Mit dem 15. Sonntag im Jahreskreis beginnt der Lektürezyklus eines insgesamt vierstrophigen Abschnitts aus dem Römerbrief (Römer 8,18-30), der am 17. Sonntag im Jahreskreis endet.
Einordnung der Lesung in ihren Zusammenhang
Nachdem Paulus bereits im 5. Kapitel des Römerbriefs mit der Gegenüberstellung von Christus und Adam eine Theologie der Hoffnung entwickelt hat (vgl. die Römerbrieflesungen am 11. und 12. Sonntag im Jahreskreis), nimmt er nun im 8. Kapitel einen zweiten Anlauf, der das Hoffnungspanorama auf den ganzen Kosmos hin erweitert.
Die entsprechenden Verse weisen eine klare Gliederung auf:
Vers 18: Ausgangsthese von der Bedeutungslosig des gegenwärtigen Leids gegenüber der zu erwartenden Herrlichkeit
Verse 19-22: Erläuterung auf die außermenschliche Kreatur hin
Verse 23-25: Erläuterung auf die menschliche Erfahrung im Glauben hin
Verse 26-27: Erläuterung auf die Erfahrung im Gebetsleben hin
Verse 28-30: Schlussargument: Gottes Vorausbestimmung der ihn Liebenden zur Verherrlichung.
Die Verteilung auf die 3 Sonntage im Jahreskreis gestaltet sich folgendermaßen:
Verse 18-23(!): 15. Sonntag im Jahreskreis
Verse 26-27: 16. Sonntag im Jahreskreis
Verse 28-30: 17. Sonntag im Jahreskreis.
Die Verbindung zwischen dem Lesungsabschnitt am vorigen (vierzehnten) Sonntag, in dem es um die Gegenüberstellung von "Fleisch und Geist" ging, und dem neu einsetzenden Abschnitt von heute zum Themenkreis "Leiden und Hoffnung", hat Paulus sehr geschickt mit dem der heutigen Lesung direkt vorangehenden Vers 17 "eingefädelt", der in der Leseordnung allerdings nicht vorkommt:
"Sind wir aber Kinder, dann auch Erben; Erben Gottes und Miterben Christi, wenn wir mit ihm leiden, um mit ihm auch verherrlicht zu werden" (Römer 8,17).
Das Leben gemäß dem "Geist" und die Absage an die Herrschaft des "Fleisches" (im Sinne der Gott-losigkeit) bedeuten für Paulus nicht eine "Vergeistigung" des Lebens. Dafür kennt er viel zu sehr, auch am eigenen Leibe, all die Nöte, die die irdische Existenz beschweren - natürlich auch gerade solche körperliche Qualen, die sich entweder mit der Bedrängnis von Christen verbinden konnten (Auspeitschung, Gefängnis u. ä.) oder mit den Mühen der Missionsreisen (Entbehrungen, Hunger und Durst, Kälte ohne Schutz etc). Zu dieser Dimension ("Leiden") leitet Paulus im zitierten Vers 17 mit der kleinen Seitenbemerkung "wenn wir mit ihm leiden" über, um sie im Folgenden (beginnend mit der heutigen Lesung) zum Hauptthema zu machen.
Vers 18: Die Ausgangsthese
Wie so oft setzt Paulus mit einer These ein:
"Ich bin nämlich überzeugt, dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll."
Allerdings wird hier das Thema "Leiden" aus Vers 17 ins Grundsätzlichste und Allgemeinste gehoben und zum Charakteristikum der "Gegenwart" erklärt, die im Gegensatz zu einer zu erwartenden Zukunft steht. Dabei ist die "Gegenwart" bei Paulus normalerweise definiert als die Zeit zwischen Tod und Auferstehung Jesu einerseits und seinem Wiederkommen in Herrlichkeit andererseits. "Jetzt-Zeit" (griechisch: nỹn kairós, Einheitsübersetzung: "gegenwärtige Zeit") nennt Paulus sie (vgl. ebenfalls bereits Römer 3,26). In sie ordnet sich das Aushalten von Bedrängnis um des Glaubens willen ein, dem man nach Paulus allerdings angesichts der erhofften ewigen Herrlichkeit nicht so viel Gewicht zumessen sollte (vgl. 2 Korinther 4,17: "Denn die kleine Last unserer gegenwärtigen Not schafft uns in maßlosem Übermaß ein ewiges Gewicht an Herrlichkeit ...").
