Lesejahr B: 2023/2024

2. Lesung (Röm 16,25-27)

25aDem aber, der die Macht hat, euch Kraft zu geben -

bgemäß meinem Evangelium und der Botschaft von Jesus Christus,

cgemäß der Offenbarung jenes Geheimnisses, das seit ewigen Zeiten unausgesprochen war,

26ajetzt aber nach dem Willen des ewigen Gottes offenbart / und durch prophetische Schriften kundgemacht wurde,

bum alle Heiden zum Gehorsam des Glaubens zu führen -,

27ihm, dem einen, weisen Gott, / sei Ehre durch Jesus Christus in alle Ewigkeit! Amen.

Überblick

Die drei Lesungen des Vierten Adventssonntages deuten Geschichte als Gottesgeschichte. Dabei benennen die Erste Lesung und das Evangelium die "Eckpunkte": die Verheißung ewiger Herrschaft und ewigen Thronbestands durch den Propheten Natan an David (2 Samuel 7,16) und die Übergabe dieses "Throns" an Jesus, den "Sohn des Höchsten" in der Geburtsankündigung Gabriels an Maria (Lukas 1,32). Die Zweite Lesung ordnet diese Geschichtslinie in das alles zusammenhaltende "Geheimnis" Gottes ein, "das seit ewigen Zeiten unausgesprochen war, 26 jetzt aber ... offenbart und durch prophetische Schriften kundgemacht wurde" (Verse 25c-26a). Es ist diese Verheißungs- und Offenbarungsgeschichte, in die sich das Weihnachtsfest, das Geheimnis der Menschwerdung Gottes im Neugeborenen Jesus, einschreibt.

 

Einordnung der Lesung

Der Lesungsabschnitt ist der Schluss des Römerbriefs, der aber wohl lange nach dem Tod des Paulus nachträglich angehängt wurde. Ähnlich wie die frühe Kirche mit dem ursprünglichen Schluss des Markusevangeliums (Markus 16,1-8), dem erschrockenen und stummen Weglaufen der drei Frauen vom leeren Grab, nicht zurechtkam und aus der Zusammenschau der Schlüsse von Matthäus und Lukas einen "passenderen" Abschluss für das Markusevangelium schuf (Markus 16,9-20), so befriedigte die "endlose" Grußliste in Römer 16,1-16.21-23 angesichts der Tiefgründigkeit des Gesamtbriefes wohl ebenfalls nicht. Da Paulus merkwürdigerweise den üblicherweise abschließenden, dann aber in der Regel feierlicher und als Briefschluss gestalteten Gnadenwunsch überraschenderweise mitten in die Grußliste platziert hat (Vers 20b), sahen die Überlieferer des Briefes sich wohl genötigt, diesen Gnadenwunsch noch einmal am Ende zu wiederholen (Vers 24), um dann auch noch ein feierliches Gotteslob (sogenannte Doxologie) mit abschließendem Amen anzuhängen. Das Vorbild dafür könnte die von Paulus selbst gewählte Doxologie am Ende seiner großen Darlegung des Verhältnisses von Juden und Christen in Römer 9 - 11 sein.1 Vorstellbar ist übrigens auch, dass diese Schlussverse ursprünglich einmal als Abschluss einer frühen "Gesamtausgabe" der paulinsichen Briefe gedacht waren und ihnen kanonische, d. h. für den Glauben der Kirche verbindliche Geltung geben sollten.

Gegen die Autorenschaft des Paulus, bei der unter den Exegeten weitgehende Einigkeit besteht, spricht besonders, dass Vers 26 -entgegen der Einheitsübersetzung - nicht mehr die im gesamten Römerbrief leitende Gegenüberstellung bzw. Verhältnisbestimmung von Juden und "Heiden" (so Einheitsübersetzung in Vers 26b für griechisch tà éthnē), also Nichtjuden, im Blick hat, sondern "alle Völker", egal ob in der jüdischen oder nichtjüdischen Welt. Im Schluss des Römerbriefs wird Paulus im wörtlichen Sinne zum "Völkerapostel", und zwar nicht mehr als lebender, sondern als der, dessen Briefe als "Evangelium" in den Offenbarungsrang  "prophetischer Schriften" (das wäre zunächst einmal das Alte Testament) gehoben werden (s. Näheres bei der Kommentierung der Verse 25c-26). So hat Paulus sich selbst nicht gesehen, wohl aber bereits der nachpaulinsiche Epheserbrief, der Paulus den "heiligen Aposteln und Propheten" als Fundamentsteinen der Kirche zurechnet vgl. Epheser 3,5)..

