Der Zyklus der Lesungen aus dem Römerbrief, der mit dem 11. Sonntag im Jahreskreis (14.6.2020) begonnen hatte, endet mit der Zweiten Lesung vom 24. Sonntag im Jahreskreis. Sie ist eine Art zusammenfassendes Glaubensbekenntnis des Paulus.
Einordnung in den Zusammenhang
Dieses "Credo" (Glaubensbekenntnis) integriert Paulus in den letzten Teil seiner insgesamt dreiteiligen Ermahnungsrede (Römer 12,1 - 15,13), die auf den wesentlich umfänglicheren Lehrteil Römer 1,18 - 11,36 folgt. Die auf die Lebenspraxis zielenden 4 Schlusskapitel machen deutlich, dass Theologie (der Lehrteil) für Paulus nicht alltagsferne oder welt-abgehobene "Theorie" ist, sondern sich im Alltag des Miteinanders konkretisieren muss. Dabei beleuchten diese vier Kapitel 3 unterschiedliche Aspekte:
Kapitel 12 formuliert die auf die Christinnen und Christen hin orientierten Grundsätze einer Liebesethik. Diese verstehen sich als Folge derselben Liebe Gottes, die sich in der Kreuzeshingabe des Sohnes gezeigt hat (vgl. den theologischen "Grundlagen"-Satz Römer 5,8: "Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren.")
Kapitel 13 geht der Frage nach, wie christliche Existenz innerhalb eines nicht christlichen Staates aussehen soll.
Kapitel 14 und 15 wiederum lenken den Blick auf die christlichen Hausgemeinden in Rom und zeigen auf, wie der interne Umgang der Christinnen und Christen untereinander, besonders da, wo die in ihren Überzeugungen voneinander abweichenden Judenchristen, die z. B. noch an den jüdischen Essensvorschriften festhalten, und die Heidenchristen, die solche Einschränkungen nicht kennen und nicht nachvollziehen können, aufeinander stoßen. Was bedeutet in den dabei entstehenden Diskussionen und Streitgesprächen ein Dialog in Liebe?
Eine wesentliche Maßgabe des Paulus zu diesem Thema lautet: Für beide Positionen, juden- wie heidenchristlich - gilt, dass sie "aus Glauben" (Röm 14, 23) vertreten werden. Und dies ist erst einmal gegenseitig anzuerkennen. Unter solcher positiver Voraussetzung, die nicht von der Vorverurteilung, sondern dem prinzipiellen Respekt vor dem Anderen ausgeht, kann die Gesprächsführung von christlicher Liebe getragen sein und zu für beide Seiten erträglichen Lösungen führen.
Wenn aber der Glaube das einigende Band ist, wundert es nicht, dass Paulus diesen Glauben noch einmal "definiert". Dazu greift er auf einen möglicherweise bereits unabhängig vom konkreten Brief formulierten katechetischen Text zurück, eine Art "christologisches Lehrstück" (Michael Theobald), dessen drei Verse (Römer 14,7-9) sich erkennbar von den umgebenden Versen abheben.
Aufbau des Lesungstextes
Für die ursprüngliche Selbstständigkeit des kleinen christologischen Lehrstücks spricht, dass die Verse weder inhaltlich noch von irgendwelchen Stichwörtern her einen Bezug zur umgebenden Fragestellung des richtigen Essens und Trinkens erkennen lassen. Vielmehr gestaltet sich dieses Credo so, dass es das christliche Kernbekenntnis "Christus ist gestorben und lebendig geworden" (vgl. 1 Thessalonicher 4,14a: "Denn wenn wir glauben, dass Jesus gestorben und auferstanden ist, ...") auf eine bestimmte Fragestellung hin auslegt. Dazu wird aus den Elementen des Kernbekenntnisses ein neuer Bekenntnissatz in Wir-Perspektive formuliert (Vers 8), der von einem hinführenden (Vers 7) und einem begründenden Satz (Vers 9) gerahmt wird.
Vers 7: Eine These
Das Thema des Lehrstücks ist also nicht Essen und Trinken, sondern Sterben und Leben. Paulus irritiert - wahrscheinlich damals wie heute - mit der These, dass irdisches Leben und irdisches Sterben grundsätzlich gleichrangig seien. Dies gilt allerdings nur - wie die Verse 8-9 zeigen werden - vor dem "Herrn" , also von Jesus Christus her gesehen und auf ihn hin!
Ohne diese Christus-Perspektive machen Leben und Sterben natürlich einen gewaltigen Unterschied. Wenn der einzige Horizont des Menschen er selbst ist ("sich selbst leben"), gilt es einerseits, diesen Horizont soweit wie möglich vor sich offen zu halten, also das irdische Leben so lange wie möglich währen zu lassen bzw. - unter der Voraussetzung heutiger Möglichkeiten betrachtet - es so weit wie möglich zu verlängern; andererseits ist dann der Tod der engültige Horizontverlust. Mit dem Selbst der eigenen Person endet dann auch jede Perspektive ("sich selbst sterben") bzw. man muss ausweichen auf Andere oder Anderes, in denen bzw. in dem man glaubt weiterzuleben.
