Glaube will in erster Linie nicht gelehrt, sondern vor allem gelebt werden. Der Verfasser des Kolosserbriefes ist zutiefst überzeugt, dass Paulus für ein solches Leben aus dem Glauben ein absolut überzeugendes Beispiel gibt. Nicht Einbildung und Stolz diktieren hier die Feder, sondern der Wunsch, andere mit der eigenen Begeisterung anzustecken und "bei der Stange zu halten".
Einordnung in den Zusammenhang
Das erste Kapitel des Kolosserbriefs, aus dem der Lesungsabschnitt genommen ist, zeigt einen klaren und leicht nachvollziehbaren Aufbau:
Verse 1-11: Gruß, Dank und Fürbitte als Brieferöffnung
Verse 12-14: theologischer Verkündigungssatz: "Durch Christus haben wir die Erlösung"
Verse 15-20: Lehrgedicht über die Alleinbedeutsamkeit Christi ("Er ...") [Lesung des letzten Sonntags]
Verse 21-23: Der Glaube an diesen Christus muss gelebt werden ("Ihr ...")
Verse 24-29: Paulus als Verkündiger dieses Glaubens ("Ich ...") [heutige Lesung, die Vers 29 auslässt].
Die Stärkung der Gemeinde, sich nicht von Lehren beeinflussen und blenden zu lassen, die mit Zusatzlehren und -praktiken die Alleinbedeutsamkeit Jesu Christi in Frage stellen, erfolgt auf drei Wegen:
1. über die Erinnerung an einen vermutlich den angesprochenen Christen und Christinnen bekannten Glaubenstext (Verse 15-20; s. dazu sowie zur Einleitung in den Kolosserbrief den "Überblick" am vorigen Sonntag),
2. über eine klassische Ermahnung (Verse21-23)
3. und schließlich über die Vorbildlichkeit des Paulus.
Letztere steht im Mittelpunkt des Lesungsabschnitts Verse 24-28, zu dem eigentlich noch der zusammenfassende Schlussatz Vers 29 gehört ("Dafür mühe ich mich und kämpfe ich mit Hilfe seiner Kraft, die machtvoll in mir wirkt.") , der aber vermutlich wegen der betonten Ich-Botschaft nicht das Ende der Lesung bilden sollte.
Vers 24: Vorbild Paulus
Dieser Vers ist ganz aus der Perspektive des im Gefängnis sitzenden Paulus formuliert, der für die Verkündigung seines Evangeliums von Jesus Christus alle erdenkbaren Mühen auf sich nimmt, auch alle leidvollen Erfahrungen. Aus dem tiefen Glauben, dass in dem von ihm verkündeten Glauben eine wirkliche Lebens- und Hoffnungsbotschaft steckt - immerhin geht es um eine Lebensperspektive über den Tod hinaus - kann er sich selbst da noch freuen, wo er bekämpft und eingesperrt wird. Hier wird deutlich, dass der Kolosserbrief seine Wirkung entfaltet, unabhängig von der Frage ob er wirklich von Paulus stammt oder ob ein Späterer verborgen im Namen dieses Paulus schreibt (s. dazu die Einleitung in den Kolosserbrief unter dem oben markierten Link). Die Tatsache, dass jemand von dem im Christus-Lehrgedicht (Verse 15-20) festgehaltenen Glauben so erfüllt sein kann, dass ihn nichts von der Freude an diesem Glauben abbringen kann, wird der Gemeinde als ein stärkendes und ermutigendes Argument zugesprochen. Sie soll sich von den eher freudlosen, ja, letztlich Angst machenden kosmischen Mächten und lebenseinschränkenden asketischen Praktiken, die andere Missionare verkünden, nicht irre machen lassen und fernhalten (s. Lesung voriger Sonntag).
Zum Gedanken der "noch fehlenden Bedrängnisse Christi" siehe unter "Auslegung".
