Sozialer Terror gepaart mit luxuriöser Behaglichkeit der Verantwortlichen – auf diesen Nenner kann man die Anklage des Amos bringen, die in dieser kleinen Spruchsammlung ihren sprachgewaltigen Ausdruck findet. Sie trifft „Männlein“ wie „Weiblein“, die zu allem Überfluss auch noch fromm tun. Mit solcher Haltung ist bei Gott „nichts zu holen“.
Einordnung in das Amosbuch
Zwischen den beiden Hauptsäulen des Amosbuches (s. Einleitung), nämlich dem Völkerspruchzyklus (Am 1,3 – 2,16) und dem Visionszyklus (ab Am 7,1), sind zwei Sammlungen von Einzelsprüchen gestellt. Das Arrangement ist nicht das Redekonzept des Amos, sondern die Konzeption derjenigen, die seine Worte aus der Erinnerung heraus nach eigenen Prinzipien zusammengestellt haben. Die beiden Sammlungen umfassen Am 3,9 – 4,3(.4-5) einerseits und Am 5,1 – 6,14 andererseits. Getrennt werden sie durch den litaneiartigen Strophentext Am 4,6-13 als dritter Säule des Amosbuches (s. dazu die Einleitung zum Amosbuch)..
Hauptadressat der ersten Spruchgruppe ist die politische Hauptstadt des Nordreichs: Samaria (Vers 9). Sie ist wohl eine der beiden entscheidenden Auftrittsorte des Amos gewesen. Der andere war die kultische Hauptstadt des Nordreichs: Bet-El mit dem zugehörigen Staatsheiligtum, um das es in Am 7,10-17 gehen wird.
Exkurs: Samaria und Bet-El
Samaria muss man sich als eine Prunkstadt vorstellen, die König Omri (882 - 871 v. Chr.) und seine Nachfolger als Hauptstadt des Nordreichs aus dem Nichts erbauen ließ. Gipfel des Luxus sind Häuser mit Elfenbeinfassaden, welche die Archäologie noch in Resten gefunden hat. Sie war das politische und wirtschaftliche Zentrum des Landes. Den wahrscheinlich schon älteren Reichstempel beließ man hingegen in Bet-El. Solche Heiligtümer, die mit großen religiiösen Gefühlen verbunden sind, kann man nicht einfach beständig austauschen. Mit Genesis 28, der Erzählung von Jakobs Traum von der Himmelleiter an einem Ort, den er Bet-El ("Haus Gottes") nennt, erhält Bet-El einen heiligen Gründungstet.
Die Einzelsprüche
Beispielhaft werden in Am 3,9-11 zwei der umliegenden Völker - Ägypten (vgl. Exodus 1,9-22; 2,23-25) und die Stadt Aschdod (vgl. Am 1,8) als Stellvertreterin für das Philisterreich ( zur Bedrückung durch die Philister vgl. z. B. Richter 10,6-16; 1 Samuel 17) - wie auf die Zuschauerränge eines Amphitheaters gerufen. Die umgebenden Berge Samarias bilden die Tribüne. Die "Fachleute" für Gewalttätigkeit werden als Zeugen herbeigerufen, um sich das gewalttätige Treiben in Samaria anzuschauen und das fällige Rechtsurteil des HERRN zur Kenntnis zu nehmen. Aus wessen Mund die „Einladung“ an die Völker ergehen soll, bleibt offen. Der Funktion nach sind es jedenfalls Herolde. Ein vergleichbares Stilmittel findet sich in Jesaja 40,1, wo sprachlich ebenfalls offen bleibt, durch wen die Tröstung Jerusalems geschehen soll. Gerne eröffnet die Heilige Schrift Vorstellungsräume, die die Lesenden mit ihren eigenen Bildern füllen dürfen.
Mit der Botenspruchformel „So spricht der HERR“ (s. zu dieser Formel die Auslegung von Am 1,3 – 2,16) in Am 3,12 beginnt ein Spruch, der den Viehwirt Amos deutlich heraushören lässt. Er kennt sich im Hirtenrecht bestens aus und wendet es in bitterer Ironie auf den Untergang Samarias an. Seine eigentliche Fortsetzung findet der Spruch in der Unheilsansage Vers 15. Nur sie passt mit ihrer Rede von den zwei-etagigen Luxushäusern mit eigenem kühlen Obergeschoss für den Sommer zur auf Diwanen liegenden Führungsschicht.
Zwischengeschaltet ist in Am 3,13-14 ein offensichtlich auf den Kult in Bet-El abzielendes Unheilswort. Die Altarhörner als Zufluchtsstätte für Menschen, die sich ohne triftigen Grund der Verfolgung durch Bluträcher ausgesetzt sahen, werden abgehauen werden. Der Tempel, ja, Gott selbst, wird keine Rettung mehr bereit halten.
Das drastischste Wort, erneut mit einem Hör-Aufruf eingeleitet (s. den Überblick zu 3,1-2), stellt wohl Am 4,1-3 dar. Wiederum spricht nicht nur der Prophet Amos, sondern auch der Viehwirt. Unter Anspielung auf das beste Rassevieh weit und breit, nämlich das Vieh von den fetten Weiden Baschans im Norden (Richtung Hermongebirge), wird die weibliche Oberschichte gnadenlos in ihrer Rücksichtlosigkeit vorgeführt und mit einem Urteilsspruch versehen.