Wer diese Lesung zum ersten Mal hört oder liest, bei dem kann sich leicht ein "Drehwurm" einstellen: Beständig wirbelt Paulus mit den Begriffen "Fleisch" und "Geist" herum, wobei auch noch mal vom "Geist Gottes", mal vom "Geist Christi" die Rede ist. Mal "wohnt" dieser Geist "in einem", mal "hat" man ihn wie eine äußere Größere. Dann wechselt Paulus auch noch zwischen "Fleisch" und "Leib", wobei der Leib mal "tot", mal aber "Leben" ist. Und schließlich wird am Ende auch noch von "sterblichen Leibern" gesprochen.
Offensichtlich spricht bzw. schreibt mit Paulus einer, dem selbst alle Zusammenhänge klar sind, der aber so erfüllt ist von seiner Botschaft, dass er sie in sehr verdichteter und geradezu übersprudelnder Weise darlegt.
Einordnung in den Zusammenhang
Das 8. Kapitel ist so etwas wie das Zentrum des gesamten Römerbriefs, in dem Paulus der Gemeinde von Rom, die er auf seiner Reise von Jerusalem nach Spanien besuchen will, den Kern seiner Verkündigung vorab präsentiert.
Alle vorangehenden Ausführungen (Kapitel 1 - 7) zusammenfassend, formuliert Paulus als "obersten Merksatz" iin Römer 8,2:
"Denn das Gesetz des Geistes und des Lebens in Christus Jesus hat dich frei gemacht vom Gesetz der Sünde und des Todes."
Hier fallen schon wichtige Begriffe der Lesung zum ersten Mal: "Geist", "Leben", "Tod", "Christus". Die folgenden, der Lesung ebenfalls vorangehenden Verse kreisen um den weiteren wichtigen Begriff "Fleisch", der erstmals in Römer 8,3 begegnet, und zwar in der rätselhaft klingenden Formulierung: "das Gesetz, ohnmächtig durch das Fleisch". Der schwierigen Folgeverse einfach dargestellter Sinn heißt: Das Gesetz - gemeint ist das Gesetz Gottes, das einst Mose und durch ihn dem Volk Israel in der Wüste mitgeteilt wurde - hat aus sich keine Macht, den Menschen dazu zu zwingen, das zu tun, was es will. Die Übertragung ins Heute ist einfach: Auch ein noch so scharfes Strafgesetz kann den verbotenen Mord nicht verhindern. Umgekehrt stellt Paulus fest: Der Mensch hat nicht nur keine Lust darauf, sich am Gesetz zu orientieren, sondern als Mensch - näherhin: als Fleisch - kann er es gar nicht. Das Fleisch ist schwach! Weil aber das Gesetz, um das es Paulus geht, ein göttliches ist - anders als das von Juristen erstellte Strafgesetz Deutschlands oder anderer Länder -, ist der Widerstand gegen das Gesetz eine Feindschaftserklärung gegen Gott. In Vers 7, dem letzten Vers vor der heutigen Lesung, heißt es deshalb:: "Denn das Trachten des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott; es unterwirft sich nämlich nicht dem Gesetz Gottes und kann es auch nicht".
Genau an diesem Punkt setzt die heutige Lesung ein, wobei Vers 8 die Passage Römer 8,1-8 abschließt, während die Verse 9-11 einen neuen Gedankenschritt darstellen.
Vers 8
Vers 8 zieht das Fazit aus dem vorangehenden Vers 7. Beide Verse sind durch dieselbe Grundsatzaussage des Unvermögens miteinander verbunden:
Vers 7: "... das Trachten des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott; es unterwirft sich nämlich nicht dem Gesetz Gottes und kann es auch nicht."
Vers 8: "Wer aber vom Fleisch bestimmt ist, kann Gott nicht gefallen."
Wörtlich steht da: "Die aber im Fleisch sind, können Gott nicht gefallen". "Im Fleisch sein" ist eine Variante zum "Trachten des Fleisches"(Vers 7) wie auch zu "gemäß dem Fleisch unterwegs sein" (vorher in Vers 4). Jede der Formulierungen steht für eine eigene Nuance. [Wegen der engen Verwobenheit von Rmer 8,8-11 mit den Vorgängerversen 8,1-7 ist der vollständige Text unter der Rubrik "Kontext" wiedergegeben.]
