Die drei Lesungen des Vierten Adventssonntages deuten Geschichte als Gottesgeschichte. Dabei benennen die Erste Lesung und das Evangelium die "Eckpunkte": die Verheißung ewiger Herrschaft und ewigen Thronbestands durch den Propheten Natan an David (2 Samuel 7,16) und die Übergabe dieses "Throns" an Jesus, den "Sohn des Höchsten" in der Geburtsankündigung Gabriels an Maria (Lukas 1,32). Die Zweite Lesung ordnet diese Geschichtslinie in das alles zusammenhaltende "Geheimnis" Gottes ein, "das seit ewigen Zeiten unausgesprochen war, 26 jetzt aber ... offenbart und durch prophetische Schriften kundgemacht wurde" (Verse 25c-26a). Es ist diese Verheißungs- und Offenbarungsgeschichte, in die sich das Weihnachtsfest, das Geheimnis der Menschwerdung Gottes im Neugeborenen Jesus, einschreibt.
Einordnung der Lesung
Der Lesungsabschnitt ist der Schluss des Römerbriefs, der aber wohl lange nach dem Tod des Paulus nachträglich angehängt wurde. Ähnlich wie die frühe Kirche mit dem ursprünglichen Schluss des Markusevangeliums (Markus 16,1-8), dem erschrockenen und stummen Weglaufen der drei Frauen vom leeren Grab, nicht zurechtkam und aus der Zusammenschau der Schlüsse von Matthäus und Lukas einen "passenderen" Abschluss für das Markusevangelium schuf (Markus 16,9-20), so befriedigte die "endlose" Grußliste in Römer 16,1-16.21-23 angesichts der Tiefgründigkeit des Gesamtbriefes wohl ebenfalls nicht. Da Paulus merkwürdigerweise den üblicherweise abschließenden, dann aber in der Regel feierlicher und als Briefschluss gestalteten Gnadenwunsch überraschenderweise mitten in die Grußliste platziert hat (Vers 20b), sahen die Überlieferer des Briefes sich wohl genötigt, diesen Gnadenwunsch noch einmal am Ende zu wiederholen (Vers 24), um dann auch noch ein feierliches Gotteslob (sogenannte Doxologie) mit abschließendem Amen anzuhängen. Das Vorbild dafür könnte die von Paulus selbst gewählte Doxologie am Ende seiner großen Darlegung des Verhältnisses von Juden und Christen in Römer 9 - 11 sein.1 Vorstellbar ist übrigens auch, dass diese Schlussverse ursprünglich einmal als Abschluss einer frühen "Gesamtausgabe" der paulinsichen Briefe gedacht waren und ihnen kanonische, d. h. für den Glauben der Kirche verbindliche Geltung geben sollten.
Gegen die Autorenschaft des Paulus, bei der unter den Exegeten weitgehende Einigkeit besteht, spricht besonders, dass Vers 26 -entgegen der Einheitsübersetzung - nicht mehr die im gesamten Römerbrief leitende Gegenüberstellung bzw. Verhältnisbestimmung von Juden und "Heiden" (so Einheitsübersetzung in Vers 26b für griechisch tà éthnē), also Nichtjuden, im Blick hat, sondern "alle Völker", egal ob in der jüdischen oder nichtjüdischen Welt. Im Schluss des Römerbriefs wird Paulus im wörtlichen Sinne zum "Völkerapostel", und zwar nicht mehr als lebender, sondern als der, dessen Briefe als "Evangelium" in den Offenbarungsrang "prophetischer Schriften" (das wäre zunächst einmal das Alte Testament) gehoben werden (s. Näheres bei der Kommentierung der Verse 25c-26). So hat Paulus sich selbst nicht gesehen, wohl aber bereits der nachpaulinsiche Epheserbrief, der Paulus den "heiligen Aposteln und Propheten" als Fundamentsteinen der Kirche zurechnet vgl. Epheser 3,5)..
Insgesamt ist die Doxologie ein sehr verdichteter Text, indem möglichst Vieles an Aussagen untergebracht werden soll, die sich auf verschiedene Formulierungen des Römerbriefs zurückbeziehen. Dies erklärt die Komplexität des Satzbaus. Der eigentliche Hauptsatz des Gotteslobes lautet:
25 Dem aber, der die Macht hat, euch Kraft zu geben ... 27 ihm, dem einen, weisen Gott, sei Ehre durch Jesus Christus in alle Ewigkeit! Amen.
