Wo findet der Mensch Weisheit? Gott selbst musste sie erst suchen und hat sie mit den Menschen geteilt.
1. Verortung im Buch
Das Buch Baruch ist schriftgelehrt und nicht originell. Es ist ein gebündelter Blick auf die im Kanon des Alten Testaments versammelten Traditionen, der dem exilierten Gottesvolk die Heilswende verheißt. Das Buch besteht nach einer kurzen erzählerischen Einleitung aus einem zu sprechenden Bußgebet (Baruch 1,15-3,8), einer weisheitlichen Belehrung darüber, dass in der Torah die Weisheit zu finden ist (Baruch 3,9-4,4), und die Ankündigung der unmittelbar bevorstehenden Heilswende (Baruch 4,5-5,9). Es ist möglich das Weisheitsgedicht und die folgende Ermutigung als Antwort auf das Bittgebet zu lesen.
2. Aufbau
Eine prophetische Stimme, die sich zu Israel rechnet („Glücklich sind wir, Israel“, Baruch 4,4) spricht zu Israel („Höre Israel“, Baruch 1,1). Zweimal wird Israel direkt angesprochen (Verse 9 und 24) und so werden die beiden Haupthemen des Weisheitsgedichtes strukturiert: Weisheit ist nicht bei den anderen Völkern zu finden (Baruch 3,9-23); das Verhältnis Gottes zur Weisheit (Baruch 3,24-4,4). Die theologische Hauptaussage beginnt mit dem Bekenntnis „unser Gott“ in Vers 36: die Weisheit findet sich nur im Gesetz Gottes.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 9: Der Text beginnt nicht nur mit einer Aufforderung zur Aufmerksamkeit, sondern erinnert ein grundlegendes Glaubensbekenntnis der Israeliten im Buch Deuteronomium: „Höre, Israel! Der HERR, unser Gott, der HERR ist einzig“ (Deuteronomium 6,4). Im Glauben an den einen Gott, wird der sich in den geoffenbarten Gesetzen Gottes ausdrückende Wille Gottes mit der Weisheit identifiziert – das ist das Thema des gesamten folgenden Textes (vergleiche Sirach 45,5). Die Bedeutung des Folgenden wird rhetorisch dadurch betont, dass Israel sowohl als Gesamtheit als auch jeder Einzelne angesprochen wird.
Verse 10-14: Das „Gebiet der Feinde“ und das „fremde Land“ beschreiben die Exilsituation Israels. Sie wird wie ein Todesurteil gedeutet. Wörtlich heißt es hier: „verunreinigt mit Kadavern“. Der mit dem Untergang Jerusalems verbundene Tod liegt auf dem Volk im Exil und es gilt selbst im Leben schon als tot. Die Antwort, warum Israel in dieser Situation ist, wird in Vers 12 gegeben: „Du hast den Quell der Weisheit verlassen.“ Die folgende Wegmetaphorik deutet bereits die Parallelisierung der Weisheit mit dem Gesetz Gottes an: „Du sollst die Gebote des HERRN, deines Gottes, bewahren, auf seinen Wegen gehen und ihn fürchten“ (Deuteronomium 8,6). Die abschließende Aufforderung nun zu lernen, wo die Weisheit zu finden ist – und somit ein erfülltes Leben zu erlangen -, leitet zur folgenden Darstellung über, wo sie nicht zu finden ist.
Verse 15-23: Die einleitende Frage „Wer hat je ihren Ort gefunden“ wird im Folgenden nicht beantwortet, sondern erst in Vers 32. Zuvor wird klargestellt, dass die Weisheit von Menschen alleine nicht zu finden ist, wie es auch das Buch Ijob sagt: „Die Weisheit aber, wo ist sie zu finden und wo ist der Ort der Einsicht? Kein Mensch kennt die Schicht, in der sie liegt; sie findet sich nicht in der Lebenden Land“ (Ijob 28,12-13). Im griechischen Text sind die Verse 16-18 eine lange Frage. In ihr wird Macht und Reichtum relativiert. Vers 18 ist in der Interpretation umstritten: Das griechische Wort τεκταίνοντες (gesprochen: tektainontes) kann sowohl mit seinem technischen Sinn „schmieden“ übersetzt werden als auch im übertragenen Sinne („die auf Silber aus sind“). Verse 19-21 verdeutlichen durch die Generationen hindurch, dass Macht und Reichtum immer in Vergänglichkeit enden. Wer die Nachkommen Hagars sind (siehe Genesis 25,13-15) ist nur schwer zu entschlüsseln – die Betonung liegt jedoch weniger auf einer bestimmten Gruppe, sondern dass sie weltweit die Weisheit nicht finden konnten. Auf die Unauffindbarkeit der Weisheit durch den Menschen weist auch das Scheitern der Kaufmänner, Erzähler und Forscher.
Verse 24-28: Mit der erneuten Anrede Israels wechselt die Perspektive. Der Verweis auf das „Haus Gottes“ kann zweierlei bedeuten: (1.) der Tempel; (2.) die Schöpfung. Die in Vers 26 genannten Riesen, die „dort“ geboren wurden, verdeutlichen, dass die Welt und damit die Schöpfungsmacht Gottes gemeint ist (siehe Genesis 6,4), wenn der Text von seinem „Haus“ spricht. Die Nennung der Riesen verweist auf die größtmögliche, menschliche Macht, die immer noch Gott untergeordnet ist. Auch diese gerühmten und kampferfahrenen Männer haben die Weisheit nicht gefunden – und zugleich führt der Text einen neuen Gedanken ein: Sie haben sie nicht gefunden, weil Gott sie nicht – wie Israel – auserwählt hat (siehe Vers 37).
Verse 29-38: Die Fragen aus Vers 15 werden aufgenommen und der Leser zur Erkenntnis geführt, dass die Weisheit vor den erschaffenen Wesen verborgen ist. Das bedeutet: Weisheit ist nicht allein durch menschliche Bemühungen oder mit menschlichen Mitteln erreichbar; um sie zu erlangen bedarf es göttlicher Hilfe. Und die Weisheit wird als etwas gedeutet, das unabhängig von Gott besteht. Nur aufgrund Gottes Allwissenheit (wörtlich: „der der das All kennt“), hat er den Weg zur Weisheit gefunden. Nur der Schöpfer der Welt, wie er in den Versen 32-36 in Anspielung auf Genesis 1,1-2,3 gepriesen wird, kann die Weisheit erlangen. Sie ist nur durch ihn für den Menschen zugänglich. Die Aussage, dass Gott seinem Volk die Weisheit verliehen hat und sie inmitten Israel gelebt hat, wird im letzten Abschnitt aufgeschlüsselt.
Verse 1-4: Die Weisheit wird mit den Israel am Berg Sinai offenbarten Gesetzen identifiziert. Durch sie hat Gott seinem Volk als einzigem Zugang zur Weisheit ermöglicht. An diesem Gesetz soll sich das Volk wieder ausrichten. Denen, die scheinbar tot sind (Vers 10), wird Zugang zum Leben verheißen, wenn sie die Gesetze halten und sich somit an der Weisheit ausrichten. So kann sich Israel am Ende seligpreisen, weil der Wille Gottes von ihnen nicht erst erforscht werden muss, sondern ihnen bereits im geoffenbarten Gesetz, dem Zugang zur Weisheit, gegeben ist.