Glaube ist für Paulus in erster Linie nicht eine Frage des Wissens oder des Gefühls, sondern der Lebenspraxis. Das, was die bzw. der auf den Namen Jeus Christi Getaufte glaubt, drängt zur "Verleiblichung" (Vers 1: "eure Leiber"), also zur Umsetzung in Taten in allen weltlichen Bezügen, in denen der Mensch mit seinem "Leib" unterwegs ist. In diesem Sinne hätte Paulus den von Luther so beargwöhnten Satz des Jakobusbriefes "Denn wie der Körper ohne den Geist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Werke tot" (Jakobus 2,26) mit Sicherheit unterschrieben.
Einordnung in den Zusammenhang
Mit Kapitel 12 beginnt im Römerbrief der zweite große Teil der inhaltlichen Ausführungen. Während nach den eröffnenden Versen Paulus in Römer 1,18 - 11,36 seine Theologie darlegt und entfaltet, die begründet, dass und inwiefern Gottes Heil allen - Heiden wie Juden - gilt, folgt in Römer 12,1 - 15,13 ein großer Abschnitt zur Praxis des Evangeliums. Anders und sehr poinitert formuliert: Auf die Rechtfertigungslehre folgen ethische Weisungen; auf die Darlegungen über die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu und seiner Auferweckung aus dem Tode folgen Maßgaben für das Handeln derer, die sich durch die Taufe auf diesen Jesus Christus und den in ihm wirkenden Gott eingelassen haben.
Wie so oft, stellt Paulus an den Anfang eines neuen thematischen Absatzes eine knappe, sehr grundsätzliche Ausgangsformulierung. Besonders deutlich war dieses Verfahren in den Lesungen vom 15. - 17. Sonntag im Jahreskreis zu sehen, die sich allesamt als Ausführung der Grundsatzthese Römer 5,18 von der alles Leid überbietenden Herrlichkeit,die die Glaubenden erhoffen, erwiesen haben.
Da es ab Kapitel 12 nicht mehr um theologische Darlegungen geht, steht diesmal am Anfang auch keine Grundsatzthese, sondern eine Grundsatzforderung, als deren Entfaltung Römer 12,3 - 15,36 gelesen werden kann.
Vers 1: Ermahnung und Ermutigung in einem
Gleich der Einstieg ("Ich ermahne euch") zeigt, wie ernst es dem Paulus ist, wenn er der Christengemeinde von Rom, die er weder gegründet noch je zuvor besucht hat, im Ankündigungsschreiben seines Besuchs mit ethischen Weisungen kommt. Dabei schillert das griechische Wort parakalō allerdings zwischen einem strengen "ermahnen"und einem aufbauend-zutrauenden "ermutigen". Sogar "trösten" kann es bedeuten, was an dieser Stelle allerdings wohl weniger eine Rolle spielt.
Die Mischung aus "Ermahnung" und "Ermutigung" - für die es im Deutschen kein zusammenfasendes Wort gibt- ist durchaus beabsichtigt und hat einen sachlichen Grund: Denn Paulus spricht im Folgenden nicht einfach nur in eigener, apostolischer Autorität. Der eigentlich Sprechende in ihm ist die "Barmherzigkeit Gottes", also genau die innere Haltung und nach außen (in Jesus) sich zeigende Zuwendung Gottes, die prinzipiell Allen gilt (vgl. dazu die Grundsatzthese in Römer 5,18: "Wie es also durch die Übertretung eines Einzigen für alle Menschen zur Verurteilung kam, so kommt es auch durch die gerechte Tat eines Einzigen für alle Menschen zur Gerechtsprechung, die Leben schenkt."). Paulus spricht aus dieser "Barmherzigkeit Gottes" heraus, auf die er nach seinem festen Glauben genauso selber angewiesen ist wie die Menschen, an die er sich wendet - unabhängig von ihrer Herkunft oder ihrem Stand.
Das Wissen um diese Barmherzigkeit Gottes ist Ermutigung und Auftrag zugleich - und zwar nicht zu Opfergottesdiensten, welcher Art auch immer, sondern zu Taten des "Guten, Wohlgefälligen und Vollkommenen" (Vers 2). Obwohl Paulus hier in der Formulierung eher allgemein bleibt, sich aber zugleich begrifflich an der Ethik der Popularphilosophie seiner Zeit orientiert, geht es um das Tun dessen, was in sich gut ist und nicht nur "gut für mich" ist. Paulus fordert zu einem "Glauben, der durch die Liebe wirkt" (Galater 5,6). Ein solcher Gottesdienst kann der Vernunft nicht widersprechen. Dies ist wohl der eigentliche Sinn der Rede vom "geistigen Gottesdienst". Vom Griechischen her ist nämlich von einem "logischen", also der Vernunft entsprechendem Gottesdienst die Rede (logikè latreía). Im Gesamthorizont des Neuen Testaments kann man auch an einen dem Logos ("Wort") entsprechenden Gottesdienst denken, der gemäß den Eröffnungsversen des Johannesevangeliums Christus selbst ist: "Im Anfang war das Wort (griechisch: hò lógos)" (Johannes 1,1). Auch wenn Paulus diesen konkreten Gedanken noch nicht gedacht haben dürfte, entspricht die Christusgemäßheit der Forderung zu Taten des "Guten, Wohlgefälligen und Vollkommenen" ganz sicher seiner Absicht.
Vers 2
Vernunftgemäßheit bedeutet für Paulus nicht Ableitbarkeit aus dem, was "man" in der Welt so tut. Paulus ist zutiefst überzeugt, dass die "Einverleibung in Christus", die mit der Taufe geschieht ("mit Christus begraben und auferweckt werden", "Christus anziehen" sind Bilder, die Paulus in Römer 6,4 bzw. Galater 3,27 für die Taufe wählt), den Menschen von innen heraus erneuert. Anderes wird für ihn wichtig und bestimmend als es ohne Christusbezug der Fall ist. An die Stelle der Selbstbezüglichkeit tritt im Sinne der Christusnachfolge der Gedanke der "Hingabe" (genau das verbirgt sich hinter dem aus der Welt der Opfer übernommenen Sprachbild der "Darbringung eurer Leiber": sich hingebender Ganzeinsatz für Andere). Die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit war wohl auch Paulus bewusst. Dennoch ist nach Paulus allein aus diesem von Christus her bestimmten Denken die Frage zu klären, was "gut, wohlgefällig und vollkommen" ist. Von daher ist die Grundhaltung des Christen für Paulus nicht Anpassung und Mitläufertum, aber auch nicht die Weltabgekehrtheit, sondern das "Prüfen", das Übernehmen des die Prüfung bestehenden "Guten" und die kritische Distanz gegenüber dem, was der Prüfung nicht standhält vgl.. bereits im ältesten überlieferten Brief des Apostels, 1 Thessalonicher 5,21: "Prüft alles und behaltet das Gute!"). Diese Prüfung ist eine Mischung aus Nutzung der eigenen Kräfte, zu denen Vernunft und auch Gewissen sowie der eigene Glaube gehören, und des Austauschs mit den anderen, die im selben Glauben unterwegs sind. In diesem Zusammenhang hat Paulus ein sehr großes Zutrauen in die Wirksamkeit des Geistes Gottes - ein größeres, als manch einer heute hat, die bzw. der eher von Angst und daraus abgeleitetem Absicherungswahn erfüllt ist.