Vers 25: Zur Fülle bringen
Gerade dieser Vers könnte ein Hinweis auf die nachpaulinische Verfasserschaft des Kolosserbriefes sein. Denn während Paulus von sich selbst immer als "Apostel" spricht aufgrund seiner Erfahrung mit dem auferweckten Christus, begegnet er hier als "Diener" (griechisch: diákonos) der Kirche nach der "oikonomía" Gottes. Das griechische Wort changiert zwischen "Heilsplan" und Umsetzung dieses Heilsplans in Form eines "Amtes": Paulus erfüllt seine Verkündigungsaufgabe als kirchlicher Amtsträger gemäß dem Heilswillen Gottes, der sich des Paulus (und aller in seinem Dienst ihm Folgenden) bedient, um Gottes Wort zur Fülle seiner Entfaltung zu bringen ("erfüllen"). Denn das Wort Gottes, das ein Wort der Verheißung ewigen Lebens ist und das in Jesus Christus menschliche Gestalt gewonnen hat, wird um seine Fülle und volle Wirkung gebracht, wenn niemand davon spricht.
Vers 26: Das "Geheimnis des Wortes Gottes"
Anders, als der deutsche Text vermuten lässt, dürfte das "Geheimnis" sich auf das "Wort Gottes" beziehen. Dieses schöpferische, heilsame und zuverlässige Wort nimmt seinen Anfang in der Schöpfung, die bereits mit dem immer schon beim Vater seienden Christus verbunden ist (s. Kolosser 1,15-16). Durch Menschwerdung, Kreuz und Auferweckung ist das beim Vater "verborgene" Wort1 erkennbar, d. h. "offenbar" geworden. Dies gilt natürlich nur für die, die dies auch glauben können. Genau jene in ihrer Gesamtheit - für den Kolosserbrief: die Kirche - werden hier als "Heilige" bezeichnet. Es sind die Getauften.
Vers 27: "Hoffnung" und "Herrlichkeit"
Dieser Vers nennt mit den Begriffen "Hoffnung" und "Herrlichkeit" den eigentlichen Grund zur "Freude", von der in Vers 24 die Rede ist. Während die Begriffe hier relativ abstrakt bleiben, füllen sie sich von Kolosser 1,5 ("Hoffnung, die für euch im Himmel bereitliegt") und von Kolosser 3,4 her ("Wenn Christus, unser Leben, offenbar wird, dann werdet auch ihr mit ihm offenbar werden in Herrlichkeit. "): "Hoffnung" meint nicht das Tun des Menschen, der hofft, sondern das, was den, der glaubt, erwartet und worauf er hoffen darf: ewiges Leben. Dieses wird über den Begriff "Herrlichkeit", der ganz auf die Sphäre Gottes verweist, als Lebensgemeinschaft mit dem göttlichen Christus näher bestimmt.
Dieses Ziel bzw. die "herrliche Hoffnung" wird aber nicht exklusiv nur den Gläubigen vor Augen gestellt, sondern steht von Gott her prinzipiell Allen offen. Verkündigung, wie sie Paulus bzw. der Verfasser des Kolosserbriefes betreiben, soll dafür sorgen, dass diese Hoffnung die Menschen aus allen Völkern erreicht. Ob sich Menschen dann von dieser Hoffnung anstecken lassen - wie z. B. ein Paulus -, liegt in ihrer freien Entscheidung. Der Glaube zwingt nicht.
Vers 28: Gottes Ja zum Menschen
Die Schlussformulierung des Verses 28, der als Ziel der Verkündigung festhält, "damit wir jeden Menschen vollkommen darstellen in Christus", dürfte etwas rätselhaft klingen. Tatsächlich greift er zurück auf Kol 1,22: "Jetzt aber hat er euch durch den Tod seines sterblichen Leibes versöhnt, um euch heilig, untadelig und schuldlos vor sich hintreten zu lassen."
Für die beiden Verben "darstellen" und "hintreten lassen" steht im Griechischen dasselbe Wort paristánō. Verbindet man auf diesem Hintergrund beide Verse mteinander, so soll wohl gesagt werden: In der befreienden Verkündigungsbotschaft soll den Menschen klar werden, dass sie aufgrund des Erlösungstodes Jesu und nicht aufgrund irgendeiner eigenen Leistung vor Gott als "heilig, untadelig und schuldlos" gelten. In anderen Teilen des Kolosserbreifes wird deutlich, dass damit nicht einfach ein Freifahrtschein erteilt wird für jegliches "unheilige, tadelige und schuldhafte" Handeln. Wohl aber wird gesagt: Die Voraussetzung, unter der der Mensch sein Leben führen und seine Entscheidungen für oder gegen diesen Gott treffen darf, ist erst einmal von Gott her ein vollkommenes Ja zum Nenschen und seiner Bestimmmung zum Leben.