Die Fortsetzung in vers 19 zeigt nun, dass Paulus dieses quasi kirchenspezifische "Leiden mit Christus" bzw. "Leiden um Christi willen" in ein sehr viel umfangreicheres Leiden der gesamten Natur (Schöpfung) seit ihrer Erschaffung einordnet. Es ist das Leiden der gesamten menschlichen wie vor allem nichtmenschlichen Kreatur an ihrer "Vergänglichkeit" (Vers 21) und "Schwachheit" (Vers 26, in der Lesung am kommenden Sonntag), an ihrer Begrenztheit, Vorläufigkeit und Unvollkomenheit. Theologisch kann man sagen: Es geht um das Leiden der Kreatur an ihrer Unerlöstheit, wobei Paulus im Folgenden auch der an sich stummen Natur zur Stimme verhilft und das Leiden an ihrer Jetzt-Zeit als "Seufzen" der Natur umschreibt - ein in ökologisch geprägten Zeit eher leicht zu vermittlender Gedanke. Aber auch hier gilt, dass all das geringer zu veranschlagen ist als die zu erwartende "herrliche" Zukunft bei der Wiederkunft Chisti.
Interessanterweise bleibt der Gegenbegriff zur "Jetzt-Zeit", nämlich die "Herrlichkeit", bei Paulus undefiniert und unerläutert. Sooft der Apostel von ihr spricht, ist lediglich erkennbar, dass sie ganz auf die Seite Gottes gehört. Vom hebräischen Ursprungswort kābôd her sind "Strahlglanz", "Bedeutsamkeit", "Macht" und "Fülle" mitzuhören. So sehr aber die "Herrlichkeit" auf die Seite Gottes gehört, so wenig reserviert er sie für sich, sondern möchte dem Menschen daran Anteil geben (vgl. bereits Ps 8,6: "... du [Gott] hast ihn [den Menschen] gekrönt mit Pracht und Herrlichkeit."). Dazu ist der Mensch geradezu erschaffen, in die Strahlglanz-, Bedeutsamkeits- und Machtsphäre Gottes in ihrer ganzen Fülle mit hineingenommen zu werden - in völliger Ungebrochenheit. Der Neutestamentler Heinrich Schlier umschreibt diese Herrlichkeit als "die Macht und der Glanz des in Freiheit, Frieden und Freude ausbrechenden Lebens", und das alles "in der Kraft und Klarheit des Ansehens Gottes" (Heinrich Schlier, Der Römerbrief: Herder Theologischer Kommentar zum Neuen Testament VI. Freiburg 21977, S. 258). Es ist diese Herrlichkeit, die in der Auferweckung des getöteten Christus aufleuchtet und die auf jede und jeden wartet, der dieser Herrlichkeit Gottes traut.
Dabei haben die an Jesus Christus Glaubenden bereits Anteil an dieser Herrlichkeit (durch das mit Christus Begrabenwerden und Auferwecktwerden in der Taufe), aber sozusagen in einem verhüllten Modus, der der "Enthüllung" bedarf. "Enthüllung" ist aber nichts anderes als die Grundbedeutung des griechischen Wortes für "Offenbarung" (apokálypsis; vgl. im Text: "die an uns offenbar werden soll").
Vers 19: Die Sehnsucht der Schöpfung
Dieses ungebrochene Offensichtlichwerden und Erleben der Herrlichkeit ist für Paulus die betimmende Sehnsucht der Christen, aber zugleich eine Sehnsucht, die die gesamte Schöpfung erfüllt, die Menschhheit wie die "auf den Menschen bezogene und mit seinem Geschick verbundene Gestamtschöpfung" (Schlier, a. a. O., S. 259). Das, was die "Söhne Gottes" - gemeint sind die an der durch die Taufe bewirkten Gottessohnschaft Jesu teilhabenden Frauen und Männer - erwarten und erhoffen, ist von solch gewaltiger Anziehungskraft, dass auf den Augenblick des Offenbarwerdens dieser Herrlichkeit auch die ganze übrige Schöpfung wartet. Dabei gibt es wohl für Paulus eine berechtigte Hoffnung für alle und alles, in diese Herrlichkeit einbezogen zu werden.
