Aus der am vorigen Sonntag vorgestellten Gesamtpassage Römer 8,18-30 mit folgendem Aufbau
Vers 18: Ausgangsthese von der Bedeutungslosig des gegenwärtigen Leids gegenüber der zu erwartenden Herrlichkeit
Verse 19-22: Erläuterung auf die außermenschliche Kreatur hin
Verse 23-25: Erläuterung auf die menschliche Erfahrung im Glauben hin
Verse 26-27: Erläuterung auf die Erfahrung im Gebetsleben hin
Verse 28-30: Schlussargument: Gottes Vorausbestimmung der ihn Liebenden zur Verherrlichung.
wird an diesem Sonntag mit den Versen 26- 27 die dritte Erläuterung zur Grundthese (Vers 18) als Lesung vorgetragen. Immer noch geht es also um die Begründung der Überzeugung des Apostels, "dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll" (Vers 18, voriger Sonntag).
In den ersten beiden Erläuterungen zu dieser These hat Paulus die Solidargemeinschaft von Natur (Verse 19-22) und Mensch (Vers 23; Verse 24-25 kommen in der Leseordnung nicht vor) herausgestellt. Sie zeigt sich im "Seufzen" angesichts des in Vergänglichkeit und Schwäche begründeten "Leidens", dem allerdings eine alles "Leiden" übersteigende "Hoffnung auf das Offenbarwerden der Herrlichkeit" (im Sinne ungebrochener und vollkommener, also auch leidbefreiter Lebensgemeinschaft mit Gott) gegenübersteht.
Die dritte Erläuterung - also die beiden Verse der heutigen Lesung - geht nun der Frage nach: Mit welchen Worten kann dieses "Seufzen" geschehen, dass es Gott erreicht? Braucht es dazu vielleicht eine besondere Sprache? Gibt es ein Beten, das in besonderer Weise Gottes Willen (vgl. Vers 27: "so, wie Gott es will") entspricht und damit ein Beten "in rechter Weise" ist (vgl. Vers 26)?
Vers 26: Die "Schwachheit" des Menschen
Die Zeit bis zum "Offenbarwerden der Herrlichkeit" (s. Vers 18 und die Kommentierung dazu am vorigen Sonntag) ist geprägt von "Hoffnung". Die ihr entsprechende Tugend ist die "Geduld", wie Paulus in einer für ihn typischen Argumentationskette in den Versen 24-25 (in der Leseordnung ausgelassen) aufzeigt. Gerade sie wird aber immer wieder auf die Probe gestellt, nicht nur durch die verschiedensten Arten des Leidens (egal ob an den Strapazen der Missionsreisen, an Verfolgungsmaßnahmen oder an der Endlichkeit der Kreatur, die sich in Krankheit und Sterbenmüssen ebenso zeigt wie an Unvollkommenheit und Vorläufigkeit jeder Art). Vielmehr wird die Geduld ebenso auf die Probe gestellt durch das Wesen des Menschen, das Paulus als "Schwachheit" charakterisiert. Sie zeichnet den Menschen in seiner Existenz als Wesen aus "Fleisch" aus und meint keineswegs nur die moralische Schwachheit (vgl. Römer 7,19: "Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will, das vollbringe ich."). Vielmehr gehört auch die Schwachheit im Ertragen des eigentlich Unerträglichen dazu. Dies wird erkennbar, wenn Paulus an seine Gemeinde in Korinth rückblickend von einer Reise erzählt:
"Als wir nach Mazedonien gekommen waren, fanden wir in unserer Schwachheit keine Ruhe. Überall bedrängten uns Schwierigkeiten: von außen Kämpfe, von innen Ängste" (2 Korinther 7,5).
Insofern gerät Schwachheit bei Paulus auch nie zum Vorwurf, sondern sie ist für ihn einfach eine zum Menschen in seiner Fleischexistenz gehörende Tatsache, der auch er selbst - Paulus - unterworfen ist.
Ausdruck dieser Schwäche ist für Paulus wohl auch das "Seufzen" angeischts des Leidens. Hier kommt nun hinzu, dass möglicherweise auch das Seufzen selbst von Schwäche gekennzeichnet ist, nämlich von der Unfähigkeit des Menschen, angesichts seines Gottes die richtigen, gottgemäßen Worte zu finden. Zur Überwindung dieses Problems greift Paulus auf eine jüdische Vorstellung zurück und verändert sie zugleich. So wie es die Vorstellung gibt, dass Engel einem menschlichen Visionär das, was er von Gott her schaut, erklären und deuten müssen (vgl. z. B. Sacharja 1 - 8), so macht Paulus den mit der Taufe geschenkten Geist zum Dolmetscher des menschlichen Seufzens vor Gott. Der Geist findet die richtigen Worte und die angemessenen Bitten und hilft damit der Schwäche des Menschen auf.
Das ist ganz sicher ein hochspekulativer Gedanke, der aber als Antwortversuch auf die grundsätzliche Frage anzusehen ist, wie der unendliche Schöpfergott und der endliche Mensch, das schwache Geschöpf, überhaupt zusammenkommen und miteinander kommunizieren können. Es gibt auch andere Antwortversuche (s. unter "Auslegung"), aber Paulus scheint eben die Position zu teilen, dass es so etwas wie eine eigene "Himmelssprache" gibt. Das klingt an, wenn er im berühmten Hohelied der Liebe mit den Worten anfängt:
"Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die Liebe nicht ..." (1 Korinther 13,1).
Vers 27: Die Stärke des "Geistes"
Der Sitz des Geistes aber ist das Herz (vgl. Galater 4,6: "Weil ihr aber Söhne seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen, den Geist, der ruft: Abba, Vater.") Als "Ort" des Denkens, Planens und Wollens (so in biblischer Sicht) ist es dem Zugriff des Menschen entzogen, sowenig wie der Mensch in sein eigenes Gehirn hineinschauen kann, von dessen Funktion die biblische Zeit allerdings noch nichts wusste. Aber Gott als Schöpfer des Menschen kennt diesen innersten Winkel des Menschen. Aus den zahlreichen Belegstellen des Alten Testaments greift der Anfang des Verses 27 ("Der die Herzen erforscht ...") Psalm 139,23 heraus, der aus dieser Möglichkeit Gottes eine Bitte formuliert:
"Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz, prüfe mich und erkenne meine Gedanken!"
Paulus macht aus der Bitte eine Gewissheit. Das Wissen Gottes um das Innerste des Menschen und damit auch um den in ihm wirkenden Geist lässt ihn nicht nur das "Seufzen des Geistes" verstehen. Es lässt auch die Absicht dieses "inneren Beters" im Menschen erkennen, nämlich seinen Einsatz "für die Heiligen", also für die Gemeinschaft der Christen, die mit der Taufe diesen Geist empfangen haben.
Einmal mehr hat der Neutestamentler Heinrich Schlier in seinem Kommentar (Der Römerbrief [Herders Theologischer Kommentar VI], Freiburg 1977, S. 269) eine sehr treffende Zusammenfassung für den paulinischen Gedanken gefunden, dass im Seufzen des Geistes ja letztlich ein Selbstgespräch Gottes stattfindet:
"Es ist ein Seufzen Gottes zu Gott für uns, in unserem Herzen. Es ist ein Seufzen, das unsere Schwachheit nicht teilt und doch Anteil an ihr nimmt und sie auf sich nimmt."