einheitsübersetzung von 2016. Die ersten beiden Ausdrücke stehen im Hebräischen in der Mehrzahl. Ein sich aus vielen Einzeltaten zusammensetzender Terror ist gemeint sowie eine Vielzahl menschenverachtender Unterdrückungsmaßnahmen – ein Summenbegriff für das, was ausführlicher und konkreter in Am 2,6-8 nachzulesen war. Das dritte Glied der Wörterkette ist ein Doppelausdruck, der in anderen Zusammenhängen als Hilferuf erkennbar ist. Er entspricht unserem – altertümlichen - „Zeter und Mordio“ rufen, und meint hier natürlich das, was den Anlass zu solchem Hilfeschrei bietet. Wörtlich stehen die beiden Begriffe für „Gewalttätigkeit“ und „Raub, Plünderung“. Die Verrohung der Oberschichte, um sich wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen und Luxus zu sichern, ist so groß, dass schon keiner mehr eine Vorstellung davon hat, was das „Richtige“ wäre: „Geradheit“ (in der Einheitsübersetzung steht „Rechtschaffenheit“). Offensichtlich setzt hier eine ganze Gesellschaftsschicht auf "krumme Touren": Kreditverträge nicht einhalten, mit faulen Tricks armen Kleingrundbesitzern ihre Grundstücke wegnehmen zum Aufbau von Großgrundbesitz, Rechtsverdrehung, Bestechung, zur Not auch ein Tötungsdelikt oder zumindest handfeste Gewalt. Die Wohnburgen („Paläste“) sind zu Tresoren von Schätzen geworden, an denen das Unrecht und das Blut der Armen kleben. Anders als in Am 2,14-16 droht der Prophet im Namen Gottes diesmal nicht mit einem alles zerstörenden Erdbeben, sondern mit einem Kriegszug, der alles zunichte macht. Am Ende kam es tatsächlich so – durch das grausame Schwert der Assyrer im Jahre 720 v. Chr.

 

zu  Am 3,12.15

Hatte ein Hirte das Pech, dass ein wildes Tier (Löwe, Wolf, Leopard, die in alttestamentlicher Zeit durchaus zur Tierwelt des damals noch sehr waldreichen Israel gehörten) ein Schaf oder eine Ziege riss, so musste er einen Beweis beim Herdenbesitzer vorlegen. Sonst hatte er den Verlust aus eigener Tasche auszugleichen (vgl. Exodus 22,12; Genesis 31,39). Auf diese Bestimmung aus dem Hirtenrecht spielt Amos an, der selber laut eigener Aussage (Am 7,14) ein Rinderhirte (hebräisch: bôqer) war. Mit bitterböser Ironie hält er fest: So wie das aus dem Löwenmaul „gerettete“ Wadenbein oder der Ohrzipfel nur den gewaltsamen Tod des Schafes bezeugt, so werden auch von Israel vielleicht einige winzige Reste übrig bleiben, wenn der Löwe JHWH zuschlägt. Aber diese Reste haben keinen anderen Zweck, als den Tod Israels zu bezeugen. Da bleibt einem das Wort „Rettung“ im Halse stecken.

Dass an dieser Stelle das Lagern auf Diwanen besondere Erwähnung findet, ist nicht nur Ausdruck luxuriösen „Abhängens“ und „Chillens“, das teilnahmslos gegenüber dem Elend der Welt bleibt (vgl. auch Am 6,4). Aus der Archäologie ist bekannt, dass gerade kostbare Sitz- und Liegemöbel gerne mit Löwenköpfen verziert waren. Man sprach ihnen Abwehrkräfte gegen Unheil zu. Vielleicht sah man auch in JHWH diesen Unheil abwehrenden Löwen. Nun müssen sie sich sagen lassen: Ihr habt es geschafft, dass JHWH sich euch gegenüber vom schützenden zum reißenden Löwen verwandelt hat. Und dieser Löwe wird Samaria bei seinem ganzen Stolz packen: bei der Pracht seiner Häuser, die im Schutt versinken wird (vgl. Am 6,8).

