Einheit in der christlichen Gemeinde auch und gerade mit denen, die anders "ticken" und deren Gedankenwelt einem eher fremd ist - dieses Ideal schärft Paulus im Lesungsabschnitt des Zweiten Adventssonntags ein und begründet es.
Leider fängt die Lesung "mittendrin" an und hört "mittendrin" auf. Denn die gesamte Argumentationskette des Paulus umfasst die Verse Römer 15,1-13. Vorausgegangen ist in Kapitel 14 die Auseinandersetzung mit dem offensichtlich drohenden Zerfall der christlichen Gemeinde von Rom, die zerstritten ist über die Frage, ob Fleisch gegessen werden darf oder nicht. Dabei geht es wohl um die Sorge, durch Verzehr von Fleisch, das unter Umständen nach jüdischen Reinheitsriten geschlachtet war, mit dem Judentum in Verbindung gebracht zu werden und damit politisch im eher antijüdischen Rom auf die falsche Seite gerückt zu werden. Daher essen in der Gemeinde einige gar kein Fleisch - Paulus nennt sie die "Schwachen" -, die anderen sind weitaus weniger ängstlich. Pauls nennt sie die "Starken". Da solche Unerscheidungen aber schnell in gegenseitige Verrurteilungen abdriften, droht die Einheit der Gemeinde zu zerbrechen.
Nach der fallbezogenen Argumentation in Kapitel 14 bedenkt Paulus in Kapitel 15 das Ganze grundsätzlich.
Vers 1: Grundthese: Die Starken müssen die Schwachen tragen
Vers 2: Ziel ist die Auferbauung der Gemeinde
Vers 3a: Grund: Christus hat den selbstlosen Einsatz für die anderen vorgelebt
Vers 3b: Beleg mit einem Zitat aus dem Alten Testament (Heilige Schrift)
Vers 4: Grundsatzerklärung zur bleibenden Bedeutung der Heiligen Schrift als "Trost"
Vers 5-6: Gebetswunsch: Der "Gott des Trostes" schenke Einmütigkeit (die Vers 1 fordert)
Vers 7: gegenseitige Annahme entspricht der Annahme durch Christus
Vers 8-9a: Annahme durch Christus bedeutet bzw. Gott zeigt sich in Gottes Hinwendung zu Juden wie Heiden gleichermaßen
Vers 9b-12: vier Schriftzitate als "Beweis" (Vers 9b: erstes Schriftzitat aus Ps 18,50)
Vers 13: abschließender Gebetswunsch um Hoffnung
Die Übersicht macht erkennbar, dass der Einstieg in die Lesung (die fettgedruckten Passagen) mit dem Hinweis auf die Bedeutung der Heiligen Schrift, die zur Zeit des Paulus nur aus dem Alten Testament bestand, nicht im luftleeren Raum erfolgt. Vielmehr geht es um die Klärung der Frage, warum Paulus immer wieder - auch bei der Problematik der Starken und der Schwachen - überhaupt mit der Bibel argumentiert. Überzeugt davon, dass der christliche Glaube tief in der Hl. Schrift verwurzelt ist (Verse 5-9a), folgt - sozusagen als praktische Anwendung dieser These - eine Kette von vier Schriftzitaten, von denen die Lesungsauswahl sich mit dem allerersten begnügt.
Vers 4: Die Schrift als Trost
Paulus ist zutiefst davon überzeugt, dass das, was als Altes Testament bezeichnet wird, nicht Schnee von gestern ist oder gar, wie es einmal der evangelische Theologe Rudolf Bultmann vormuliert hat, "vergangen und abgetan" ist. Es ist Gottes Wort für die jeweilige Gegenwart - die des Paulus ebenso wie für unsere Zeit. Im vorangehenden Vers 3 hat Paulus diesen Gedanken schon dadurch belegt, dass er einen Satz aus Psalm 69 als einen Vers versteht, der wie ein Gebet in den Mund Jesu angesichts seines Leidens und Sterbens passt: "Die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen" (Röm 15,3b zitiert Psalm 69,10). Doch "taugt" dieser Vers nicht nur als Gebet Jesu an seinen Vater (d. h. Gott), sondern als ganzer kann dieser Psalm auch zum Gebet der ungerecht Verfolgten und Leidenden durch alle Zeiten hindurch sein, wie folgende Verse aus Ps 69 zeigen:
30 Ich aber bin elend und voller Schmerzen, doch deine Hilfe, Gott, wird mich erhöhen.
31 Ich will im Lied den Namen Gottes loben, ich will ihn mit Dank erheben. ...
33 Die Gebeugten haben es gesehen und sie freuen sich! Ihr, die ihr Gott sucht, euer Herz lebe auf!
34 Denn der HERR hört auf die Armen, seine Gefangenen verachtet er nicht.
[Zum gesamten Psalm siehe unter "Kontext"].
Aus solchen und vielen anderen Stellen der Heiligen Schrift kann "Trost" erwachsen. Mit dieser Sicht reiht sich Paulus in eine jüdische Sicht auf die Heilige Schrift ein, die in Zeiten der Digitalisierung und des schnellen Internet vielleicht schwer zu vermitteln ist. Gegenäufig zu aller hastigen Aufnahme von Informationen hält z. B. 1 Makkabäer 12,9b in Zeiten der schwersten Krise fest:
"... unser Trost sind die heiligen Bücher, die wir besitzen."
