Wer den Nächsten liebt - und zu "den Nächsten" zählen im Kontext der Lesung auch die regierenden Römer - erfüllt nicht nur Gottes Weisung, sondern hat auch erfasst, was der tiefe und eigentliche Sinn des göttlichen Willens ist.
Einordnung in den Zusammenhang
Mit Kapitel 12 schwenkt Paulus im Römerbrief aus der theologischen Belehrung über zur ethischen Ermahnungn. Der Glaube an die Allen, Juden wie Nichtjuden, geltende Gerechtigkeit Gottes, d. h. sein grundsätzliches Ja zum Menschen, an dem er in aller Treue über den Tod hinaus festhält, muss sich bei den Glaubenden praktisch auswirken. Dazu entwickelt - verkürzt gesagt - Kapitel 12 eine entsprechende Liebesethik (Römer 12,10: "Seid einander in brüderlicher Liebe zugetan, ...")- weil ja auch Gottes Gerechtigkeitshandeln ein Handeln aus Liebe ist (zentral: "Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren" [Römer 5,8]).
Während Kapitel 12,9-21 eher das interne Gemeindeleben im Blick hat, wendet sich Kapitel 13 hingegen der Frage zu, wie ein solches christliches Leben in einem grundsätzlich nicht christlich tickenden Staat gelebt werden kann. Es geht also um die Außenbeziehungen.
Die unmittelbar dem Lesungsabschnitt vorangehenden Verse Römer 13,1-7 drängen zunächst einmal auf eine grundsätzliche Anerkennnung des Staates. Christinnen und Christen sollen nicht durch Gesetzesbruch auffallen. Steuern sind in jedem Fall zu zahlen. Schwierig ist ganz sicher, das Paulus die staatliche Macht und Ordnung für gottgewollt erklärt. Die Diskussion dazu muss darauf verschoben werden, wenn die genannten Verse als Lesung anstehen, bzw. im Rahmen der vollständigen Römerbriefkommentierung erfolgen. Immerhin sei aber bereits an dieser Stelle darauf verwiesen, dass hier nicht einfach ein altertümliches und vielleicht abstrus empfundenes Denken vorliegt. Noch der bedeutende Philosoph Georg Friedrich Hegel (1770 - 1831) sah im politisch-gesetzlich geordneten preußischen Staat eine Verwirklichung des "Weltgeistes", der in seinem Denken die Fumktion Gottes einnimmt.
Vers 8: Schulden darf es nur in der Liebe geben
Die Mahnung in Vers 7, niemandem etwas schuldig zu bleiben, worauf er einen Anspruch hat (Beispiel Steuer oder Zoll) - bildet die Brücke zur sehr auffallend formulierten Weisung von Vers 8a, mit der die Lesung einsetzt. In Umschreibung lautet sie: "Das einzige, wo ihr anderen etwas schuldig bleiben dürft, ist die Liebe." Dahinter steckt offensichtlich die Vorstellung: Lieben kann man nie genug. Und deshalb wird man wohl immer hinter dem, was gefordert ist, zurückbleiben. Hier etwas schuldig zu bleiben, ist geradezu unvermeidlich, weil ja das Maß der Liebe Gott selbst, an das aber kein Mensch heranreichen kann. Denn kein Mensch ist Gott!. Dieser bei allem Bemühen des Menschen bleibende Mangel darf getrost Gott überlassen werden und braucht deshalb keine Angst zu machen, erst recht nicht gegenüber dem Staat, dessen Macht zwar eine göttlich verliehene sein mag, die aber wiederum von nicht göttlichen und darum von in gleicher Weise fehlbaren Menschen ausgeübt wird.
Der nächste Satz (Vers 8,b) bringt allerdings noch einmal eine ganz andere Perspektive ein., deren eigentliche Zielrichtung weniger der Staat als die besonders in Römer 3 vorangegangene Diskussion um die Bedeutung des "Gesetzes" ist. Anders, als man beim alleinigen Hören des ersten Lesungssatzes meinen könnte, spielt Paulus nämlich nicht auf das staatliche Gesetz, also konkret auf die römische Rechtsordnung an, sondern auf das, was das Judentum - und damit auch das aus dem Judentum hervorgegangene Christentum - unter "Gesetz" versteht. Es sind die Weisungen, die einst Mose bei der Flucht aus Ägypten (Exodus) am Sinai von Gott erhalten hat und die sich vor allem in den Büchern Exodus, Levitikus und Deuteronomium (2. - 3. und 5. Buch Mose) finden. "Torah" ist der hebräische Oberbegriff für die Weisungen Gottes, der leider etwas vereinseitigend und mehr vom griechischen Denken her kommend oft einfach mit "Gesetz" wiedergegeben wird. Es gibt aber im Alten Testament auch die priesterliche und die prophetische Torah. Und schließlich scheint mit Psalm 1,2 mit der "Weisung [tôrah] des HERRN" die Gesamtheit der 150 Psalmen gemeint zu sein. Mit anderen Worten: "Torah" ist ein zusammenfassender Begriff für den Willen Gottes, und den sieht Paulus wiederum zusammengefasst im Liebesgebot. Damit klammert er die kutlischen Anteile der Torah Israels aus, die für ihn ein zu großes Hindernis für die Gewinnung der Nichtjuden für das Christentum wären und die durch das zentrale Geheimnis von Tod und Auferweckung Jesu als der Beendigung allen Opferkultes auch ihre Bedeutung verloren haben. Die ethischen Anteile aber bleiben für ihn unverrückbar in Geltung, insofern sie letzlich alle auf die Forderung zu gegenseitiger Liebe zurückzuführen sind. In diesem Sinne konnte Paulus schon in Römer 3,31 kurz und bündig feststellen:
"Setzen wir also durch den Glauben das Gesetz außer Kraft? Im Gegenteil, wir richten das Gesetz auf."