Am hilfreichsten ist vielleicht ein Blick auf das "Trachten des Fleisches", auch wenn es in der Lesung selbst nicht vorkommt. In den vorangehenden Versen 5-7 kommt es viermal vor! Das dahinter stehende griechische Wort (phroneĩn) umfasst "denken, urteilen", "den Sinn auf etwas richten" und "jemandes Partei ergreifen". Es geht also um die innere Ausrichtung, die Maßstäbe und die Zugehörigkeit. Es geht um die Kärung der Frage: Wer ist eigentlich der "Herr im Haus", welches der Leib ist: Ist es das Gesetz des Widerspruchs gegen das, was von außen an den Menschen herantritt? Ist es das Gesetz der reinen Selbstbezüglichkeit (es zählt allein das eigene Ich, in welchen Facetten auch immer)? Sind es die "Leidenschaften" und "Begierden", die Paulus ausführlich im vorangehenden Kapitel 7 des Römerbriefs behandelt hat? Das alles wäre in Paulus-Sprache das "Trachten des Fleisches" wie auch das "Unterwegssein nach den Maßstäben des Fleisches".
Die Variante "im Fleisch sein" aus Vers 8 schließt alles Gesagte ein, weist aber darüber hinaus auf die Alternative hin. Sie ist gebildet als Gegenformulierung zu "in Christus Jesus sein", die sowohl Vers 1 als auch der "Merksatz" Vers 2 (s. o.) benennen. Beide Redeweisen wecken die Vorstellung eines Raumes, in dem man sich bewegt. Es gibt - um beim Bild vom "Herrn im Haus" zu bleiben - offensichtlich zwei Herrschaftsbereiche, die sich gegenseitig ausschließen. Wer sich im Herrschaftsbereich des Fleisches aufhält, wird sich weder auf den göttlichen Willen einlassen noch Gott gefallen können. Verführbarkeit durch das Ego (Ich) und Gottferne bleiben sein Teil.
Damit bleibt offen, was denn "in Christus sein" - aslo der Aufenthalt in dem anderen Herrschaftsbereich - bedeutet, worin also die Alternative besteht. Das ist das das Thema des mit Vers 9 beginnenden Absatzes.
Vers 9
Vers 9 wechselt - zur Markierung des Wechsels von einem Herrschaftsbereich zum anderen - nach dem Reden über Andere (Vers 8: "Wer aber vom Fleisch bestimmt ist", was übrigens direkt an den nicht zur Lesung gehörigen Vers 5 anknüpft: "Denn diejenigen, die vom Fleisch bestimmt sind ...") in die direkte Anrede: "Ihr aber ..."
Wer ist mit dem "Ihr" konkret gemeint? Dieses "Rätsel" löst sich, wenn man die häufiger wechselnden Sprechweisen der vorangehenden Passage Römer 8,1-8 verfolgt: Darin geht es zunächst um die, "welche in Christus Jesus sind" (Vers 1); diese werden mit einem allgemeinen "du" direkt angesprochen: "... Christus Jesus hat dich frei gemacht ..." (Vers 2). Dieses "du" wird als eine größere Gruppe identifiziert, zu der auch Paulus sich selber rechnet: "damit die Forderung des Gesetzes durch uns erfüllt werde, die wir nicht nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist leben". Genau von diesem "wir/uns" grenzt Paulus die ab, "die vom Fleisch bestimmt sind" (Verse 5-8). Über sie wird nur in der dritten Person, also als "die Anderen" gesprochen.
Um so deutlicher wendet sich Paulus nun in Vers 9 wieder der bislang "du" bzw. "wir" genannte Gruppe zu: "Ihr aber ...". Dass er nun nicht mehr vom "Wir", spricht, sich selbst also heraushält, liegt an seiner Rolle: Auch wenn er sich mit der Gemeinde solidarisch sieht, ist er als Apostel und Briefschreiber derjenige, der den Gemeindegliedern etwas sagen möchte. Näherhin spricht er ihnen Trost und Stärkung im Glauben zu. Genauer: Er spricht sie auf ihren Status hin an. Dabei meint die Umschreibung der "Geistbestimmtheit" bzw. des "Wohnung-Seins für den Geist" nichts anderes als den Status des Getauftseins. Die Taufe zieht nach Paulus eine Trennlinie zwischen denen, die zu Christus gehören und denjenigen, die nicht zu ihm gehören.