Der Zustand des "Getröstetseins" ist aber wohl die Voraussetzung für die notwendige Geduld miteinander und für den Blick auf die gemeinsame Hoffnung der Gemeinde, der wichtiger ist als der Blick auf die Unterschiede.
Vers 5-6: Ein Gebetswunsch
Dieser Dreiklang von "Trost, Geduld und Hoffnung" ist aber alles andere als selbstverständlich und nicht einfach machbar. Daher bittet Paulus Gott um diese Haltungen als Gabe für die römische Gemeinde. Dabei hebt er sich allerdings die Bitte um Erfüllung mit "Hoffnung" für den zweiten Gebetswunsch in Vers 13 auf, der jedoch nicht mehr Teil des Lesungsabschnitts ist. Das eigentliche Ziel ist die "Einheit", oder paulinisch ausgedrückt: "eines Sinnes sein" und "einmütig Gott loben".
Gerade die letzte Formulierung hat es "ökumenisch" in sich. Ökumene zur Zeit des Paulus hat nichts mit katholisch und evangelisch zu tun, zielt aber dennoch auf die Überwindung innerchristlicher Grenzen. Nur verlaufen diese damals zwischen sich sehr stark am Judentum orientierenden Christinnen und Christen und solchen, die gerade an der Freiheit von allen jüdischen Gesetzesvorschriften ihre christliche Identität festmachen. Der Streit scheint, wenn man die Bitte um einmütiges Gotteslob ernst nimmt, schon so weit fortgeschritten zu sein, dass ein gemeinsamer Gottesdienst Aller bereits nicht mehr möglich war. Paulus ringt mit allen Mitteln um die Wiederherstellung der Einheit, denn nur sie kann den einen Gott, der in dem einen Jesus Christus Mensch geworden ist und unsere Existenz geteilt hat, glaubwürdig bezeugen. Vor dieser Herausforderung steht das Christentum bis heute.
Vers 7: Gegenseitige "Annahme"
Vers 7 greift das Thema "Einheit" weniger gottesdienstlich als alltagspraktisch mit dem Begriff "einander annehmen" auf. Außerdem wird der Blick von Gott stärker auf Christus gelenkt. Das Schwanken zwischen diesen beiden Polen - "Gott" und "Christus" - hat mit der doppelten Adressatenschaft des Paulus zu tun, die Paulus jetzt im Blick hat. Denn nun geht es nicht mehr um die Schwachen und die Starken, sondern um Heidenchristen und Judenchristen. Damit greift Paulus auf den Anfang des ganzen Briefes zurück. Denn um das Heil für alle, Juden wie Heiden, geht es in Röm 1-3. Ab Römer 8,7 geht es also auf der einen Seite um Christen, deren Wurzeln im Judentum liegen und die sich daher mit der Botschaft, dass Jesus Christus der von Gott gesandte Heilsbringer (Messias) sei, sehr schwer tun. An Gott selbst hingegen zweifeln sie kein bisschen. Ihnens tehen auf der anderen Seite die nicht aus dem Judentum stammenden Griechen und Römer gegenüber. Ihnen fiel der Christusglaube unter Umständen leichter. Die verschiedenen Formulierungen des Paulus, für den selbst der Glaube an den gekreuzigten und auferweckten Christus nicht einen Hauch zur Diskussion steht, ermöglichen beiden Gruppen, die Verkündigung des Paulus anzunehmen. Das darf man getrost eine missionarische Verkündigung nennen.
Vers 8-9a: Feine Unterschiede
Die beiden soeben genannten Gruppen werden in Vers 8-9a ausdrücklich genannt: als "Beschnittene" (= Judenchristen) und "Heiden" (= Heidenchristen). Dabei geht es insgesamt darum, die Forderung nach gegenseitiger "Annahme" (Vers) von Gott her (d. h. "theologisch") bzw. von Christus her (d. h. "christologisch") zu begründen. Egal, wo der Schwerpunkt liegt - immer erweist sich Gottes Handeln als annehmendes Handeln. Und das gilt es in der Gemeinschaft derer, die sich auf diesen Gott und seinen Sohn Jesus Christus berufen, nachzuahmen.
Konkret wird dieses "Annehmen" durch Gott einmal als "zum Diener werden" (gegenüber den Judenchristen) und einmal als "Erbarmen" (gegenüber den Heidenchristen) beschrieben (zu den dahinter stehenden "Motivationen" s. unter "Auslegung").
Vers 9b: Ein Psalmenwort zum Schluss
Indem Paulus mit dem ersten der vier alttestamentlichen Zitate Psalm 18,50 wiedergibt, schlägt er, der doch selber Judenchrist par excellence ist, sich auf die Seite der Heidenchristen und stimmt mit ihnen in ihr Gotteslob ein als Dank für dei Annahme durch Gott. Denn wie sonst sollte das "Ich" des Psalmverses im Zusammenhang des Römerbriefes zu verstehen sein, als dass Paulus es - zumindest auch - auf sich bezieht. Darüber hinaus ist es natürlich an dieser Stelle das "allgemeine Ich" einer und und eines jeden heidenchristlichen Betenden. Dass der Psalm von seinem alttestamentlichen Zusammenhang einmal ein ganz anderes Ich meinte (vgl. Psam 80,1: "Vom Knecht des HERRN, David, der dem HERRN die Worte dieses Liedes sagte an dem Tag, als ihn der HERR aus der Hand all seiner Feinde und aus der Hand Sauls errettet hatte."), darf Paulus getrost "übersehen", da es ihm nur auf den einen Vers ankommt und um ein ermutigendes Wort für die Heidenchristen.