Lesejahr B: 2023/2024

6. Lesung (Bar 3,9-15.32 - 4,4)

9 Höre, Israel, die Gebote des Lebens; merkt auf, um Einsicht zu erlangen!

10 Warum, Israel, warum lebst du im Gebiet der Feinde, wirst alt in einem fremden Land, 11 bist unrein geworden, den Toten gleich, wurdest gezählt zu denen, die in die Unterwelt hinabsteigen? 12 Du hast den Quell der Weisheit verlassen. 13 Wärest du auf Gottes Weg gegangen, du wohntest in Frieden für immer. 14 Nun lerne, wo die Einsicht ist, wo Kraft und wo Klugheit, dann erkennst du zugleich, wo langes Leben und Lebensglück, wo Licht für die Augen und Frieden zu finden sind!

15 Wer hat je ihren Ort gefunden? Wer ist zu ihren Schatzkammern vorgedrungen? 16 [Wo sind die Gebieter der Völker? Sie herrschten sogar über die Tiere der Erde 17 und spielten mit den Vögeln des Himmels; sie häuften Silber und Gold, worauf die Menschen vertrauen,/ und ihr Besitz hatte keine Grenzen. 18 Wo sind sie, die das Silber so kunstvoll schmiedeten, dass ihre Werke unbegreiflich sind? 19 Verschwunden sind sie, hinabgestiegen zur Unterwelt; andere traten an ihre Stelle. 20 Andere erblickten nach ihnen das Licht und wohnten auf der Erde; doch auch sie haben den Weg der Erkenntnis nicht erkannt, 21 ihre Pfade nicht verstanden und ihre Spur nicht aufgenommen. Auch ihre Nachkommen blieben ihrem Weg fern. 22 Nicht hörte man sie in Kanaan, nicht erschien sie in Teman. 23 Auch die Nachkommen der Hagar, die überall auf der Erde nach Einsicht suchen, die Kaufleute von Merran und Teman, die Geschichtenerzähler und die Forscher nach Einsicht, auch sie haben den Weg der Weisheit nicht erkannt und ihre Pfade nicht entdeckt.

24 Israel, wie groß ist das Haus Gottes, wie weit das Gebiet seiner Herrschaft!

25 Unendlich groß und unermesslich hoch. 26 Dort wurden die Riesen geboren, die berühmten Männer der Urzeit, hoch an Wuchs und Meister im Kampf. 27 Und doch hat Gott nicht diese erwählt, nicht ihnen den Weg der Erkenntnis gezeigt. 28 Sie gingen zugrunde, weil sie ohne Einsicht waren; ihrer Torheit wegen gingen sie unter.

29 Wer stieg zum Himmel hinauf, holte die Weisheit und brachte sie aus den Wolken herab? 30 Wer fuhr über das Meer und entdeckte sie und brachte sie her gegen lauteres Gold? 31 Keiner weiß ihren Weg, niemand kennt ihren Pfad.]

32 Doch der Allwissende kennt sie; er hat sie in seiner Einsicht entdeckt. Er hat ja die Erde für immer gegründet, er hat sie mit vierfüßigen Tieren bevölkert. 33 Er entsendet das Licht und es eilt dahin; er ruft es zurück und zitternd gehorcht es ihm. 34 Froh leuchten die Sterne auf ihren Posten. 35 Ruft er sie, so antworten sie: Hier sind wir. Sie leuchten mit Freude für ihren Schöpfer.

36 Das ist unser Gott; kein anderer gilt neben ihm.

37 Er hat den Weg der Erkenntnis ganz erkundet und hat sie Jakob, seinem Diener, verliehen, Israel, seinem Liebling. 38 Dann erschien sie auf der Erde und lebte mit den Menschen. 1 Sie ist das Buch der Gebote Gottes, das Gesetz, das ewig besteht. Alle, die an ihr festhalten, finden das Leben; doch alle, die sie verlassen, verfallen dem Tod.

2 Kehr um, Jakob, ergreif sie! Geh in ihrem Glanz den Weg zum Licht! 3 Überlass deinen Ruhm keinem andern und deinen Vorzug keinem fremden Volk! 4 Glücklich sind wir, das Volk Israel; denn wir wissen, was Gott gefällt.

Überblick

Wo findet der Mensch Weisheit? Gott selbst musste sie erst suchen und hat sie mit den Menschen geteilt.


1. Verortung im Buch

Das Buch Baruch ist schriftgelehrt und nicht originell. Es ist ein gebündelter Blick auf die im Kanon des Alten Testaments versammelten Traditionen, der dem exilierten Gottesvolk die Heilswende verheißt. Das Buch besteht nach einer kurzen erzählerischen Einleitung aus einem zu sprechenden Bußgebet (Baruch 1,15-3,8), einer weisheitlichen Belehrung darüber, dass in der Torah die Weisheit zu finden ist (Baruch 3,9-4,4), und die Ankündigung der unmittelbar bevorstehenden Heilswende (Baruch 4,5-5,9). Es ist möglich das Weisheitsgedicht und die folgende Ermutigung als Antwort auf das Bittgebet zu lesen.

