Wer in den letzten Wochen die Sonntagslesungen aus dem Römerbrief verfolgt hat, erlebt einen gänzlich anderen Paulus als noch am vorigen Sonntag. Aus dem Ton triumphaler Gewissheit, dass angesichts der in Aussicht stehenden Auferweckungsherrlichkeit alles Leiden um Christi Willen eher ein unbedeutendes Vorspiel, zumindest aber kein endgültiges Hindernis auf dem Weg zu Gottes Herrlichkeit ist, wird nun eher ein Ton der Trauer und der Verzweiflung angeschlagen. Hier liegt kein rhetorischer Trick vor, der einfach nur mit Gefühlen spielt. Vielmehr zeigt sich in den Kapiteln 9 - 11 die Kehrseite der Glaubens- und Hoffnungsgewissheit des Paulus: Wenn alles so ist, wie er es glaubt, wie Gott es ihn in persönlicher Offenbarung hat schauen und erkennen lassen; wenn also alles Heil in Kreuz und Auferweckung Jesu beschlossen ist und darin derselbe Gott am Werke ist, der sich als Allererstes dem Gottesvolk Israel offenbart hat, zu dem sich auch Paulus nach wie vor selbst als Jude zählt - was ist dann mit all den jüdischen Glaubensgeschwistern, die im Ergehen Jesu kein Heilswirken Gottes erkennen können? Was ist mit all den jüdischen Glaubensgeschwistern, die daran festhalten, dass "ein am Pfahl (= Kreuz) Gehenkter ein von Gott Verfluchter" ist (vgl. Deuteronomium/5. Buch Mose 21,23) und eben kein Erlöser sein kann und ist?
Einodnung in den Zusammenhang
Mit Kapitel 9 beginnt eine neue Einheit im Römerbrief, die nach Gottes Heilsplan für die jüdischen Geschwister des Paulus fragt, die den Weg des Christusglaubens nicht mitgehen können oder wollen. Hatte sich Paulus in den ersten drei Kapiteln des Römerbriefs besonders für die Heiden stark gemacht (Römer 3,29: "Oder ist Gott nur der Gott der Juden, nicht auch der Heiden? Ja, auch der Heiden, ..."), wendet er sich ab Kapitel 9 also besonders den jüdischen Geschwistern zu.
Die gesamte Thematik ist bereits vorbereitet durch das Proömium, also den inhaltlichen Vorspann des Römerbriefs (Römer 1,8-17). Dort hat Paulus nämlich eine Grundsatzthese zum "Evangelium" aufgestellt, für dessen Verkündigung er steht und für das er sich "nicht Schämt" (Römer 1,16a):
"Es ist eine Kraft Gottes zur Rettung für jeden, der glaubt, zuerst für den Juden, aber ebenso für den Griechen" (Römer 1,16b).
Paulus sieht also im Evangelium von Jesus Christus eine Heilsbotschaft für Juden wie Nichtjuden (hier genannt: "Griechen", an anderen Stellen: "Heiden") gleichermaßen. Das Problem, was damit entsteht: Das Evangelium findet Annahme bei denen, die mit dem Gott Israels vorher nichts zu tun hatten. Sie sind aber eindeutig die "Zweitempfänger" des "Evangeliums Gottes" (Römer 1,1), denn als erstes hat Gott sich dem Volk Israel zugewandt und mit ihm einen Bund geschlossen. Genau dieses Volk aber lehnt zum größeren Teil das "Evangelium von seinem Sohn" (Römer 1,3) ab.
Rücken sie damit für Paulus als einem Evangelisten ohne das jüdische Gesetz, d. h. ohne Beschneidungsverpflichtung und ohne Reinheitsvorschriften, ins zweite Glied? Hierin könnte der Verdacht besonders der aus dem Judentum stammenden Christen der römischen Gemeinde liegen, auf den Paulus reagieren muss, und zwar aus theologischen Gründen wie auch aus "praktischen" Gründen: Er möchte ja in Rom während seiner nächsten Missionsreise Richtung Spanien Zwischenstation machen!
Verse 1-2
Der Einstieg ist zutiefst emotional und zugleich - das machen der Hinweis auf "Christus" selbst, auf den "Heiligen Geist" und auf das "Gewissen" deutlich - von einer tiefen Wahrheit erfüllt. Im Grunde stellen sich die "Trauer" und der "Schmerz"1 als die andere Seite der euphorischen Hoffnungsgewissheit aus Kapitel 8 dar. Wenn alle dem Leben seine Perspektive gebende "Herrlichkeit" an Christus hängt, dann muss es Paulus mit Schmerz erfüllen, wenn jemand diesen Zugang zur "Herrlichkeit" ablehnt.
Dies gilt umso mehr, als das jüdische Volk eben nicht nur irgend-"jemand" ist!
Vers 3
Zunächst einmal sind es seine "Brüder". Wie bereits im Buch Deuteronomium, für das die Rede vom "Bruder" innerhalb der 5 Bücher besonders typisch ist, hat der Begriff eine weite, das heißt Frauen einschließende Beudeutung. Diese "Geschwisterschaft" bezieht sich zum einen auf die physische Abstammung (vgl. Römer 11,1: "Ich frage also: Hat Gott sein Volk verstoßen? Keineswegs! Denn auch ich bin ein Israelit, ein Nachkomme Abrahams, aus dem Stamm Benjamin." und früher bereits in Philipper 3,5. "Ich wurde am achten Tag beschnitten, bin aus Israels Geschlecht, vom Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern, nach dem Gesetz ein Pharisäer;"). Sie ist aber ebenso religiös begründet: Denn alle zum Volk Israel Gehörenden verdanken sich der Erwählung ein und desselben Gottes, das dieses Volk zu seinem "besonderen Eigentum" auserkoren hat (vgl. Exodus/2. Buch Mose 19,5-6). Als "Gottesvolk" sind sie Gottes "Verwandtschaft" (diese Bedeutung steckt im hebräischen Wort für "Volk": ʻamm) und als solche eben "Brüder/Geschwister".