Insgesamt ist die Doxologie ein sehr verdichteter Text, indem möglichst Vieles an Aussagen untergebracht werden soll, die sich auf verschiedene Formulierungen des Römerbriefs zurückbeziehen. Dies erklärt die Komplexität des Satzbaus. Der eigentliche Hauptsatz des Gotteslobes lautet: 

25 Dem aber, der die Macht hat, euch Kraft zu geben ... 27 ihm, dem einen, weisen Gott, sei Ehre durch Jesus Christus in alle Ewigkeit! Amen.

Dazwischen ist

1. die Erklärung eingeschoben, wie bzw. durch  wen das "Kraft geben" erfolgt ist: nämlich durch die Verkündigung ("Evangelium") des Paulus (Vers 25b), die inhaltlich nichts anderes ist als die Botschaft (kḗrygma) von Jesus Christus (Vers 25c), "Gottes Sohn" (vgl. Römer 1,3 bzw. unten die Kommentierung zum Vers);

2. dieses Verkündigungsgeschehen wird des weiteren in ein größeres Geschehen von Verborgenheit in Gott und an das Licht Treten des Geheimnisses  "durch prophetische Schriften" (s. o.) eingeordnet (Vers 26)

Diese ausführliche Erklärung der Stärkung, die sich zunächst an "euch" richtet (Vers 25: "euch Kraft zu geben"), damit also die Christinnen und Christen der römischen Gemeinde richtet, wird

3. hinsichtlich der Zielausrichtung erweitert. Das stärkende Verkündigungsgeschehen richtet sich eben nicht nur an Rom, sondern der Prozess des Offenbarwerdens soll "alle Völker" erreichen., um diese "zum Gehorsam des Glaubens zu führen" (Vers 26). Damit ist es dem Verfasser des Briefschlusses gelungen, auch noch den Missionsgedanken unterzubringen.

 

Verse 25a.27: Das Gotteslob und Vers 25b

"Macht" (griechisch: dýnamis), "Kraft geben" (griechisch: stērizō) [beide Vers 25a] und "Evangelium" (griechisch: euangélion) [Vers 25b] sind nicht nur die markantesten Wörter des ersten Verses, sondern alle drei verweisen zurück in den Römerbrief und ganz besonders an dessen Beginn. Gleich am Anfang seines Schreibens spricht Paulus von der dýnamis Gottes "zur Rettung für jeden, der glaubt", die im euangélion wirksam ist. Dieses "Evangelium" hat  als Urheber Gott selbst (deshalb spricht Römer 1,1 auch als erstes vom "Evangelium Gottes") und als Inhalt "seinen Sohn ....Jesus Christus, unseren Herrn" (Römer 1,3-4). Genau hieran knüpft der erste Erweiterungssatz der Doxologie in Vers 25b an ("gemäß meinem Evangelium und der Botschaft von Jesus Christus").

Zu seiner Verkündigung sieht sich der Apostel "berufen" und "ausgesondert" (noch einmal Römer 1,1). Man könnte auch sagen: Sie ist nicht sein gesuchter, sondern sein ihm im Laufe seiner Biographie von Gott her aufgegegangener Lebensinhalt. Wenn der Verfasser des Briefschlusses Paulus in Vers 25b ausdrücklich von "meinem Evangelium" sprechen lässt, weist er wohl nicht nur auf diese Zusammenhänge zurück, sondern sieht Paulus letztlich auch als den einzigen oder zumindest maßgeblichen Zeugen für das Evangelium, an dem sich alle weiteren Verkünder orientieren sollten.

