Einordnung und Aufbau der Lesung
Die Vierte und Fünfte Osternachtlesung stammen aus zwei aufeinander folgenden Kapiteln desselben Prophetenbuches, nämlich des Buches Jesaja. Dabei dürfte Kapitel 55 aus noch etwas späterer Zeit stammen als Kapitel 54: Der Wiederaufbau Jerusalems ist vermutlich schon erfolgt oder hat zumindest begonnen. Die Perspektive ist jetzt also nicht mehr der Wandel vom Tod ins Leben durch die Rückkehr nach Jerusalem und den Wiederaufbau (wie in der Vierten Lesung aus Jes 54), sondern der Wandel vom Tod ins Leben durch innere Umkehr der Menschen.
Im Groben entwirft der Prophet dabei einen Dreischritt: Verse 1-5 benennen den Maßstab und den Ausgangsimpuls für die Umkehr, Verse 6-9 sind die Einladung zur Umkehr selbst und nennen deren göttliche Voraussetzung, Verse 10-11 führen zurück zum ersten Thema, um das es in den Versen 1-5 geht.
Verse 1-5: "Kauft umsonst!"
Zeiten des Wiederaufbaus sind eher dürftige und oft auch an Nahrungsmitteln knappe Zeiten. So war es wohl auch in Jerusalem nach dem Ende der babylonischen Gefangenschaft und Unterdrückung (538 v. Chr.). Da kann man sich die Wirkung eines Wortes wie Jes 55,1-2 gar nicht elektrisierend genug vorstellen: Gott steht wie ein Marktschreier da und bietet das so kostbare Gut des Trinkwassers sowie Brot zu essen gratis an. Unvorstellbar! Lebens-Mittel, die nichts kosten. Vers 3 löst das rätselhafte Bild auf: Die Rede war nicht wörtlich, sondern tiefsinniger gemeint: Es geht um das "Wort Gottes".Die starke Bildsprache ist zweischneidig: In ihr steckt ein stärkender,tröstender, frohmachender Zuspruch: "Ich, Gott, stelle mein Gespräch mit dir, Jerusalem, nicht ein. Ich wende dich mir redend zu und du darst davon ausgehen: In meinem Wort steckt Lebenskraft - dieselbe Kraft, die schon in meinem Wort bei der Schöpfung wirkte: 'Es werde ... und es wurde' (vgl. Genesis 1,3)." Auf der anderen Seite bedeutet die starke Bildrede aber auch: Gott muss offensichtlich zu sehr starken sprachlichen Mitteln greifen, um sich überhaupt Gehör zu verschaffen. Die Menschen sind derart mit sich selbst und den Problemen des Wiederaufbaus beschäftigt, dass sie für Gott gar kein Ohr haben.
Verse 3-5: Das Volk als der neue David
Dabei hat Gott Großes vor mit seinem Volk vor. Den Bund, den er einst laut Tradition mit dem großen und berühmten König David geschlossen hat (vgl. Psalm 89,4 "Ich habe einen Bund geschlossen mit meinem Erwählten und David, meinem Knecht, geschworen: 5 Auf ewig gebe ich deinem Haus festen Bestand und von Geschlecht zu Geschlecht gründe ich deinen Thron.") - diesen Bund will Gott jetzt mit dem königslosen Volk erneuern. Das Volk als ganzes übernimmt sozusagen die Rolle des Königs, wird Gottes bevorzugter Partner und Aushängeschild vor den anderen Völkern
Verse 6-9: Gottes und des Menschen Wege
Angesichts so großer Zusagen Gottes laden die Verse 6-9 Israel dazu ein, im Alltagsverhalten seinem Gott zu entsprechen: Die Brücke zum ersten Lesungsteil läuft indirekt über die Aufforderung, Gott zu suchen (Vers 6). Sie greift vermutlich ein altes Prophetenwort auf, das lautet: "Sucht mich, dann werdet ihr leben! " (Am 5,4). Gottes Wort zu hören (Verse 1-3) oden HERRN zu suchen sind nur zwei Umschreibungen derselben Bewegung und Ausrichtung, die immer zum selben Ziel führt: zum Leben, zu größerer Lebendigkeit, zu der man auch bei anderen Menschen verhelfen will.
Dass dieses hehre Ziel nicht immer das Ziel eines Menschen ist, der schnell mehr an der eigenen Lebendigkeit als an der Lebendigkeit eines anderen interssiert ist, damit dürfte der Prophet nicht ganz falsch liegen. Gottes und des Menschen Wege sind nicht einfach deckungsgleich. In diesem Zusammenhang spricht Gott durch den Propheten von seiner unerschöpflichen Bereitschaft, immer wieder neue Versuche zu ermöglichen, wo der Mensch hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt. "Reiche Vergebung" ist das entscheidende Stichwort (Vers 7), das in der Osternacht als weitere österliche Lebenquelle von Gott her aufleuchtet.
Verse 10-11 "Wort des lebendigen Gottes"
Die letzten beiden Verse kehren zum Anfangsthema "Wort Gottes" zurück. Die Botschaft ist ebenso stark wie sie wirklichen Glauben herausfordert. Gottes Wort ist nicht "Bla-bla", sondern eine wirksame Kraft. In ihm steckt eine Dynamik, die etwas zu bewegen vermag. Das Wort schafft Lebendigkeit, weil ein wirksamer Gott dahinter steht: "Wort des lebendigen Gottes". Er steht auch hinter der Osterbotschaft. In der Osternacht-Liturgie erklingt dieser Ausruf, wenn alle sieben alttestamentliche Lesungen und die neutestamentliche Lesung tatsächlich vorgelesen werden, insgesamt achtmal!