Der Kolosserbrief spricht von einer himmlischen Zukunft, die aber schon in die Gegenwart hineinragt und sie bestimmt. Kirche als Erlebnisraum der von Gott zur Freiheit gerufenen, aus solcher Haltung handelnden und von Hoffnung getragenen Menschen - so stellt sich der Kolosserbrief den "Leib" Kirche (Vers 18) vor.
Einordnung in den Kontext
Der Kolosserbrief fällt durch seine ungewöhnliche lange Eröffnung auf, die letztlich erst mit Kolosser 2,5 endet. Innerhalb dieser großen Eröffnung, die insgesamt die Verse 1,3 - 2,5 umfasst, zeigt sich folgende Struktur:
1,3-8: Dank für den Glauben und die Liebe der Gemeinde
1,9-11: Fürbitte für die Gemeinde um weitere Glaubensfrucht und Ausdauer
1,12-14: Aufforderung zum Dank an Jesus Christus
1,15-20: christologisches "Lehrgedicht", das diesen Dank begründet
1,21-23: Anwendung des im "Lehrgedicht" beschriebenen Heilswirkens Jesu auf die Angesprochenen
1,24 - 2,5: Der Apostel-Dienst des Paulus im Allgemeinen und sein Einsatz für die angesprochenen Gemeinden im Besonderen
Die beiden fett gedruckten Teile bilden den Textbestand der heutigen Lesung. Anders als in der kürzeren Lesungsauswahl zum 15. Sonntag im Jahreskreis/Lesejahr A (s. dort zur Einleitung in den Kolosserbrief), die sich auf die Verse 15-20 beschränkt, wird jetzt deutlich, dass das Christusgedicht nicht etwa ein isolierter Einzeltext im Kolosserbrief ist. Vielmehr begründet er die in den Versen 12-14 entwickelte "These", die geschickt in eine Aufforderung zum Danken gekleidet ist. Die Verse 21-23 machen dann deutlich, dass die Angeredeten ihre christliche Existenz allein dem verdanken, von dem im "Lehrgedicht" gesprochen wird.
Vers 12: "Anteil am Los der Heiligen, die im Licht sind"
Über die Aufforderung zum Dank wird ein Inhalt vermittelt. Die angesprochenen Gläubigen sollen sich bewusst machen, dass auf sie bereits das "Erbteil" ("Los", griech. klēros) wartet, das den "Heiligen im Licht" bestimmt ist. In dieser etwas verschlüsselten Redeweise meinen die "Heiligen" die Getauften. Die in der Taufe mitgeteilte Gabe ist der Heilige Geist, der "erleuchtet". Die Getauften sind also "im Licht". Dies wird im "Lehrgedicht" noch deutlicher werden: Als Getaufte und in Christus Unterwiesene wissen sie tatsächlich mehr als Andere. Sie wissen nämlich, dass Alles in dieser Welt einzig und allein von Christus zusammengehalten wird und können deshalb auf Spekulationen bezüglich anderer oder zusätzlicher kosmischer Kräfte verzichten. Auf die sich ganz an Christus bindenden Getauften aber wartet als "Erbteil" das ewige Leben, das Leben im Lichte Gottes selbst. Doch dieses Heil strahlt schon derart in in ihr jetziges Leben hinein, dass sie bereits jetzt in ihm unterwegs sind. Der "Himmel" beginnt für die Glaubenden schon "auf Erden".
Vers 13: "der Macht der Finsternis entrissen"
Dieser Vers lässt das "Licht" aus Vers 12 um so kräftiger leuchten, insofern er die "Finsternis" als Gegenmacht benennt. Sie steht von der ersten Seite der Bibel an als Symbol für den Bereich des Todes, der Leblosigkeit und auch der Sünde. Nicht zufällig wird bereits die Schöpfung in Genesis 1 - dem ersten Buch des Alten Testaments - verstanden als eine Umgestaltung der "Finsternis" und des "Tohuwabohu" in ein geordnetes Lebenshaus, dessen wichtigstes Element zunächst einmal das "Licht" ist: "Gott sprach: Es werde Licht!" (Genesis 1,3). Wenn Vers 13 statt vom "Licht" vom "Reich seines geliebten Sohnes" spricht, verdeutlicht er, dass er in räumlichen Vorstellungen denkt. Für den Kolosserbrief wird dieses "Reich" im Raum der Kirche als dem Lebensraum der Getauften erfahrbar (s. Vers 18a).
Aber für den Kolosserbrief gibt es immer noch genügend Menschen, die lieber den Mächten der Finsternis vertrauen und etwa einer merkwürdigen "Lehre von den Elementen" folgen (vgl. Kol0sser 2,20-21: "Wenn ihr mit Christus den Elementarmächten der Welt gestorben seid, warum lasst ihr euch dann, als würdet ihr noch in der Welt leben, vorschreiben: 21 Berühre das nicht, iss das nicht, fass das nicht an!"). Man könnte von einer Form der Esoterik sprechen, die der Kolosserbrief vom reinen Christusglauben deutlich absetzt.