Dass zwischen Paulus und sie aufgrund des Christusbekenntnisses ein Riss geht, tut ihm derart weh, dass er sogar bereit wäre, aus dem in Christus beschlossenen Heil selbst ausgeschlossen zu sein, wenn nur ihnen allen Gottes Heil gälte. Paulus wirft sein Leben in die Wagschale zugunsten seiner Geschwister, wie einst Mose es in der Wüste angesichts des goldenen Kalbes tat: "31 Mose kehrte zum HERRN zurück und sagte: Ach, dieses Volk hat eine große Sünde begangen. Götter aus Gold haben sie sich gemacht. 32 Jetzt nimm ihre Sünde von ihnen! Wenn nicht, dann streich mich aus dem Buch, das du geschrieben hast" (Exodus 32,31-32).
Verse 4-5a
Während Vers 3 als im letzten doch noch eher emotionales Argument abgetan werden könnte (vgl. aber die ergänzende Betrachtung zu Vers 3 und Psalm 73 unter "Auslegung), ruft Paulus in Vers 4 die religiöse Sonderstellung des Judentums, seine theologischen Alleinstellungsmerkmale auf den Plan.
- Er nennt die jüdischen Geschwister bei ihrem Ehren- und Erwählungsnamen "Israeliten", der zurückgeht auf den Stammvater Jakob. Seit seinem eigenartigen Gotteskampf an der Flussfurt des Jabbok trägt er den Namen "Gottesstreiter": ("Er sagte: Nicht mehr Jakob wird man dich nennen, sondern Israel - Gottesstreiter - ; denn mit Gott und Menschen hast du gestritten und gesiegt" (Gen 32,29).
- Ehe von den Christen als "Söhnen [und Töchtern] Gottes" gesprochen werden darf, gilt die Sohnschaft, die Paulus in Galater 4,52 für die Christen insgesamt reklamiert, für Israel. Als Basistext sei aus vielen möglichen Belegen nur Hosea 11,1 angeführt. "Als Israel jung war, gewann ich ihn lieb, ich rief meinen Sohn aus Ägypten."
- Die "Herrlichkeit", die in Kapitel 8 von so großer Bedeutung als Sammelbegriff dessen ist, woraus und worauf hin Christen leben (s. besonders die Ausführungen zur Zweiten Lesung am 15. Sonntag), bezeichnet zunächst einmal die Gegenwart Gottes, welche mit dem Zion verbunden ist (vgl. die Herrlichkeitstheologie des Buches Ezechiel [besonders Ezechiel 43,2-5]; vgl. aber auch z. B. Ps 26,8: "HERR, ich liebe die Stätte deines Hauses und den Wohnort deiner Herrlichkeit.")
- Es ist die Geschichte Israels, die sich durch "Bundesschlüsse" Gottes mit seinem Volk auszeichnet, von Noah, Abraham, Isaak und Jakob über Mose bis zu David. Von einer Kündigung des Bundes durch Gott mit seinem Volk ist nirgends die Rede und Paulus muss schon sehr gewunden argumentieren, wenn er in 2 Korinther 3,14 diesen Bundesgedanken relativieren bzw. für das Verhältnis Gott - Christen stark machen will: "Doch ihr Denken wurde verhärtet. Denn bis zum heutigen Tag liegt die gleiche Hülle auf dem Alten Bund, wenn daraus vorgelesen wird; sie wird nicht aufgedeckt, weil sie in Christus beseitigt wird."
- Der Vorrang von "Verheißungen" und "Gottesdiensten" für das jüdische Volk steht per se außer Frage. Denn Christen können allerhöchstens an Erfüllungen von Verheißungen, die eben an Israel ergangen sind; und die frühen christlichen Gottesdienste orientieren sich an jüdischen Gottesdienstmodellen.
- Das unter 5. Gesagte gilt auch bezüglich der "Väter" [und "Mütter] Israels, auf die Paulus so gerne zurückgreift: Abraham, Isaak, Jakob sowie deren Frauen, von denen Paulus im Galaterbrief besonders Abrahams Frau Sara und seine Nebenfrau Hagar herausgreift (vgl. Gal 4,21-31).
- Das absolut nicht zuüberbietende Argument zugunsten des jüdischen Volkes ist aber, dass Jesus selbst aus diesem Volk stammt.
Vers 5b
Angesichts dieser Vorzüge des Volkes Israels kannPaulus nur eine sogenannte Eulogie, einen Lobpreis auf Gott anschließen, der seine Entsprechung am Ende der gesamten Ausführungen in Römer 11,33-36 findet.
Gerade durch diese lobpreisende Rahmung, die Anfang und Schluss der Gedankenführung miteinander verbindet, wird die unausgesprochene Botschaft des Paulus erkennbar: Wenn Gott sein Volk mit solchen Vorzügen ausgestattet hat, wird er es auch trotz seiner Ablehnung des "Evangeliums von seinem Sohn Jesus Christus" (Römer 1,3) nicht im Stich lassen und aufgeben. Er wird in seiner "Weisheit" (Römer 11,33!) einen Heils-Ausweg für Israel finden.