Das Ziel des "Kraft Gebens" hat Paulus schließlich bereits in Römer 1,11 formuliert: "Denn ich sehne mich danach, euch zu sehen; ich möchte euch ein wenig mit geistlicher Gnadengabe beschenken, damit ihr gestärkt werdet ...", wobei das Passiv "damit ihr gestärkt werdet/damit euch Kraft gegeben werde" (abgeleitet von griechisch stērizō) deutlich macht, dass Gott der eigentliche Stärkende ist (sog. göttliches Passiv/passivum divinum). In dieser Aussage decken sich Röm 1,11 und Römer 1,25a.

Das lobpreisende Bekenntnis zu dem Gott, der in der Verkündigung von seinem Heilwirken in Jesus Christus machtvoll, also wirksam und ermächtigend, belebend und in Bewegung setzend ("dynamisierend") gegenwärtig ist, bricht unter dem Gesichtspunkt des reinen Satzbaus ab. Als hätte die sich anschließende Erweiterung den Schreiber den Faden verlieren lassen - tatsächlich handelt es sich aber um ein Stilmittel zum Ausdruck der Verlebendigung und sprachlicher Authentizität, das sog. Anakoluth - fängt der Schreiber in Vers 27 noch einmal neu an.

Jetzt wird Gott mit "Weisheit" in Verbindung gebracht. Streiten kann man darüber, ob es um den "allein weisen" Gott oder, so Einheitsübersetzung, um den "einen [und] weisen" Gott geht. Diese Rede von der "Weisheit" wirkt nach dem Lobpreis des mächtigen und stärkenden Gottes eher überraschend. Zwei Gründe lassen sich für das Lob des "weisen" Gottes finden:

1. Zum einen greift der Autor auf das andere Gotteslob des Römerbriefs, Römer 11,33-36 (s. o.) zurück: "O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!" (Vers 33). Der Schreiber stellt sich also in die Spur des Paulus und sorgt einmal mehr dafür, dass der Schluss des Römerbriefs eine wirkliche "Abrundung" bedeutet.

2. Während der Beginn des Gotteslobs in Römer 16,25a ganz vom Briefanfang bestimmt ist, ergibt sich.die Rede von der "Weisheit" Gottes vor allem aus Römer 16,25c-26., also aus dieser eigentümlichen Erweiterung des Gotteslobs.

 

Verse 25b-26: Die Erweiterung des Gotteslobs

Diese Passage des Gotteslobs ordnet die Evangelisierung durch Paulus in einen größeren Heilsplan Gottes ein. Einfach ausgedrückt besagt der komplexe Nebensatz: Dass Gott das Heil des Menschen will - wie es schließlich in Jesus als dem menschgewordenenen Gottessohn, in der Übernahme des schlimmsten Verbrechertodes, ohne ein Verbrechen begangen zu haben, und in seiner Auferweckung von den Toten ansichtig geworden ist - dieses Heil lag immer schon als "Geheimnis" in Gott beschlossen, ohne aber dass es wirklich "ausgesprochen" wurde. Die "Lüftung" des Geheimnisses ist erst "jetzt" geschehen. Obwohl der Begriff "prophetische Schriften" an das Alte Testament denken lässt - was aber eben nicht zum Wörtchen "jetzt" passt - ,scheint der Verfasser ihn anders zu verstehen. Es geht ihm um die Briefe des Paulus, ganz besonders wohl um den Römerbrief. Seine Verkündigung des "Evangeliums Gottes von seinem Sohn Jesus Christus" (s. Römer 1,1-4) ist die eigentliche Aufdeckung des Geheimnisses. Erst durch Paulus wird erkennbar und damit "offenbar", was in Jesus Christus geschehen ist. 