 

zu Am 3,13-14

Wieder ergeht ein Hör-Aufruf an eine nicht näher genannte Gruppe von Herolden (vgl. Am 3,1). Doch diesmal sind sie nicht Zeugen, sondern Urteilsverkünder. Das ist nicht die übliche Kompetenz von Fremdvölkern. Fällt der Spruch schon damit etwas aus dem Rahmen, so gilt dies ebenfalls für sein weiteres Vokabular. Auf den ersten Blick scheint es um das Nordreich-Heiligtum von Bet-El zu gehen. Der ungewöhnliche Plural „Altäre“ passt dabei zu Am 2,8 („neben jedem Altar“), eine Bemerkung, die wiederum an Hos 8,11 erinnert: „Efraim hat viele Altäre gebaut, um zu sündigen, ja, Altäre zum Sündigen sind sie ihm geworden“ (vgl. Hos 10,2.8; 12,12). Doch dann ist nur noch von den „Hörnern des Altars“ in der Einzahl die Rede. Da denkt der biblische Mensch eher an Jerusalem. Dies gilt in gleicher Weise für die Anrede „Haus Jakob“, die eher typisch für das Südreich ist (vgl. z. B. Micha 2,7; 3,9 u. ö.) oder gar in exilisch-nachexilischer Zeit das nicht mehr staatlich verfasste Volk Israel meint (Jesaja 2,5; 46,3 u. ö.). Zumindest scheint „Haus Jakob“ ein „offener“ Begriff zu sein, in dem sich auch das Südreich Juda wiederfinden konnte. Dies wird verstärkt durch den Gottesnamen innerhalb der ausgedehnten Gottespruchformel: „Spruch Gottes, des HERRN, des Gottes der Heerscharen“. Dieser Titel gehört vor allem zum Tempel von Jerusalem (vgl. besonders Ps 24) und begegnet im Amosbuch nur noch in Am 6,8. Auch hier wird sehr deutungsoffen nur noch von „der Stadt und alles, was in ihr ist“ gesprochen“. „Die Stadt“ ist für die Leserschaft der alttestamentlichen Zeit vor allem Jerusalem.

Mit anderen Worten: Am 3, 13-14 wie Am 6,8 gehören wahrscheinlich zu einer Überarbeitungsschicht, die die Botschaft des Amos auch auf das Südreich anwenden will. Der Vorwurf verlagert sich dabei stärker auf kutlische Vergehen, weshalb auch das Urteil im Sinne einer Spiegelstrafe genau dort trifft, wo der Frevel geschieht: am Heiligtum. So, wie der „Löwen-Gott“ nicht mehr schützt, sondern zuschlägt, so ist auch das Heiligtum nicht mehr länger Asylstätte. Die Angesprochenen können Gott nicht länger für sich reklamieren. 

 

zu Am 4,1-3

Bösartiger kann man kaum formulieren, als es Amos in diesen Versen tut. „Baschankühe“ stehen zunächst einmal für das beste Weide- und Mastvieh Israels (vgl. Deuteronomium 32,14; Josua 21,27; Ezechiel 39,18). Die saftigen Grünflächen nähren die Tiere bestens und lassen Fett ansetzen.

Doch erkennbar meitn Amos den Begriff hier im übertragenen Sinn. Er spricht die Ehefrauen der Herren von Samaria an. Der Vergleichspunkt dürfte die Leibesfülle sein, wobei sich dann die Frage stellt: Wo kommt diese Leibesfülle auf dem kahlen Stadthügel von Samaria her? In der Antwort liegt die Pointe des Amos-Wortes: Schuldsklaven, also Kredite durch zeitweise Selbstversklavung beim Kreditgeber abarbeitende Menschen – Erwachsene wie Kinder –, werden bis zum Zusammenbruch geschunden, um den Weingärten die Erträge zu entlocken, die die Damen zur Stillung ihrer Alkoholgier brauchen.

Passend zum Viehbild wird auch das Urteil in eine Sprache gekleidet, die heutzutage eher an den Schlachthof erinnert. Das Angelbild überrascht in diesem Zusammenhang. Allerdings sind gerade die entscheidenden Wörter in Am 4,2 vom Hebräischen her alles andere als eindeutig. Der letzte Vers scheint Deportation anzukündigen – ein damals durchaus übliches Verfahren nach erfolgreicher Eroberung. Auch hier ist das Wort unsicher, das die Einheitsübersetzung im Gefolge einer sehr plausiblen Deutung als Hermon auffasst. Das ist noch einmal böse Ironie: Das „Baschanvieh von Samaria“ zieht in die Richtung, wo das eigentliche Baschanvieh hingehört: zum Hermon (vgl. Josua 13,11; 1 Chronik 5,23). Die damit angegebene Himmelsrichtung Norden dürfte allerdings auf einen Weitermarsch nach Assyrien verweisen, von wo einige Jahrzehnte nach Amos tatsächlich das Unheil kam.

Kunst etc.

Vom Prunk Samarias zeugen zahlreiche Elfenbeinfunde, die die Archäologie zutage gefördert hat. Die reichliche Verwendung für den Beschlag von Mobiliar, aber auch von Hauswänden ist alles andere als "normal". Elfenbein war ein extrem teures Handelsgut, das über Hafenstädte wie Byblos (heutiger Libanon) per Schiff aus Ägypten importiert werden musste. Anschließend war noch der Transport über Landwege bis nach Samaria notwendig.