Dazwischen ist
1. die Erklärung eingeschoben, wie bzw. durch wen das "Kraft geben" erfolgt ist: nämlich durch die Verkündigung ("Evangelium") des Paulus (Vers 25b), die inhaltlich nichts anderes ist als die Botschaft (kḗrygma) von Jesus Christus (Vers 25c), "Gottes Sohn" (vgl. Römer 1,3 bzw. unten die Kommentierung zum Vers);
2. dieses Verkündigungsgeschehen wird des weiteren in ein größeres Geschehen von Verborgenheit in Gott und an das Licht Treten des Geheimnisses "durch prophetische Schriften" (s. o.) eingeordnet (Vers 26)
Diese ausführliche Erklärung der Stärkung, die sich zunächst an "euch" richtet (Vers 25: "euch Kraft zu geben"), damit also die Christinnen und Christen der römischen Gemeinde richtet, wird
3. hinsichtlich der Zielausrichtung erweitert. Das stärkende Verkündigungsgeschehen richtet sich eben nicht nur an Rom, sondern der Prozess des Offenbarwerdens soll "alle Völker" erreichen., um diese "zum Gehorsam des Glaubens zu führen" (Vers 26). Damit ist es dem Verfasser des Briefschlusses gelungen, auch noch den Missionsgedanken unterzubringen.
Verse 25a.27: Das Gotteslob und Vers 25b
"Macht" (griechisch: dýnamis), "Kraft geben" (griechisch: stērizō) [beide Vers 25a] und "Evangelium" (griechisch: euangélion) [Vers 25b] sind nicht nur die markantesten Wörter des ersten Verses, sondern alle drei verweisen zurück in den Römerbrief und ganz besonders an dessen Beginn. Gleich am Anfang seines Schreibens spricht Paulus von der dýnamis Gottes "zur Rettung für jeden, der glaubt", die im euangélion wirksam ist. Dieses "Evangelium" hat als Urheber Gott selbst (deshalb spricht Römer 1,1 auch als erstes vom "Evangelium Gottes") und als Inhalt "seinen Sohn ....Jesus Christus, unseren Herrn" (Römer 1,3-4). Genau hieran knüpft der erste Erweiterungssatz der Doxologie in Vers 25b an ("gemäß meinem Evangelium und der Botschaft von Jesus Christus").
Zu seiner Verkündigung sieht sich der Apostel "berufen" und "ausgesondert" (noch einmal Römer 1,1). Man könnte auch sagen: Sie ist nicht sein gesuchter, sondern sein ihm im Laufe seiner Biographie von Gott her aufgegegangener Lebensinhalt. Wenn der Verfasser des Briefschlusses Paulus in Vers 25b ausdrücklich von "meinem Evangelium" sprechen lässt, weist er wohl nicht nur auf diese Zusammenhänge zurück, sondern sieht Paulus letztlich auch als den einzigen oder zumindest maßgeblichen Zeugen für das Evangelium, an dem sich alle weiteren Verkünder orientieren sollten.
Das Ziel des "Kraft Gebens" hat Paulus schließlich bereits in Römer 1,11 formuliert: "Denn ich sehne mich danach, euch zu sehen; ich möchte euch ein wenig mit geistlicher Gnadengabe beschenken, damit ihr gestärkt werdet ...", wobei das Passiv "damit ihr gestärkt werdet/damit euch Kraft gegeben werde" (abgeleitet von griechisch stērizō) deutlich macht, dass Gott der eigentliche Stärkende ist (sog. göttliches Passiv/passivum divinum). In dieser Aussage decken sich Röm 1,11 und Römer 1,25a.
Das lobpreisende Bekenntnis zu dem Gott, der in der Verkündigung von seinem Heilwirken in Jesus Christus machtvoll, also wirksam und ermächtigend, belebend und in Bewegung setzend ("dynamisierend") gegenwärtig ist, bricht unter dem Gesichtspunkt des reinen Satzbaus ab. Als hätte die sich anschließende Erweiterung den Schreiber den Faden verlieren lassen - tatsächlich handelt es sich aber um ein Stilmittel zum Ausdruck der Verlebendigung und sprachlicher Authentizität, das sog. Anakoluth - fängt der Schreiber in Vers 27 noch einmal neu an.