Mit anderen Worten: Der Autor des Briefschlusses verlängert eigenständig und kreativ die Linie, die Paulus selbst in Röm 1,2 selbst aufgezeigt hat, wenn er vom "Evangelium Gottes" sagt, dass er es "durch seine Propheten im Voraus verheißen hat in heiligen Schriften". Verheißung ist offensichtlich noch keine "Offenbarung" im Sinne von "offen legen, ans Licht bringen, aussprechen". Dazu könnte sich der Autor auf Paulus selbst berufen, da dieser im Blick auf seine jüdischen Geschwister schreibt: "Bis heute liegt die Hülle auf ihrem Herzen, wenn Mose vorgelesen wird" (2 Kor 3,15). Und dass Paulus sich selbst der Linie der Propheten zurechnete, zeigt allein schon die Darstellung seiner Berufung in Galater 1,13 ("Als es aber Gott gefiel, der mich schon im Mutterleib auserwählt und durch seine Gnade berufen hat, ..."), die sich an die Berufung des Propheten Jeremia anlehnt: "Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt, zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt" (Jeremia 1,5). 

Zum vertieften Verständnis dieser nicht ganz einfachen Passage Verse 25b-26 s. unter "Auslegung".

Das Ziel, die "Völker"2 "zum Gehorsam des Glaubens zu führen", ist schließlich und endlich einmal mehr eine den Akzent etwas verschiebende Übernahme des Briefanfangs: "Durch ihn haben wir Gnade und Apostelamt empfangen, um unter allen Heiden [hier dürfte die Übersetzung zutreffen] Glaubensgehorsam aufzurichten um seines Namens willen" (Römer 1,5): Aus der Stärkung der ursprünglich überwiegend heidnischen römischen Christen wird die Missionierung der Völker nach dem Maßstab des Paulus.

Der beschriebene Gesamtplan Gottes nun, der vom immer schon zu Gott gehörenden, aber "verschwiegenen" (Einheitsübersetzung: "unausgesprochenen") Heilsgeheimnis ausgeht und schließlich bei der weltweiten Offenlegung dieses Geheimnisses durch die apostolische Predigt endet, zeugt von Gottes "Weisheit", von der dann das in Vers 27 neu ansetzende Gotteslob ausdrücklich spricht.

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Auslegung

Verse 25b-26: Die Durchbrechung eines Musters

Der Gedanke, dass etwas bei Gott verborgen war, bis es schließlich offenbar wurde, ist keine Erfindung desjenigen, der den Schluss des Römerbriefs formuliert hat. 

Seinen Ursprung hat dies sogenannte "Revelationsschema", also "Offenbarungsschema" einmal mehr in der Apokalyptik, jener zunächst jüdischen, dann ins Christentum übernommenen theologischen Grundströmung, die angesichts der (politischen) Katastrophen ihrer jeweiligen Zeit in naher Zukunft einen Abbruch der Unheilsgeschichte durch Gott ankündigt zum Heil derer, die im Glauben an ihn festhalten. Vermittler dieses "Geheimwissens" um die Endzeit, in der man sich befindet, ist ein Seher wie Daniel (Altes Testament) oder Johannes (Buch der Offenbarung) im Neuen Testament. Hierhin gehört die Vorstellung, dass Gott, was er von Ewigkeit her vorhatte, aber bislang verborgen hat, einem Einzelnen oder einer kleinen Gruppe offenbart.

Im Neuen Testament findet sich dieses Schema öfters wieder, auffallenderweise zumeist in eindeutig nachpaulinischen Schriften. Die vier wichtigsten Belege seien zitert:

