Diese Lesung steht unter emotionaler Hochspannung: Der Gefühlslage äußerster Verlassenheit und Verlorenheit wird die Zeit zärtlichster Zuwendung und furchtloser Geborgenheit gegenübergestellt. Es ist so, wie die Osternacht auf den Karfreitag und den Karsamstag antwortet. Nur dass die Szene Jahrhunderte vor Tod und Auferstehung Jesu spielt: Es geht um Jerusalem im 6. Jh. v. Chr.
Einordnung des Textes in seine Zeit
Zwischen der dritten und der vierten alttestamentlichen Lesung in der Osternacht, also zwischen der Lesung aus dem Buch Exodus und der jetzigen Lesung aus dem Propheten Jesaja, ist vor dem inneren Auge zeitllich ein riesiger Sprung zu vollziehen. Auf den Auszug aus der Gefangenschaft Ägyptens , der auf jeden Fall in eine Zeit deutlich vor 1000 v. Chr. verweist, folgt nun eine Lesung, die ins 6. Jh. v. Chr. verweist.
587/586 v. Chr. wurde Jerusalem von den Babyloniern (heute Irak) zerstört und die Oberschicht wurde deportiert. Durch die Machtübernahme der Perser ab 539 v. Chr. änderten sich die Voraussetzungen und die in Jerusalem Zurückgebliebenen wie die nach Babylon Verschleppten durften auf einen Wiederaufbau Jerusalems samt neuem Tempel hoffen.
Die Worte aus dem Buch Jesaja sprechen in die Zeit zwischen Untergang und Rettung hinein. In emotional aufwühlender Sprache wird die Katastrophe der Zerstörung Jerusalems ebenso zur Sprache gebracht wie eine heilvolle Zukunft in Aussicht gestellt. Der Garant dieses Wechsels ist Gott selbst, der nach einer Zeit des Verlassens sich seinem Volk wieder zuwendet.
Der Aufbau der Lesung
Im Groben hat der Text zwei Teile: Verse 5-10 und Verse 11-14. Die erste Hälfte spricht Jerusalem als Person, näherhin als Frau an, der zweite Teil verwendet zumeist Bilder aus dem Erscheinungsbild einer Stadt. Nur Vers 13 knüpft mit der Rede von den "Kindern" noch einmal an den ersten Teil an. Gemeint sind die Bewohner Jerusalems und aus dessen Umgebung, die Jerusalem als ihre "Mutter" betrachten.
Verse 5-10: Die verstoßene und wieder angenommene "Ehefrau" Jerusalem
Die erste Hälfte des großen Trostliedes an Jerusalem besteht aus drei Strophen, die alle mit der Formel "spricht dein [Gott dein Erlöser/der HERR]" enden, also jedem Einzeltext höchste Bedeutsamkeit und Gültigkeit zusprechen: Immer spricht Gott selbst. Der ungenannte Prophet ist nur Sprachrohr und verschwindet hinter seiner Botschaft.
Verse 5-6: Da Städte im Alten Orient grundsätzlich weiblich sind (wegen ihrer weiblichen Schutzgottheiten), ist die Betrachtung Jerusalems als "Frau" für die damalige Zeit keine Überraschung. Wichtiger: Das Verhältnis zwischen Jerusalem und Gott wird einer Ehe verglichen. Gott sieht sich an seine Ehefrau gebunden. Das Bild zeigt, mit welcher Liebe Gott an Jerusalem hängt. Ohne ihn wäre aber die Stadt auch nie geworden, was sie vor der Zerstörung war: Aus einem eher unbedeutenden kanaanäischen Festungshügel ("Zion") war die prachtvolle Hauptstadt des Reiches Juda geworden mit Tempel und Königspalast. Jetzt, da die Stadt ein Ruinenhügel ist, ergreift Gott erneut die Initiative. Er erweist sich als "Erlöser". Das hebräische Wort wird sonst für den Freikauf von Sklaven gebraucht, die damit ihren urspürünglichen Rechtsstatus als freie Bürger erhalten. Jerusalem wird also aus der "Sklaverei" Babylons befreit werden und in den Stand der rechtmäßigen Ehefrau wieder eingesetzt.
Verse 7-8: Diesen Stand hatte Jerusalem verloren, weil es durch soziale Verbrechen unterschiedlichster Art und Fremdgötterei seinen "Ehemann" Gott betrogen und verlassen hatte. Als Strafe hatte Gott Jerusalem seinem Schicksal (Eroberung durch Babylon) überlassen. Aber dies war nur ein vorübergehender Zornesausbruch. Gott hat Mitleid mit der "verlassenen, bekümmerten Frau".
Verse 9-10: Dass ein endgültiges Aus nicht im Sinne Gottes ist - und zwar nie -, wird mit der Erinnerung an die Sintflutgeschichte und Noach bekräftigt. Diese Erzählung von der Überflutung der ganzen Erde (vgl. Genesis 6-8), bei der nur Noach, seine Familie und die Tiere auf der Arche überleben und gerettet werden, endet mit der Zusage: Gott wird die Erde nie mehr vernichten, auch wenn es immer wieder unheilvolle Gedanken und daraus erwachsende Taten bei den Menschen geben wird (vgl. Gen 8,21-22)1. Dabei geht es nicht um die Frage, ob es eine solche Sintflut je gab. Vielmehr geht es um den tiefen Glauben, dass Gott seine Schöpfung nicht wirklich untergehen lässt. Er könnte, wenn er wollte - aber er will nicht. Daran erinnert der Prophet in der Vierten Lesung der Osternacht (vgl. auch Kunst etc.).
Verse 11-14: Die sturmgepeitschte und kostbar wieder errichtete Stadt
Das Bild von der "verlassenen, bekümmerten Frau" wandelt sich jetzt in das der "sturmgepeitschten Stadt". Vom Tornado mitgerissene Hauswände hinterlassen in der Tat das Gefühl der "Trostlosigkeit". Dieser traurigen Szenerie wird ein überwältigendes Bild des Neuanfangs gegenübergestellt. Die Übersteigerung ins Phantastische, "Swarowsky-hafte", soll Mut machen. Aber es geht im Letzten nicht um die Erneuerung des Mauerwerks, sondern die Erneuerung der Menschen: Die Einwohner Jerusalems werden "Gottesschüler/innen" werden - solche, die verinnerlichen, was Gott eigentlich will.
Dazu bietet der letzte Vers ein wichtiges Stiochwort: "Gerechtigkeit". In diesem Begriff sind zwei Dimensionen enthalten: Treue und Zuverlässigkeit auf der einen Seite, Gemeinschaftssinn bzw. sich verantwortlich wissen für das Wohl des Anderen auf der anderen Seite. Von Gott her darf der Mensch solche Gerechtigkeit erwarten. Für die Menschen ist diese Gerechtigkeit beständige Aufgabe, an der letztlich der Bestand Jerusalems - auch im Sinne jeglichen Ortes menschlichen Zusammenlebens - hängt.