Ab dem 15. Sonntag im Jahreskreis wird viermal als Zweite Lesung ein Absatz aus dem Kolosserbrief gelesen. Daher steht am Anfang wieder eine Einführung in das Schreiben. Wer direkt etwas zur Lesung erfahren will, scrollt einfach bis zur nächsten Überschrift weiter.
Kurze Einführung in den Kolosserbrief
Der Kolosserbrief operiert im Verborgenen. Hielt man ihn früher für einen späten Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde von Kolossä, vermuten heute die meisten Fachleute: Trotz des anders klingenden Wortlauts in Kolosser 1,1 ist weder Paulus selbst der Absender noch Kolossä die tatsächliche Empfängergemeinde. Der Ort lag im Tal des Flusses Lykos (ein Nebenfluss des Mäanders), knapp 20 km südlich der größeren Städte Laodizea und Hierapolis. Ins große Ephesus waren es schon 180 km. Er scheint allerdings im Jahr 61 n. Chr. einem Erdbeben zum Opfer gefallen zu sein. Das wäre - so eine These - die Chance gewesen, ein ca. zwei Jarhzehnte später verfasstes Schreiben als einen wiedergefundenen Brief des Paulus an die Gemeinde von Kolossä ausgeben zu können, dessen eigentlichen Verfasser wir nicht kennen und dessen Empfängergemeinde möglicherweise Ephesus war. Was heute vielleicht als "Betrug" oder "Fälschung" angesehen würde, war damals eine durchaus gängige Praxis. Sie diente dazu, durchaus im Sinne des angegebenen Autors weiterführende Gedanken, die auf neue Fragen und Herausforderungen antworten sollten, zu legitimieren und mit Autorität zu versehen. Von daher sind solche Schreiben immer auch um Kontinuität bemüht. Über die "Heiligkeit" der Schrift entscheidet am Ende auch nicht die konkrete Verfasserschaft, sondern die Tatsache, in das Verzeichnis der Heiligen Schrift aufgenommen worden zu sein. Daran bestand aber in der Kirche nie ein Zweifel.
Das Bemühen um Kontinuität zu Paulus lässt sich auf der reinen Textebene beim Kolosserbrief auch tatächlich deutlich erkennen: Er bezieht sich zurück auf den sicher paulinischen Philemonbrief, dessen Empfänger in Kolossä verortet wird. Der dort genannte Epaphras begegnet auch hier. Auch der Kolosserbrief setzt beim Autor Gefangenschaft voraus. Und schließlich kann man sogar Formulierungen finden, die auf den Philemonbrief zurückzugehen scheinen.
Neben diesen Rückbezügen ist ebenso unbestreitbar, dass der vermutlich ebenfalls nach-paulinische Epheserbrief sich seinerseits auf den Kolosserbrief zurückbezieht. Beide Briefe machen gegenüber Paulus das Thema "Kirche" stark. Während für Paulus unter diesem Begriff vor allem die Ortsgemeinde (z. B. von Korinth) verstanden wird, scheinen der Kolosser- und Epheserbrief bereits das größere, sich aus vielen Ortsgemeinden zusammensetzende Gesamtgebilde vor Augen zu haben, um dessen Einheit beide ringen.
Der "Punching Ball" des Kolosserbriefs ist dabei eine als "Philosophie" bezeichnete Lehre (vgl. dazu besonders das 2. Kapitel des Briefs). Inhaltlich geht es um die Bekämpfung einer Gruppe, die offensichtlich Kalenderfragen, Reinheits- und Askesegebote, Engelverehrung sowie eine Berücksichtigung der Elemente (Erde Wasser, Feuer, Luft) als wesentlichen Bestandteil des Glaubenslebens propagiert. Uneinigkeit herrscht unter den Fachleuten über die Träger dieser Lehre: Sind es eher heidnische Gegner oder, mit etwas größerer Wahrscheinlichkeit, Menschen aus dem eigenen christlichen Umfeld, die sich eine sehr spezielle Form des Judenchristentums zurechtgelegt haben, indem sie jüdische Vorschriften, aber auch aus anderen Anschauungen herrührende Vorstellungen (Überbetonung der Engel, Askese, Elemente) vermischten?