Verse 20-21: "Nichtigkeit" - "auf Hoffnung hin"
Diesen hoffnungsvollen Gedanken entfaltet Paulus in den Versen 20-21. Dazu beginnt er mit den bereits oben beschriebenen Leiden der Kreatur, die er nun im Begriff "Nichtigkeit" zusammenfasst. Zu ihr ist die Schöpfung einerseits von niemand anderem als Gott selbst verurteilt worden ("Gott" ist mitzuhören in der passivischen Formulierung : "ist der Nichtigkeit unterworfen [worden]" (sogenanntes göttliches Passiv), zum anderen aber ist es "der Mensch" - hebräisch: ʼadām/Adam -, der laut Paradieseserzählung diesen Schritt Gottes verursacht hat. Die Natur wird in Mithaftung für die Schuld des Menschen genommen - aber eben deshalb, weil es "unfreiwillig" geschieht, nicht aussichtlos, sondern "auf Hoffnung hin". Ihr soll dieselbe Aufhebung der "Nichtigkeit/Vergänglichkeit" zuteil werden, die Gott auch für den Menschen vorgesehen hat. Genau für diese Aufhebung der Vergänglichkeit des Menschen, die für Paulus mit dem alten Adam - nicht als historisch-biologischem Urvater, sondern als Typos des Menschen schlechthin - verbunden ist, hat Gott den "neuen Adam", Jesus Christus, gesandt (vgl. die Auslegungen zu Römer 5,12-15 am 12. Sonntag im Jahreskreis; außerdem 1 Korinther 15,45: "So steht es auch in der Schrift: Adam, der erste Mensch, wurde ein irdisches Lebewesen. Der letzte Adam wurde lebendig machender Geist."). In ihm hat Gott in seiner Schöpfermacht die Todesmacht endgültig überwunden - mit dem Ziel der Freiheit und Herrlichkeit aller "Kinder Gottes".
Verse 22-23: Das "Seufzen" der Schöpfung und des Menschen
Die letzten beiden Verse schlagen den Bogen von der Hoffnung noch einmal zurück auf den Jetzt-Zustand, den die Schöpfung als ganze wie auch der Mensch zunächst einmal auszuhalten und zu durchleben haben. Paulus predigt nicht Weltverleugnung und redet sich bzw. den anderen die Welt nicht schön. Aber er stellt die Gegenwart in einen viel größeren, strahlenderen Horizont, von dem her Licht auf alles fällt, was jetzt dunkel erscheint, und von dem her Kraft und Hoffnung zuwachsen können, die Gegenwart zu gestalten, in Bedrängnis Widerstand zu leisten oder schlimmstenfalls Gewalt auszuhalten und ohne Verzweiflung zu ertragen.
Ohne dass es sofort auffällt, ist Vers 23 bereits der Beginn der nächsten Strophe (s. oben unter Einordnung und Aufbau des 8. Kapitels), insofern er den Blick von der nicht-menschlichen Schöpfung (Kreatur/Natur) auf den Menschen selbst lenkt. Verbunden sind beide Verse durch das Motiv des "Seufzens". Dass Paulus das ganz aus dem menschlichen Bereich herkommende Bild in personalisierender Weise auch auf die unbelebte Schöpfung überträgt und dabei ausdrücklich an den Geburtsschmerz der Frau erinnert hat, dürfte daran liegen, dass im Hintergrund seiner Darlegungen Genesis 3, die biblische Erzählung vom Sündenfall, steht. Dort wird der Frau gesagt: "Unter Schmerzen gebierst du Kinder" (Genesis 3,16; zum gesamten Kapitel Genesis 3 siehe unter Rubrik "Kontext"; zu seiner Bedeutung für Römer 8 s. unter "Auslegung"). Im übrigen ist die Vorstellung von der Erde als einem gebärenden Mutterschoß eine alte mythische Vorstellung, die auch im Alten Testament präsent ist und von Paulus zumindest als Bild offensichtlich übernommen werden kann (vgl. Psalm 139,15: "Dir waren meine Glieder nicht verborgen,/ als ich gemacht wurde im Verborgenen, gewirkt in den Tiefen der Erde."; zur Verbindung von "Mutterschoß" und "Erdenschoß" vgl. auch die etwas "kurzschlüssigen" Formulierungen in Ijob 1,21 und Sirach 40,1, die von der Geburt als Hervorgang aus dem Mutterleib und dem Tod als der Rückkehr "dorthin" sprechen, wobei mit "dorthin" nur die Erde undnicht der Mutterschoß gemeint sein kann).