Vers 9: Kein neues Gebot
Mit diesem Vers veranschaulicht Paulus was er meint, indem er zentrale Weisungen aus den 10 Geboten in einer eigenständigen und von der biblischen Abfolge abweichenden Auswahl zitiert (in jüdischer Zählung das siebte, sechste, achte und zehnte Gebot: vgl Deuteronomium/5. Buch Mose 5,6-21). Egal ob Ehebruch- oder Tötungs-, Diebstahl- oder Begehrensverbot (der fremden Ehefrau oder auch des fremden Sachbesitzes) - alles sind bereits im Ursprung Weisungen zur Nächstenliebe als Antwort auf die durch nichts als Liebe begründete Herausführung Israels aus Ägypten (vgl. Deuteronomium 5,6: "Ich bin der HERR, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus." als Eröffnungssatz der 10 Gebote und dei nachfolgende Deutung in Deuteronomium 7,8: "Weil der HERR euch liebt und weil er auf den Schwur achtet, den er euren Vätern geleistet hat, deshalb hat der HERR euch mit starker Hand herausgeführt ...").
Diese erwählende und befreiende Liebe Gottes ist dieselbe , die auch am Werke ist, wenn Gott sich auf das irdische Gewaltgeschehen einlässt, um es zugleich endültig auszuhebeln und ad absurdum zu führen im Tod und Auferweckung seines Sohnes, um so allen Menschen einen Heilshorizont zu eröffnen. Die Befreiung aus der Vorstellung, dass Gewalt die letzte Lösung ist oder das letzte Wort hat sowie die Befreiung von der letzten Gewalt, welche der Tod bedeutet, das ist die Liebestat Gottes, aus der sich die Liebesforderung Gottes - und zwar vor allem zur Liebe untereinander - ableitet.
Die Formulierung des Gebotes der Nächstenliebe hat Paulus nicht etwa aus dem Munde Jesu, sondern sie stammt aus Levitikus/3. Buch Mose 19,18. Offensichtlich treffen sich aber Paulus und der Jesus der Evangelien in der Sichtweise der Zentralität des Liebesgebots wie auch in ihrer Berufung auf Levitikus 19,18 (s. weiter unter "Auslegung").
Vers 10: "Zwei Fliegen mit einer Klappe"
Der letzte Lesungsvers verbindet das Gesagte mit den Ausführungen aus Römer 13,1-7, die das Verhältnis zum Staat ansprechen. Von hier stammt das Stichwort "Böses". Geradezu einhämmernd warnen die Verse 3-4 vor der "bösen Tat" , weil diese - und das nach Paulus völlig zu Recht - dem weltlichen Gericht und seinen Strafmaßnahmen untersteht. Im Auftrag, die böse Tat zu meiden, kann es keinen Unterschied zwischen weltlichem und christlichem Ethos geben. Paulus verkündet also keine Sondermoral.
Allerdings ist die weltliche Gesetzgebung eher eine Verbots- und Vermeidungsethik. Diese ist in der Tora natürlich auch enthalten (alle in Vers 9 angeführten Beispiele sind Negativ-Gebote: "Du sollst nicht ..."). Aber sie werden für Paulus zusammengehalten und -gefasst in einem übergreifenden positiven Gebot, das staatliche Gesetzgebung so nicht kennt: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst". Der Vorteil für Christinnen und Christen ist gemäß Paulus: Wer sich an diesem positiv formulierten und damit nicht auf Angst, sondern auf Nachahmung vorangehender Gottesliebe und auf Motivation aufbauenden Gebot orientiert, kommt erst gar nicht in die Gefahr, "Böses" zu tun und so mit dem staatlichen Gesetz in Konlikt zu geraten. Im Blick auf das göttliche Gesetz aber, für das Paulus beispielhaft und auszugsweise die Zehn Gebote zitiert hat, bedeutet die Nächstenliebe zugleich (s. Überschrift!) Erfüllung in einem doppelten Sinn:
- Wer den Nächsten liebt, erfüllt die Fordeungen des Gesetzes;
- zugleich ist mit der Nächstenliebe auch der "Vollsinn" des Gesetzes erfasst, also das, was es im Tiefsten und Letzten eigentlich will (etwa im Gegensatz zu Gängelung, Freiheitsbeschneidung, Pflichtenkatalog o ä.).
Beide Bedeutungen, "Erfüllung" und "Vollsinn", stecken in dem griechischen Wort plèrōma, das Paulus an dieser Stelle im Gegensatz zum Verb "erfüllen" in Vers 8 wählt.
Beide Verse - Vers 8 und Vers 10 - bilden im Griechischen übrigens einen literarisch ausgefeilten Rahmen, insofern sie in genau umgekehrter Reihenfolge der Satzglieder formuliert sind:
Vers 8: "Wer nämlich liebt den anderen, hat das Gesetz erfüllt."
Vers 10: "Die Erfüllung also des Gesetzes ist die Liebe."