 

2. Aufbau

Eine prophetische Stimme, die sich zu Israel rechnet („Glücklich sind wir, Israel“, Baruch 4,4) spricht zu Israel („Höre Israel“, Baruch 1,1). Zweimal wird Israel direkt angesprochen (Verse 9 und 24) und so werden die beiden Haupthemen des Weisheitsgedichtes strukturiert: Weisheit ist nicht bei den anderen Völkern zu finden (Baruch 3,9-23); das Verhältnis Gottes zur Weisheit (Baruch 3,24-4,4). Die theologische Hauptaussage beginnt mit dem Bekenntnis „unser Gott“ in Vers 36: die Weisheit findet sich nur im Gesetz Gottes.

 

3. Erklärung einzelner Verse

Vers 9: Der Text beginnt nicht nur mit einer Aufforderung zur Aufmerksamkeit, sondern erinnert ein grundlegendes Glaubensbekenntnis der Israeliten im Buch Deuteronomium: „Höre, Israel! Der HERR, unser Gott, der HERR ist einzig“ (Deuteronomium 6,4). Im Glauben an den einen Gott, wird der sich in den geoffenbarten Gesetzen Gottes ausdrückende Wille Gottes mit der Weisheit identifiziert – das ist das Thema des gesamten folgenden Textes (vergleiche Sirach 45,5). Die Bedeutung des Folgenden wird rhetorisch dadurch betont, dass Israel sowohl als Gesamtheit als auch jeder Einzelne angesprochen wird.

Verse 10-14: Das „Gebiet der Feinde“ und das „fremde Land“ beschreiben die Exilsituation Israels. Sie wird wie ein Todesurteil gedeutet. Wörtlich heißt es hier: „verunreinigt mit Kadavern“. Der mit dem Untergang Jerusalems verbundene Tod liegt auf dem Volk im Exil und es gilt selbst im Leben schon als tot. Die Antwort, warum Israel in dieser Situation ist, wird in Vers 12 gegeben: „Du hast den Quell der Weisheit verlassen.“ Die folgende Wegmetaphorik deutet bereits die Parallelisierung der Weisheit mit dem Gesetz Gottes an: „Du sollst die Gebote des HERRN, deines Gottes, bewahren, auf seinen Wegen gehen und ihn fürchten“ (Deuteronomium 8,6). Die abschließende Aufforderung nun zu lernen, wo die Weisheit zu finden ist – und somit ein erfülltes Leben zu erlangen -, leitet zur folgenden Darstellung über, wo sie nicht zu finden ist.

Verse 15-23:  Die einleitende Frage „Wer hat je ihren Ort gefunden“ wird im Folgenden nicht beantwortet, sondern erst in Vers 32. Zuvor wird klargestellt, dass die Weisheit von Menschen alleine nicht zu finden ist, wie es auch das Buch Ijob sagt: „Die Weisheit aber, wo ist sie zu finden und wo ist der Ort der Einsicht? Kein Mensch kennt die Schicht, in der sie liegt; sie findet sich nicht in der Lebenden Land“ (Ijob 28,12-13). Im griechischen Text sind die Verse 16-18 eine lange Frage. In ihr wird Macht und Reichtum relativiert. Vers 18 ist in der Interpretation umstritten: Das griechische Wort τεκταίνοντες (gesprochen: tektainontes) kann sowohl mit seinem technischen Sinn „schmieden“ übersetzt werden als auch im übertragenen Sinne („die auf Silber aus sind“). Verse 19-21 verdeutlichen durch die Generationen hindurch, dass Macht und Reichtum immer in Vergänglichkeit enden. Wer die Nachkommen Hagars sind (siehe Genesis 25,13-15) ist nur schwer zu entschlüsseln – die Betonung liegt jedoch weniger auf einer bestimmten Gruppe, sondern dass sie weltweit die Weisheit nicht finden konnten. Auf die Unauffindbarkeit der Weisheit durch den Menschen weist auch das Scheitern der Kaufmänner, Erzähler und Forscher.

Verse 24-28: Mit der erneuten Anrede Israels wechselt die Perspektive. Der Verweis auf das „Haus Gottes“ kann zweierlei bedeuten: (1.) der Tempel; (2.) die Schöpfung. Die in Vers 26 genannten Riesen, die „dort“ geboren wurden, verdeutlichen, dass die Welt und damit die Schöpfungsmacht Gottes gemeint ist (siehe Genesis 6,4), wenn der Text von seinem „Haus“ spricht. Die Nennung der Riesen verweist auf die größtmögliche, menschliche Macht, die immer noch Gott untergeordnet ist. Auch diese gerühmten und kampferfahrenen Männer haben die Weisheit nicht gefunden – und zugleich führt der Text einen neuen Gedanken ein: Sie haben sie nicht gefunden, weil Gott sie nicht – wie Israel – auserwählt hat (siehe Vers 37).