Jetzt wird Gott mit "Weisheit" in Verbindung gebracht. Streiten kann man darüber, ob es um den "allein weisen" Gott oder, so Einheitsübersetzung, um den "einen [und] weisen" Gott geht. Diese Rede von der "Weisheit" wirkt nach dem Lobpreis des mächtigen und stärkenden Gottes eher überraschend. Zwei Gründe lassen sich für das Lob des "weisen" Gottes finden:
1. Zum einen greift der Autor auf das andere Gotteslob des Römerbriefs, Römer 11,33-36 (s. o.) zurück: "O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!" (Vers 33). Der Schreiber stellt sich also in die Spur des Paulus und sorgt einmal mehr dafür, dass der Schluss des Römerbriefs eine wirkliche "Abrundung" bedeutet.
2. Während der Beginn des Gotteslobs in Römer 16,25a ganz vom Briefanfang bestimmt ist, ergibt sich.die Rede von der "Weisheit" Gottes vor allem aus Römer 16,25c-26., also aus dieser eigentümlichen Erweiterung des Gotteslobs.
Verse 25b-26: Die Erweiterung des Gotteslobs
Diese Passage des Gotteslobs ordnet die Evangelisierung durch Paulus in einen größeren Heilsplan Gottes ein. Einfach ausgedrückt besagt der komplexe Nebensatz: Dass Gott das Heil des Menschen will - wie es schließlich in Jesus als dem menschgewordenenen Gottessohn, in der Übernahme des schlimmsten Verbrechertodes, ohne ein Verbrechen begangen zu haben, und in seiner Auferweckung von den Toten ansichtig geworden ist - dieses Heil lag immer schon als "Geheimnis" in Gott beschlossen, ohne aber dass es wirklich "ausgesprochen" wurde. Die "Lüftung" des Geheimnisses ist erst "jetzt" geschehen. Obwohl der Begriff "prophetische Schriften" an das Alte Testament denken lässt - was aber eben nicht zum Wörtchen "jetzt" passt - ,scheint der Verfasser ihn anders zu verstehen. Es geht ihm um die Briefe des Paulus, ganz besonders wohl um den Römerbrief. Seine Verkündigung des "Evangeliums Gottes von seinem Sohn Jesus Christus" (s. Römer 1,1-4) ist die eigentliche Aufdeckung des Geheimnisses. Erst durch Paulus wird erkennbar und damit "offenbar", was in Jesus Christus geschehen ist.
Mit anderen Worten: Der Autor des Briefschlusses verlängert eigenständig und kreativ die Linie, die Paulus selbst in Röm 1,2 selbst aufgezeigt hat, wenn er vom "Evangelium Gottes" sagt, dass er es "durch seine Propheten im Voraus verheißen hat in heiligen Schriften". Verheißung ist offensichtlich noch keine "Offenbarung" im Sinne von "offen legen, ans Licht bringen, aussprechen". Dazu könnte sich der Autor auf Paulus selbst berufen, da dieser im Blick auf seine jüdischen Geschwister schreibt: "Bis heute liegt die Hülle auf ihrem Herzen, wenn Mose vorgelesen wird" (2 Kor 3,15). Und dass Paulus sich selbst der Linie der Propheten zurechnete, zeigt allein schon die Darstellung seiner Berufung in Galater 1,13 ("Als es aber Gott gefiel, der mich schon im Mutterleib auserwählt und durch seine Gnade berufen hat, ..."), die sich an die Berufung des Propheten Jeremia anlehnt: "Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt, zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt" (Jeremia 1,5).
Zum vertieften Verständnis dieser nicht ganz einfachen Passage Verse 25b-26 s. unter "Auslegung".
Das Ziel, die "Völker"2 "zum Gehorsam des Glaubens zu führen", ist schließlich und endlich einmal mehr eine den Akzent etwas verschiebende Übernahme des Briefanfangs: "Durch ihn haben wir Gnade und Apostelamt empfangen, um unter allen Heiden [hier dürfte die Übersetzung zutreffen] Glaubensgehorsam aufzurichten um seines Namens willen" (Römer 1,5): Aus der Stärkung der ursprünglich überwiegend heidnischen römischen Christen wird die Missionierung der Völker nach dem Maßstab des Paulus.
Der beschriebene Gesamtplan Gottes nun, der vom immer schon zu Gott gehörenden, aber "verschwiegenen" (Einheitsübersetzung: "unausgesprochenen") Heilsgeheimnis ausgeht und schließlich bei der weltweiten Offenlegung dieses Geheimnisses durch die apostolische Predigt endet, zeugt von Gottes "Weisheit", von der dann das in Vers 27 neu ansetzende Gotteslob ausdrücklich spricht.