Vers 14: "Erlösung" und "Vergebung der Sünden"
Die Attraktivität der Mächte der "Finsternis" ist nicht zu unterschätzen. Die Bindung an solche Mächte, die eher eine Tendenz zum Tode und zur Unfreiheit als zum Leben haben, ist für den Kolosserbrief "Sünde". Aus ihrer Mächtigkeit hat Jesus durch die grundsätzliche Überwindung des Todes "erlöst". Die eigentliche "Erklärung" erfolgt in Kolosser 2,14, einem der stärksten Sätze zum Verständnis des Kreuzestodes Jesu im Neuen Testament:
"Er hat den Schuldschein, der gegen uns sprach, durchgestrichen und seine Forderungen, die uns anklagten, aufgehoben. Er hat ihn dadurch getilgt, dass er ihn an das Kreuz geheftet hat."
Die Vermittlung dieses "Schuldenschnitts" für die Einzelnen erfolgt für den Kolosserbreif in der Taufe.
Das "Lehrgedicht" über Christus (Verse 15-20)
Die Fachleute streiten darüber, um was für eine Art Text es sich genau handelt. Früher sprach man gerne von einem "Hymnus". Doch, um es einfach zu sagen, dazu fehlt dem Text die Poesie. Er ist weniger von der Form, als vor allem vom Inhalt bestimmt, der in sehr konzentrierten Sätzen formuliert wird. Deshalb spricht man jetzt eher von einem "Lehrgedicht". Dabei spricht Vieles für die Vermutung, dass ein ursprünglicher Text, der dem Verfasser des Kolosserbriefs schon vorlag, von ihm durch zusätzliche Aussagen (Verse 18a und 20b) ergänzt wurde (eine schematische Übersicht zu dem "Lehrgedicht" findet sich bei der oben schon erwähnten Kommentierung der Zweiten Lesung am 15. Sonntag im Jahreskreis/Lesejahr A).
Vers 15: "Bild des unsichtbaren Gottes"
Christus war immer schon bei Gott, also nicht nur vor seiner irdischen Existenz, sondern vor aller Schöpfung. Gott kann ohne ihn nicht gedacht werden. Auf diesen "präexistenten" Christus (s. dazu unter der Rubrik "Auslegung") zielt der Begriff "Bild des unsichtbaren Gottes"
Vers 16: "in ihm wurde alles erschaffen"
Als solcher war er bei der Schöpfung dabei. Es gibt es nichts Geschaffenes, dessen Existenz ohne ihn zu denken ist. Das entscheidende Wort lautet daher "Alles". Denn das genau will ja der Kolosserbrief zeigen: Es gibt keinerlei Grund, irgendeine andere Macht in Betracht zu ziehen (Gestirne, Elemente etc.) außer Jesus Christus.
Verse 17-18a: "in ihm hat alles Bestand"
Die mittlere Strophe spricht von der "Teilstrecke" zwischen Schöpfung und Auferweckung bzw. Wiederkunft Christi: Es geht um den Zusammenhalt des kosmischen "Leibs", also der gesamten geschaffenen Welt. Auch dieser Zusammenhalt wird von Christus bewirkt, und nicht durch irgendwelche andere zu verehrenden Mächte.
Verse 18b-20a: "Erstgeborener der Toten"
Als "Erstgeborener aus den Toten" (so die wörtliche Übersetzung) ist Christus der, der eben als Erster von den Toten auferstanden ist, um zugleich allen anderen voranzugehen. Das Ziel ist die Aufhebung allen Getrenntseins von Gott (Versöhnung), zu der Gott selbst durch Christus führen will. Also auch zu dem, was als "ewiges Leben" bezeichnet wird, bedarf es nicht der Berücksichtigung anderer Mächte oder asketischer Übungen. In Christus ist die Fülle des Lebens enthalten, an der letztlich alle auf Gott Vertrauenden Anteil haben sollen.
Es spricht Einiges dafür, dass dieses Lehrgedicht den Christen, an die der Kolosserbrief geschrieben wurde, bereits bekannt war. Der Verfasser mahnt also zu einem eindeutigen Glauben durch Erinnerung an vertraute Sätze, die er allerdings um zwei eigene Aussagen ergänzt:
Vers 18a: "der Leib aber ist die Kirche" (1. Ergänzung)
Er betont Christus auch als den Herrn der Kirche.
Vers 20b: "der Frieden gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut"
Und als Autor, der sich ganz in den Spuren des Apostels Paulus versteht, kann er das für diesen so zentrale Thema des Kreuzestodes Jesu, durch den die Versöhung im Letzten geschehen ist, nicht weglassen, auch wenn das Lehrgedicht ursprünglich davon nicht gesprochen haben mag, sondern sich auf Schöpfungs- und Auferstehungsaussagen beschränkte.