"Neu" ist das Leitwort dieser Lesung. Dieses Wort meint das noch nicht Dagewesene, das für den Menschen nicht Machbare und doch so sehr Ersehnte: einen Zustand der unverstellten und unbedrohten, von jeder Angst, jedem Missverständnis und jeder Trauer befreiten Begegnung zwischen Gott und Mensch und auch der Menschen untereinander.
Einordnung der Lesung in den größeren Zusammenhang
Mit dem Fünften Sonntag in der Osterzeit springt die Lesungsfolge aus der Offenbarung in den Schluss des Buches: das 21. und 22. Kapitel. Vorangegangen sind, beginnend mit Kapitel 8, die Öffnung des siebten Siegels, die wiederum zwei siebenteilige Zyklen von Unheilsvisionen hervorbrachte: sieben Posaunen (Offenbarung 8,2 - 11,19) und sieben Schalen (15,1 - 16,21). Das jeweils letzte Element, also die siebte Posaune und die siebte Schale, eröffnen jeweils eigene Endzeitpanoramen: den Kampf zwischen Weltmacht und Gottesvolk in Offenbarung 12,1 - 14,20, das Endgericht in Offenbarung 17,1 - 20,15.
Nachdem der Raum des Unheils und des Gerichts von Johannes so mehrfach und in sich steigernder Intensität durchschritten wurde, geht ab Kapitel 21 "die Sonne auf": In reinstem Licht wird für den Seher die neue Welt Gottes sichtbar als Ziel aller Zeitläufte.
Aufbau der Lesung
Der Lesungsabschnitt umfasst drei Teile:
Verse 1-2 enthalten eine Doppelvision: Johannes sieht eine neue Schöpfung und ein himmlisches Jerusalem.
Verse 3-4 enthalten eine Audition (Hörvorgang): eine Stimme (ein Engel?)l deutet die Jerusalem-Vision.
Vers 5a: Dies ist der erste Satz einer zweiten Audition. Diesmal spricht Gott selbst. Der ausgewählte Teilvers beschränkt sich auf eine göttliche Bestätigung der ersten Vision. Die ausgelassene Fortsetzung, die bis Vers 8 reicht, enthält eine weiterführende Deutung dieser Vision aus Gottes Mund.
Vers 1: Neue Schöpfung
Johannes, der apokalyptische Seher und Verfasser der Offenbarung, muss wahrnehmen: Das endgültige Heil ist ein völliger Neuanfang. Was er sieht, umschreibt er mit Worten, die er aus der Tradition kennt. So heißt es am Ende des Buches Jesaja:
"Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird" (Jes 65,17).
Durch diesen Bezugstext ist auch klar, woher die neue Schöpfung kommt: Ihr Ursprung ist Gott selbst. Jes 65,17 spricht ausdrücklich vom göttlichen "Ich". Johannes verschweigt durch seine "neutrale" Formulierung ("Ich sah") zunächst den Urheber. Aber das "nachgereichte" Gotteswort in Vers 5 bestätigt die Interpretation:, wenn "der auf dem Throne" (das ist Gott) in Ich-Rede sagt: "Siehe, ich mache alles neu."
"Himmel und Erde" stehen für die gesamte Schöpfung, d. h. für eine völlige Entgrenzung des Heils. "Heilung des Kosmos" - so könnte man das Geschaute umschreiben. Es wird absolut nichts mehr geben, was als Bedrohung erfahren wird. Deshalb wird auch das "Meer" genannt. Hier geht es weder um reale Meere noch um eine Welt, die ohne Wasser auskommt. Das "Meer" ist biblisch Symbol des bedrohlichen Chaos, das Leben verschlingt, aber nicht wirklich hervorbringt. Nicht zufällig wird es an anderer Stelle in der Offenbarung zum Rückzugsort der bedrohenden Mächte (vgl. Offenbarung 13,13).