Interessanterweise nutzt Paulus die Grundsatzaussage "Keiner von uns lebt sich selber und keiner stirbt sich selber" nicht zu irgendeiner moralischen Anweisung (z. B. zu weniger Egoismus), sondern als Feststellung, die für "uns", d. h. die für diejenigen zutrifft, die glauben. Nicht um eine Mahnung vor irgendwelchen Formen des Egoismus geht es (nach dem Motto: der Christ solle gefälligst für Andere leben und sein Dasein opfern), sondern um die tröstliche Zusage, dass der glaubende Mensch im Leben wie im Sterben nicht zur Einsamkeit und Vereinzelung verdammt ist, sondern in einer tragfähigen Beziehung lebt, die dem Leben seine wahre Lebendigkeit gibt und das schwere Sterben aushalten und mit hoffnungsvollem Blick geschehen lässt.
Vers 8: Die Erläuterung der These
Was Vers 7 negativ bestimmt hat - "keiner lebt bzw. stirbt sich selber" -, wird im Mittelsatz positiv bestimmt. Der reine Selbstbezug ("sich selber") wird ersetzt durch eine Zugehörigkeitserklärung, die prinzipiell und immer gilt: Jesu Christus ("dem Herrn"). Dabei mach die Schlussformulierung ("wir gehören dem Herrn" - wörtlich: "des Herrn sind wir" [griechisch: toũ kyríou ẻsmén]) deutlich, dass diese Beziehung nicht einfach eine vom Menschen gewählte oder gar geschaffene, sondern eine vom Herrn und damit von Gott selbst eröffnete und ermöglichte Beziehung ist, für die die irdische, für den Menschen so schmerzliche oder auch die Existenz erschütternde Unterscheidung zwischen Leben und Tod völlig irrelevant (unerheblich) ist. Diese Beziehung gilt - so sagt der Glaube - grundsätzlich und immer: bereits in diesem Leben (sie ist also keine Vertröstung), aber auch unverlierbar über den Tod hinaus. Hier zeigt sich die ganze Herausforderung des Glaubens: gegen die Wucht aller Todeserfahrungen bei anderen (ob familiär, im Freundeskreis oder auch in der Berichterstattung aus aller Welt) und gegen die Wucht aller eigenen (egal ob mit Gelassenheit oder mit Angst gepaarten) irdischen Todesgewissheit anzuglauben, dass der Mensch auch im Tod sich selbst und seinen Horizont, der Gott selbst ist, nicht verliert.
Vers 9: Die Begründung der These
Kann man Vers 8 als die nähere Erklärung zu Vers 7 auffassen (Vers 8 besagt also, wie Vers 7 genauer zu verstehen ist), liefert Vers 9 die Begründung für Vers 8. Die Zugehörigkeit zu Christus, die Leben und Tod übergreift, ist begründet im Geheimnis von Tod und Auferweckung Jesu als dem die Macht des Todes auslöschenden Gottesereignis schlechthin. Emphatisch und euphorisch kleidet Paulus die Todeserklärung des Todes durch Gott in der Auferweckung des gekreuzigten Sohnes einmal in die Doppelfrage:
"Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel? " (1 Korinther 15,55).
Um des engen Wortbezugs zu dem Satz vom "Leben und Sterben" willen ändert Paulus die ihm überlieferte Bekenntnisformel: "Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift, 4 und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift" (1 Kor 15,3-5) und ersetzt die "auferweckt" durch das Wort "lebendig werden".
Das in der Auferweckung errungene bzw. erwiesene Herr-Sein über Leben und Tod begründet sein Herr-Sein über die Lebenden und die Toten. Die Kehrseite zu diesem Herr-Sein ist nicht die Angst der Abhängigen, sondern das tiefe Vertrauen der aus ihren Ängsten Befreiten.
Das ist der Glaube, um den es Paulus geht und angesichts dessen auch die Frage, nach welchen Speisevorschriften jemand lebt oder nicht lebt, sich relativiert.
Genau dieser Relativierung dient das kleine christologische Lehrstück, dem unmittelbar der Vers vorangeht:
"Und wer Fleisch isst, tut es zur Ehre des Herrn; denn er dankt Gott dabei. Und wer kein Fleisch isst, unterlässt es zur Ehre des Herrn und auch er dankt Gott" (Römer 14,6).
Immer geht es um den Gott, der als Herr über Leben und Tod sowie über die an ihn glaubenden Lebenden und Toten diese zu einer tieferen Einheit bestimmt hat, die jede angeblich noch so gravierende Meinungsverschiedenheit übersteigt und umfängt.