Verse 29-38: Die Fragen aus Vers 15 werden aufgenommen und der Leser zur Erkenntnis geführt, dass die Weisheit vor den erschaffenen Wesen verborgen ist. Das bedeutet: Weisheit ist nicht allein durch menschliche Bemühungen oder mit menschlichen Mitteln erreichbar; um sie zu erlangen bedarf es göttlicher Hilfe. Und die Weisheit wird als etwas gedeutet, das unabhängig von Gott besteht. Nur aufgrund Gottes Allwissenheit (wörtlich: „der der das All kennt“), hat er den Weg zur Weisheit gefunden. Nur der Schöpfer der Welt, wie er in den Versen 32-36 in Anspielung auf Genesis 1,1-2,3 gepriesen wird, kann die Weisheit erlangen. Sie ist nur durch ihn für den Menschen zugänglich. Die Aussage, dass Gott seinem Volk die Weisheit verliehen hat und sie inmitten Israel gelebt hat, wird im letzten Abschnitt aufgeschlüsselt.

Verse 1-4: Die Weisheit wird mit den Israel am Berg Sinai offenbarten Gesetzen identifiziert. Durch sie hat Gott seinem Volk als einzigem Zugang zur Weisheit ermöglicht. An diesem Gesetz soll sich das Volk wieder ausrichten. Denen, die scheinbar tot sind (Vers 10), wird Zugang zum Leben verheißen, wenn sie die Gesetze halten und sich somit an der Weisheit ausrichten. So kann sich Israel am Ende seligpreisen, weil der Wille Gottes von ihnen nicht erst erforscht werden muss, sondern ihnen bereits im geoffenbarten Gesetz, dem Zugang zur Weisheit, gegeben ist.

Auslegung

Der Begriff „Weisheit“ ist sehr abstrakt – aber das sich dahinter verbergende Verlangen ist zutiefst menschlich: Die Suche nach Weisheit ist der Wunsch, die Ordnung der Welt zu verstehen und sich so in der Welt geborgen zu wissen. Gemeinhin wird Weisheit mit langen Lebenswegen und einem hohen Lebensalter in Verbindung gebracht. Das Buch Baruch hingegen hat eine radikal andere Botschaft: Die Weisheit ist Israel schon längst in die Hände gelegt; das Volk muss sie nur noch ergreifen, beziehungsweise ihr folgen. Ein zweiter radikaler Gedanke geht damit einher: Gott selbst ist ein Weisheitssuchender – aber er ist der einzige, der es auch vermag sie zu finden. Der Schöpfer der Welt, der die Ordnung von Allen grundgelegt hat, teilt die Weisheit nicht mit der Welt, sondern nur mit seinem auserwählten Volk: Das am Berg Sinai geoffenbarte Gesetz wird mit der Weisheit identifiziert. Das bedeute, dass Israel Rechenschaft ablegen muss, wieso sie diesen Weisungen, die die gesamte Welt sucht, nicht gefolgt sind. Und zugleich wird dem Volk durch das Weisheitsgedicht ein neuer Weg aus dem Exil zu einem neuen Leben gewiesen: Die alttestamentlichen Gesetze sind der Ort, „wo die Einsicht ist, wo Kraft und wo Klugheit, dann erkennst du zugleich, wo langes Leben und Lebensglück, wo Licht für die Augen und Frieden zu finden sind“ (Vers 14).

Kunst etc.

Anders als im Buch der Sprichwörter wird im Buch Baruch die Weisheit nicht personifiziert als werbende „Frau Weisheit“ porträtiert. Häufig wurde die Weisheit in der Kunstgeschichte als eine attraktive Frau dargestellt. Auch in der Bibliothek des US-amerikanisches Kongresses hängt ein Gemälde einer Frau, die die Weisheit bzw. das Wissen verkörpert. Unter diesem Bild steht die Unterschrift:

IGNORANCE IS THE CVRSE OF GOD

KNOWLEDGE IS THE WING

WHEREWITH WE FLY TO HEAVEN.

Diese Unterschrift fasst die Aussage von Baruch 3,9-4,4 präzise zusammen: Das Wissen darum, dass die Gesetze Gottes die Weisheit ist, die alle Welt sucht, führt dazu, es zu befolgen und so wieder zur Gemeinschaft mit Gott zu finden.

“Knowledge” Robert Lewis Reid, Library of Congress, Prints & Photographs Division, LC-DIG-highsm-02214 – Lizenz: gemeinfrei.
“Knowledge” Robert Lewis Reid, Library of Congress, Prints & Photographs Division, LC-DIG-highsm-02214 – Lizenz: gemeinfrei.