"3 Durch eine Offenbarung wurde mir das Geheimnis kundgetan, wie ich es soeben kurz beschrieben habe. 4 Wenn ihr das lest, könnt ihr erkennen, welche Einsicht in das Geheimnis Christi mir gegeben ist. 5 Den Menschen früherer Generationen wurde es nicht kundgetan, jetzt aber ist es seinen heiligen Aposteln und Propheten durch den Geist offenbart worden: 6 dass nämlich die Heiden Miterben sind, zu demselben Leib gehören und mit teilhaben an der Verheißung in Christus Jesus durch das Evangelium. 7 Dessen Diener bin ich geworden dank des Geschenks der Gnade Gottes, die mir durch das Wirken seiner Macht verliehen wurde. 8 Mir, dem Geringsten unter allen Heiligen, wurde diese Gnade zuteil: Ich soll den Heiden mit dem Evangelium den unergründlichen Reichtum Christi verkünden 9 und enthüllen, was die Verwirklichung des geheimen Ratschlusses beinhaltet, der von Ewigkeit her in Gott, dem Schöpfer des Alls, verborgen war. 10 So soll jetzt den Fürsten und Gewalten des himmlischen Bereichs durch die Kirche die vielfältige Weisheit Gottes kundgetan werden, 11 nach seinem ewigen Plan, den er durch Christus Jesus, unseren Herrn, ausgeführt hat." (Epheser 3,3-11)

"Er ist jenes Geheimnis, das seit ewigen Zeiten und Generationen verborgen war - jetzt aber seinen Heiligen offenbart wurde.27 Ihnen wollte Gott kundtun, was der Reichtum der Herrlichkeit dieses Geheimnisses unter den Völkern ist: Christus ist unter euch, die Hoffnung auf Herrlichkeit." (Kolosser 1,26-27)

"9 Er hat uns gerettet; mit einem heiligen Ruf hat er uns gerufen, nicht aufgrund unserer Taten, sondern aus eigenem Entschluss und aus Gnade, die uns schon vor ewigen Zeiten in Christus Jesus geschenkt wurde; 10 jetzt aber wurde sie durch das Erscheinen unseres Retters Christus Jesus offenbart. Er hat den Tod vernichtet und uns das Licht des unvergänglichen Lebens gebracht durch das Evangelium, 11 als dessen Verkünder, Apostel und Lehrer ich eingesetzt bin." (2 Timotheus 1,9-11)

"10 Nach dieser Rettung haben die Propheten gesucht und geforscht und sie haben über die Gnade geweissagt, die für euch bestimmt ist. 11 Sie haben nachgeforscht, auf welche Zeit und welche Umstände der in ihnen wirkende Geist Christi hindeute, der die Leiden Christi und die darauf folgende Herrlichkeit im Voraus bezeugte. 12 Ihnen wurde offenbart, dass sie damit nicht sich selbst, sondern euch dienten; und jetzt ist euch dies alles von denen verkündet worden, die euch in der Kraft des vom Himmel gesandten Heiligen Geistes das Evangelium gebracht haben. Das alles zu sehen ist sogar das Verlangen der Engel." (1 Petrus 1,10-11)

Tatsächlich findet sich auch ein Beleg bei Paulus selbst, nämlich in 1 Korinther 2,7-10, bei dem aber noch nicht einmal klar ist, ob er wirklich auf Paulus zurückgeht oder ob hier nicht z. B. Gegner zitiert werden. Auffällig ist, dass das eingebaute "Schriftzitat" mit Sicherheit nicht das Alte Testament zitiert, sondern aus einer Quelle stammt, die wir nicht kennen oder die fiktiv ist.1

Der Gesamtbefund spricht dafür, dass die Argumentation von Röm 16,25b-26 eher aus nachpaulinischer Zeit stammt. Wichtiger aber ist, wie das vorgegebene Schema in einem Punkt massiv verändert wird: Das "Geheimwissen" wird nicht einem Einzelnen und auch nicht einem exklusiven Kreis offenbart. Vielmehr ist das Ziel,  dass die ganze Welt, "alle Völker" davon erfahren sollen. "Heil" wie Gott es meint, ist keine Größe, die irgendjemandem vorzuenthalten wäre. Es ist nicht etwas, das unbedingt unter Verschluss zu halten wäre, damit nur Wenige davon profitieren, sondern es meint grundsätzlich alle. Das ist die Dynamik, auf die die "dýnamis" Gottes, seine in Bewgung setzende und veränderungsbewirkende "Macht" (s. unter Überblick zu Vers 25 und unter "Kunst etc.") zielt.