Vers 2: Himmlisches Jerusalem
Die zweite Vision "beschreibt" das in der ersten Vision Geschaute mit einem neuen Bild. Diesmal ist der Anknüpfungspunkt die Stadt Jerusalem, der zentrale Ort des Judentums, aber auch der Ausgangspunkt des Christentums. An die Stelle der also bekannten Stadt tritt - wie bei der Schöpfung - ein "neues" Jerusalem. Dass es vom Himmel kommt, lässt Gott als den eigentlichen "Baumeister" erkennen. Die Fortsetzung wird zeigen, dass es sich wieder um eine Chiffre und nicht um eine konkrete Stadt handelt, deren Koordinaten man angeben könnte. Die Verse Offenbarung 21,10-25 beschreiben nämlich dieses aus dem Himmel herabkommende Jerusalem eher als einen überdimensionalen Edelsteinwürfel, der nur Einlass kennt, aber keine Ausgrenzung und Verteidigung. Sie erübrigen sich, weil es keine Bedrohung gibt (s. o.) Das himmlische Jerusalem ist also ein weiteres Bild vollkommenen Heils.
Verse 3-4: Gott zeltet inmitten der Menschen
Eine Stimme vom Thron her spricht und nennt dabei Gott in der dritten Person. So kann die Stimme entweder nur einem der vier Wesen (Offenbarung 4,6) oder einem der unzähligen Engel gehören (Offenbarung 5,11). Wer auch immer spricht, er deutet Jerusalem als Ort der Gegenwart Gottes. Dabei fällt auf, dass der Begriff "Tempel" - der Ort der Gegenwart Gottes im Alten Testament, der seit 70 n. Chr. allerdings durch die Römer zerstört ist - vermieden wird. Statt dessen wird das griechische Wort für "Zelt" (skènè; Einheitsübersetzung: "Wohnung") gebraucht. Und selbst das mit "wohnen" übersetzte Verb bedeutet wörtlich "zelten" (griechisch: skèno). Durch die deutenden Worte der himmlischen Stimme wird also bestätigt, dass es beim himmlischen Jerusalem nicht um Architektur geht. Das Zelt entlässt biblisch aus sich vor allem zwei Assoziationen: Beweglichkeit (im Gegensatz zum festen Bauwerk) und Begegnung. "Zelt der Begegnung" hieß nämlich das transportable Heiligtum während der Zeit der Wüstenwanderung Israels nach der Flucht aus Ägypten (leider übersetzt die Einheitsübersetzung mit "Offenbarungszelt", vgl.z. B. Exodus 31,7).
Wenn aber das Zeichen der Heilszeit ist, dass nicht mehr die Menschen ein Zelt für Gott bauen, sondern dass Gott sein Zelt unter den Menschen aufschlägt, so soll deutlich werden: Gott verheißt pure Begegnung.
Das so entstehende Verhältnis zwischen Gott und Mensch wird in ein weiteres aus dem Alten Testament bekanntes Bild gefasst: das Bild des Bundes. Heißt es im Alten Testament immer wieder: "Ihr werdet mein Volk sein und ich werde euer Gott sein" oder ähnlich (Jeremia 30,22; vgl. Deuteronomium 29,11-12; Levitikus 26,12), so wird in der Offenbarung jede Engführung auf ein einzelnes Volk aufgehoben. Die sogenannte "Bundesformel" "Ihr werdet mein Volk sein ..." wird in Offenbarung 21 auf die Menschen insgesamt bezogen: "Sie" werden sein Volk sein. Allerdings nimmt Offenbarung trotz der großen Weite des Bildes den Gerichtsgedanken ernst: Es geht nicht einfach um alle Menschen, sondern um "Menschen ... aus allen Stämmen und Sprachen, aus allen Nationen und Völkern" (Offenbarung 5,9). Wen aber Gott wirklich ausschließt, darüber hat der Mensch nicht zu befinden. Erst recht hat er das Gericht nicht vorab selbst in die Hand zu nehmen. Die Offenbarung lädt an keiner Stelle zur Gewalttätigkeit ein!
Der Vers 4 zitiert ein weiteres Mal das schon aus Offenbarung 7,17 bekannte Wort aus Jesaja 25,(6-)8: die Verheißung einer "Zeit", in der auch die allerschlimmste Bedrohung, der Tod, beseitigt sein wird (s. dazu die Auslegung zur Zweiten Lesung am Vierten Sonntag der Osterzeit, besonders auch die Rubrik "Kontext"). Dazu wird auf das Jesaja-Motiv des "Abwischens der Tränen" wörtlich zurückgegriffen, um es dann eigenständig zu verstärken.
Vers 5: Resümee
Vers 5 ist so etwas wie ein göttliches Resümee, das noch einmal das entscheidende Stichwort "neu" aufgreift. Für das erwartete Heil gibt es kein "altes" Vorbild. Es ist gegenüber allem, was wir kennen, neu und darin größer als alle menschlichen Sehnsüchte.