Hier geht es nicht um eine neue Form von Feindschaftserklärung, sondern um eine Identitätsbestimmung der Angesprochenen. Paulus spricht die römischen Christen als diejenigen an, bei denen aufgrund und seit ihrer Taufe Christus "der Herr im Hause" ist. Was der "im Sinn hat", der "Partei für Christus" ergriffen hat (im Ja der Taufe), hat Vers 6 ausdrücklich benannt: "das Trachten des Geistes aber [führt] zu Leben und Frieden". Als Haltungen haben beide ("Leben und Frieden") nicht das eigene Fleisch, sondern vor allem das Wohl der anderen im Blick. Das ist die Alternative. Und so sind diese beiden Begriffe in Vers 9 unbedingt mitzuhören. Und nicht zufällig grüßt Paulus in seinen Briefen immer wieder unter Hinweis auf den "Gott des Friedens" (Römer 15,33; 2 Korinther 13,11; Philipper 4,9; 1 Thessalonicher 5,23).
Verse 10-11
Die letzten beiden Verse bilden insfern eine enge Einheit, weil Vers 10 ohne Vers 11 nicht wirklich zu verstehen ist. Anders gesagt: Vers 11 nennt den inneren Grund für die Aussage von Vers 10.
Gemäß der Tauftheologie des Paulus (Vers 9 spricht die Getauften an) bezeichnet das Untertauchen im Wasser ein "Sterben mit Christus" (Römer 6,4.8). Weil aber der Tod Jesu, d. h. seine Hinrichtung am Kreuz, das "letzte Werk" der Sünde ist, insofern diese Tötung durch die Sündenlosigkeit des hingerichteten Jesus als absurd erwiesen ist und die Sünde in ihrer Wirkung durch die Auferweckung definitv aufgehoben und als nicht mehr wirksam erwiesen ist, deshalb bedeutet die Taufe als "Sterben mit Christus" auch ein Hineingenommenwerden in diese "Erledigung" der Sünde bzw. der Sündenmacht. So ist der Leib - das "Haus des Menschen" (s. o.) - hinsichtlich der Sünde tot. Tatsächlich leben aber auch alle Getauften immer noch in einem Leib, für den gilt, dass er der Schwäche des Fleisches unterliegen kann (s. Vers 7). Die Absage an die Macht der Sünde bzw. die Ohnmacht des Fleisches ist daher das absolut unerschütterliche Setzen auf Gottes Handeln in Jesus Christus. Die Absage geschieht also im Glauben, der - am Ende! - zu einem Leben in unaufhörlicher Gemeinschaft mit Gott und in Vollendung führen wird, vorher aber - hoffentlich! - zu einer heilvollen Lebenspraxis, die bereits von der zu erwartenden Vollendung bestimmt wird (s. die beiden Stichworte "Leben" und "Frieden"). Diesen Glauben nennt Paulus "Gerechtigkeit". Sie meint eine "Richtigkeit", die sich nicht aus der inneren Überzeugung von sich selbst ableitet, sondern aus der Überzeugung, dass Gott gerecht und richtig handelt und so für jede und jeden wirkliches Leben ermöglicht. So zu leben wäre Geist-bestimmtes Leben.
Und wie soll dieses möglich sein angesichts der Schwäche des Fleisches? Weil die Taufe, indem sie an Sterben und Auferweckung Jesu Anteil gibt, zugleich auch Geistmitteilung ist. Der Geist ist nicht nur das Prinzip einer erneuerten und heilvollen Lebenspraxis, , sondern auch die Kraft, die am Ende unsere sterblichen Leiber lebendig machen wird, also Auferweckung von den Toten ermöglicht. Sie ist aber eben auch schon vorher in den Lebenden wirksam. Paulus traut dem Geist Gottes eine ungeheure Dynamik zu, die wirkt (s. dazu auch unter der Rubrik "Kunst").
Den dahinter stehenden Glauben hat er in Römer 4,17 formuliert, in dem zweitkürzesten Credo des Neuen Testaments (nach Thomas' "Mein Herr und mein Gott" in Johannes 20,28). Dort bekennt sich Paulus zu dem Gott, "der die Toten lebendig macht und das, was nicht ist, ins Dasein ruft" (Römer 4,17).
So wirkt Gott in der Taufe mit derselben, schon bei der Schöpfung wirksamen Kraft ("Geist"), mit der er Christus von den Toten erweckt hat. Und es ist diese selbe Kraft, die in jedem wirkt, der sich auf das Geheimnis von Tod und Auferweckung einlässt.