Während diese Botschaft sehr gut zum Geheimnis der Menschwerdung Gottes in Jesus, die wir an Weihnachten fiern, passt - "Menschwerdung" betrifft eben alle Menschen - , gibt es auch einen Aspekt der Lesung, der gerade zu Weihnachten eher vom Eigentlichen Ablenkt. Denn es besteht in der Exegese Einigkeit darin, dass diese Schlussverse des Römerbriefs das Offenbarungsgeschehen mit der apostolischen Predigt, und zwar ganz besonders derjenigen des Paulus in Verbindung bringen, Er wird zum "Völkerapostel" erklärt und erhält einen kanonischen Rang. Er ist in gewisser Weise der "Offenbarer". Weihnachten aber rückt nicht die Boten ins "Rampenlicht", sondern den, in dem Gott sich offenbaren wollte. Das aber ist Jesus selbst. Anders gesagt: Weihnachten ist die Zeit des Kindes im Stall, weniger der Bedeutsamkeit des Paulus, auch wenn sein Philipperhymnus (Philipper 2,6-11: Christus Jesus "war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, ...") eine der tiefsten Betrachtungen des Weihnachtsgeheimnisses ist.

 

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Kunst etc.

Dynamo, Abb. aus:  Encyclopædia Britannica (1911), Wikimedia Commons
Dynamo, Abb. aus: Encyclopædia Britannica (1911), Wikimedia Commons

"Dem aber, der die Macht hat ..." (Vers 25)

"dynamis" (griechisch) - "Macht" (in der Fassung der Einheitsübersetzung) lautet das erste Hauptwort der Lesung. Die Wiedergabe blendet viele Facetten des griechischen Ursprungswortes aus, die deutlich werden, wenn man überlegt, in welchen Lehnwörtern wir dýnamis im Deutschen verwenden: Dynamik/dynamisch, dynamisieren und Dynamo. Das Bild zeigt den Kern dieses kleinen, vom Fahrrad bekannten Stromgenerators. Niemand käme auf die Idee, bei diesem kleinen Gerät von "Macht" zu sprechen. Sehr wohl geht es um "Kraft" des Stromes, die wiederum durch die ständige, radbetriebene Drehung eines Magneten entsteht. 

"Kraft", "Bewegung" und "Wirksamkeit" sind also bei dem Wort auf jeden Fall mitzuhören, das in der Lesung mit "Macht" übersetzt ist. Gott ist einer, der in Bewegung setzen möchte, Kräfte zu verleihen vermag und tatsächlich auch die zugehörige Wirkmacht hat - so sagt es der Glaube -, wenn man sich auf ihn einlässt. Hier gibt es keine Automatismen und keine Blitze vom Himmel. Paulus verbindet diese Wirkkraft vor allem mit dem "Evangelium", mit dem Wort Gottes. Wo dieses Wort sich in das Herz einzunisten vermag und als mehr wahrgenommen werden kann denn als reines Menschenwort (vgl. 1 Thessalonicher 2,13: "Darum danken wir Gott unablässig dafür, dass ihr das Wort Gottes, das ihr durch unsere Verkündigung empfangen habt, nicht als Menschenwort, sondern - was es in Wahrheit ist - als Gottes Wort angenommen habt; und jetzt ist es in euch, den Glaubenden, wirksam."), da kann dieses Wunder des Kraftzuwachses, des Dynamisierens zu Bewegungen, die man vorher nicht für möglichgehalten, zur "Ermächtigung" zu Taten, die einem niemand zugetraut hat, zu Hoffnung in düsterster Aussichtslosigkeit und zu Mut trotz vieler eigener Schwächen, ja sogar zu einer Hoffnung auf Leben im Tod geschehen. Im Dunkel leuchtet dann ein Licht, oder, wie Jesus es sagen würde, aus einem zerfallenden Samenkorn (= Wort Gottes, das sich einnistet im Herzen) erwächst Frucht.

Dynamo - ein mögliches, von Römer 16 inspiriertes Bild für Gott. Und wie beim Fahrrad: In die Pedale treten muss eine jede und ein jeder tatsächlich selber.