Der Gefährdung des christlichen Glaubens, wie Paulus ihn verkündet hat, durch die Annahme zusätzlicher, das Leben bestimmender, kosmischer Mächte führt zu einem allein Christus in die Mitte stellenden Bekenntnis. Hier ordnet sich genau die Lesung Kolosser 1,15-20 ein.
Überblick über den Lesungstext
Üblicherweise sprach man bei diesem Abschnitt aus dem Kolosserbreif von einem Christus-"Hymnus". Mittlerweile spricht man literarisch vorsichtiger von einem "Lehrgedicht", das erkennbar drei Strophen hat: Zwei Rahmenstrophen mit sehr ähnlichen Formulierungen sind durch eine Mittelstrophe getrennt bzw. verbunden. Die folgende Übersicht zeigt die Entsprechungen:
Die Aussagen des "Lehrgedichts" lauten:
Vers 15: "Bild des unsichtbaren Gottes"
Christus war immer schon bei Gott, also nicht nur vor seiner irdischen Existenz, sondern vor aller Schöpfung. Gott kann ohne ihn nicht gedacht werden. Auf diesen "präexistenten" Christus (s. dazu unter der Rubrik "Auslegung") zielt der Begriff "Bild des unsichtbaren Gottes"
Vers 16: "in ihm wurde alles erschaffen"
Als solcher war er bei der Schöpfung dabei. Es gibt es nichts Geschaffenes, dessen Existenz ohne ihn zu denken ist. Das entscheidende Wort lautet daher "Alles". Denn dass genau will ja der Kolosserbrief zeigen: Es gibt keinerlei Grund, irgendeine andere Macht in Betracht zu ziehen (Gestirne, Elemente etc.) außer Jesus Christus.
Verse 18b-20a: "Erstgeborener der Toten"
Als "Erstgeborener aus den Toten" (so die wörtliche Übersetzung) ist Christus der, der eben als Erster von den Toten auferstanden ist, um zugleich allen anderen voranzugehen. Das Ziel ist die Aufhebung allen Getrenntseins von Gott (Versöhnung), zu der Gott selbst durch Christus führen will. Also auch zu dem, was als "ewige Leben" bezeichnet wird, bedarf es nicht der Berücksichtigung anderer Mächte oder asketischer Übungen. In Christus ist die Fülle des Lebens enthalten, an der letztlich alle auf Gott Vertrauenden Anteil haben sollen.
Verse 17-18a: "in ihm hat alles Bestand"
Die mittlere Strophe spricht von der "Teilstrecke" zwischen Schöpfung und Auferweckung: Es geht um den Zusammenhalt des kosmischen "Leibs", also der gesamten geschaffenen Welt. Auch dieser Zusammenhalt wird von Christus bewirkt, und nicht durch irgendwelche andere zu verehrenden Mächte.
Es spricht Einiges dafür, dass dieses Lehrgedicht den Christen, an die der Kolosserbrief geschrieben wurde, bereits bekannt war. Der Verfasser mahnt also zu einem eindeutigen Glauben durch Erinnerung an vertraute Sätze, die er allerdings um zwei eigene Aussagen ergänzt:
Vers 18a: "der Leib aber ist die Kirche" (1. Ergänzung)
Er betont Christus auch als den Herrn der Kirche.
Vers 20b: "der Frieden gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut"
Und als Autor, der sich ganz in den Spuren des Apostels Paulus versteht, kann er das für diesen so zentrale Thema des Kreuzestodes Jesu, durch den die Versöhung im Letzten geschehen ist, nicht weglassen, auch wenn das Lehrgedicht ursprünglich davon nicht gesprochen haben mag, sondern sich auf Schöpfungs und auferstehungsaussagen beschränkte.