Mensch, erkenne in Adam dich selbst: in deiner Vergänglichkeit, Begrenztheit und auch Fehlerhaftigkeit (theologisch gesprochen: Sündhaftigkeit). Einen anderen Menschentyp als diesen gibt es nach Paulus auf dieser Erde nicht. Aber demselben Menschen ist eine große Hoffnung in Aussicht gestellt: Der Schwäche und Sünde des Menschen steht ein Leben gegenüber, das ganz aus der Zuwendung Gottes (theologisch: Gnade) existiert; sie verleiht Stärke und Aufrichtung. Und der Vergänglichkeit steht unvergängliches Leben gegenüber. Für Gnade und ewiges Leben steht der gekreuzigte und auferweckte Christus. Er gibt etwas, was Adam - als der "Urtyp" irdisch-menschlicher Existenz - nicht geben konnte bzw. aus sich nicht schaffen kann. Das Bekenntnis zum Kreuz ist dabei absolut unverzichtbar, denn es hält fest, dass dieser Christus in der Existenzweise des Adam begonnen hat: als ein dem Leiden und dem Tod ausgesetzter Mensch. Der Sünde vermochte er sich zu widersetzen, der Tötung nicht bzw. er tat es nicht. Doch gerade aus diesem angenommenen Tod erwächst Heil - durch Gott, für alle. So sind Adam und Christus vergleichbar und unvergleichbar in einem. Diesen anspruchsvollen, vor allem aber Hoffnung stiftenden Gedanken entfaltet Paulus in der heutigen Lesung.
Einordnung in den Zusammenhang
In seiner Gegenüberstellung von "Adam" und "Christus" kann Römer 5,12-15 (eigentlich bis Vers 21) als eine Zusammenschau der bisherigen Ausführungen des Römerbriefs verstanden werden: Römer 1,18 - 3,20 sprechen - ohne dass der Name ausdrücklich fällt - von der unheilvollen "Adam-Seite" des Menschen, während man über Römer 3,21 - 5,11 "Christus" als Überschrift setzen könnte, der für das Heil steht. Was also in den ersten Briefkapiteln in einem großen Nacheinander entwickelt wurde, fasst Paulus nun in eine Zusammenschau.
Hinter allem steht gerade in den ersten 5 Kapiteln des Römerbriefs der für Paulus leitende Gedanke, dass Gottes Zuwendung nicht nur einer einzelnen Nation (Israel) oder einer einzelnen Volks- und Glaubensgemeinschaft (Judentum) gilt. Mit ihnen hat Gott zwar seinen Heilsweg begonnen - Paulus gehört ja selbst zum jüdischen Volk und kann hier gar nicht anders denken -, aber sein Heilswille reicht darüber hinaus. Deshalb kann das nur für das Judentum verbindliche Gesetz nicht der Heilsweg Gottes sein. Und deshalb ist Christus auch kein neuer Abraham (Stammvater Israels) oder gar ein neuer David (der erste große König Israels). Sondern Paulus knüpft mit seinem Vergleich an Adam an und d. h. an die Schöpfung - ganz besonders an die Menschenschöpfung. Der Heilswille Gottes zielt auf alle Menschen in ihrer Geschöpflichkeit. Das war in Römer 1,18 - 5,11 bereits von Paulus der Christengemeinde in Rom, die sich ja aus Juden wie vor allem aus Nichtjuden zusammensetzte, dargelegt worden und wird nun noch einmal gebündelt.
Schwierig macht gerade diesen Lesungs-Abschnitt des Römerbriefs, dass sich Paulus sozusagen in seiner Gedankenführung immer wieder selbst unterbricht und Zwischenbemerkungen und Vorbehalte einbringt, so dass die Sätze zum Teil unvollständig bleiben. Die Einheitsübersetzung folgt auch in diesen Abbrüchen der griechischen Vorlage.
Vers 12: Adam - Sünde - Tod
Vers 12 nennt den Ausgangspunkt der Argumentation des Paulus: Es gibt einen engen Zusammenhang von Mensch, Sünde und Tod. Paulus denkt dabei weder über die Erbsünde nach - den Begriff kennt er gar nicht - noch über die Frage, wie man sich naturwissenschaftlich den ersten Menschen vorstellen muss. Adam (er ist mit dem "einzigen Menschen" gemeint) steht für den Menschen schlechthin, wie er in dieser Welt und Geschichte vorkommt und nie anders vorgekommen ist. Schon der Anfang des Menschen verbindet sich mit einer Art "Ur-Verdrängung" Gottes, mit dem emanzipatorischen Bestreben, ohne und gegen Gott zu handeln. Folgt man dem biblischen Zeugnis, ist dies keine Frage innerlicher Gedankenprozesse, sondern eine Grundhaltung, die sich in konkreten Handlungsmustern äußert: Verdächtigung (im Gefolge der Schlange unterstellen Adam und Eva Gott schlechte Motive beim Verbot, von den Früchtene ines bestimmten Baumes zu essen) und Gewalt (Kain ermordet seinen Bruder Abel) sind zwei "Ur-Sünden", die das Alte Testament am Beginn des Buches Genesis (1. Buch Mose) nennt. Diese negative Grundausrichtung des Menschen führt auch dazu, dass der Tod des Menschen eine negative "Qualität" bekommt: Der Mensch stirbt hinein in die Vergeblichkeit, in die Lossagung von dem Gott, der allein ihm Gemeinschaft über den Tod hinaus geben könnte. Das ist sozusagen die "adamitische" Existenz des Menschen: eine scheinbar unlösliche Verquickung von Sündhaftigkeit und Tod im Sinne der dauerhaften Gottferne (zur Herkunft dieser Sichtweise des Paulus s. unter "Auslegung"). Es geht also nicht darum, dass die Sterblichkeit des Menschen an und für sich Folge der Sünde sei. Nicht zufällig meidet Paulus den Begriff "sterben" und spricht immer nur vom Tod.
Verse 13-14: Die Abweisung eines möglichen Einwandes
Paulus bricht seinen Eröffnungsgedanken ab. Er fällt sich sozusagen selbst ins Wort und hat dabei den jüdischen Einwand im Hinterkopf: "Sünde" - von ihr war ja in Vers 12 die Rede - ist doch vor allem "Übertreten" des Gesetzes Gottes, das er einst dem Mose und durch ihn dem ganzen Volk Israel am Sinai mitgeteilt hat. Ohne Gesetz kann es folglich keine Sünde geben. Und folglich kann es gerechterweise vorher auch noch keine Strafe geben.
Paulus entkräftet diesen an sich plausiblen Einwand mit seiner grundsätzlicheren Sicht von einem geradezu universalen Zusammenhang von Sünde und Tod. Dabei kann er sich auf das Alte Testament stützen, insofern dieser Zusammenhang eben nicht erst ab der Zeit des Mose (dargestellt im Buch Exodus/2. Buch Mose) erkennbar wird, wenn z. B. das Volk sich gegen Gott auflehnt und daraufhin tödliche Schlangen zur Strafe geschickt werden oder wenn Gesetzesbruch mit Todesstrafe geahndet wird. Nein, auch schon die Erzählungen im vorangehenden Buch Genesis lassen diesen Zusammenhang von Sünde und Tod erkennen. Damit befindet die Bbiel sich reinerzählerisch in Zeiten lange vor Mose und damit vor der Gesetzesmitteilung am Sinai.
Mit anderen Worten: Das Gesetz begründet nach Paulus - anders als man bei der Gleichsetzung von Sünde zund Gesetzesübertretung meinen könnte - nicht den Zusammenhang von Sünde und Tod, sondern deckt ihn lediglich noch deutlicher auf als er schon vorher war. Denn das Gesetz lässt den Menschen bei jedem Gesetzesbruch offiziell und unabweislich als Sünder erscheinen, der er aber tatsächlich immer schon war. Die immer wieder festgestellte Gesetzesübertretung beweist nur einmal mehr, dass der Mensch sich von Gott und seinem Wollen emanzipieren will. Das ist die eigentlich Sünde, die den Tod als Überlassung an die endgültige Gottferne zur Folge hat.
Vers 15: Christus als Gegen-Adam
Vers 15 greift den Vergleichsfaden aus Vers 12 auf, wendet ihn nun aber ins Positive. Verglichen werden "Übertretung" und das neu eingeführte Wort "Gnade". "Übertretung" steht für "Adam" und seine "Übertretung" der Schwelle von Gott weg. Die mit der Gestalt Adams verbundene "Ersttat" erweist sich im Nachhinein als eine in jedem weiteren "Adam", nämlich in jedem weiteren Menschen sich fortwirkende Tat. Dieses Prinzip von einzelnem Anfang und universaler Verbreitung gilt für Paulus aber auch im Positiven: Der Heilswille Gottes, der prinzipiell allen Menschen gilt, hat seinen Ausgangspunkt auch im Tun eines Einzelnen, besser: an einem Einzelnen genommen: in der Auferweckung des gekreuzigten Christus. Dessen Tod ist nicht das Hineinsterben in die Vergeblichkeit und Gottesferne, sondern die bewusste Annahme des letzten Schrittes eines jeden Menschen im ungebrochenen Ja zu Gott. Deshalb ist dieser Heilstod "Gnadentat". Damit ist der Tod als Gottferne besiegt und gewandelt zur Öffnungspforte für dauernde Gottesnähe - und zwar für alle. Das meint die "Gnadengabe" Gottes: das ewige Leben mit und bei ihm, das allen eröffnet ist.
Man kann zusammenfassend sagen: Das Grundprinzip von "einer" und "alle" ist bei Adam und Christus das Vergleichbare, der Inhalt des Handeln hingegen völlig unterschiedlich: Das Christus-Handeln überwindet das Adam-Handeln. Nicht um die Gegenüberstellung von Ideal und Wirklichkeit geht es, sondern darum, dass "der Ideale" - der Mensch Christus in seiner auch im Tode ungebrochenen Gottesbeziehung - dem "Realen" - also, dem Menschen wie er nun einmal in dieser Geschichte erlebbar ist - einen Hoffnungsraum eröffnet. In Christus überlässt Gott den Menschen nicht den Folgen seines Adam-Seins, sondern befreit ihn davon.