Gottessohnschaft statt menschlicher Sterblichkeit, Versuchbarkeit ohne die Schwäche, ihr nachzugeben und ein einmaliges, dafür aber auf ewig gültiges Heilswirken statt regelmäßig wiederholte Opferdarbringung - das sind die entscheidenden Punkte, in denen der "Hohepriester" Jesus Christus das alttestamentlich beschriebene Hohepriestertum am Tempel von Jerusalem überbietet.
Einordnung in den Kontext
Nach einem sehr spannenden, in der Leseordnung leider nicht zum Vortrag vorgesehenen Exkurs, der das Ideal einer im Glauben erwachsen gewordenen Gemeinde beschreibt (Hebräer 5,11 - 6,12), lenkt der Briefautor geschickt wieder zum Thema zurück, das am letzten Sonntag anklang: Jesus als "Hohepriester", und zwar "nach der Ordnung Melchisedeks" (s. dazu Übersicht und Auslegung am 30. Sonntag im Jahreskreis/Lesejahr B zu Hebräer 5,1-6). Dazu entfaltet er in Hebräer 7,1-10 zunächst, inwiefern Melchisedek das "passende" Vorabbild Jesu ist, ehe er in den Versen 11-28 - von denen die Lesung einen Teilabschnitt bildet - eine Abgrenzung gegenüber dem Priestertum Aarons vornimmt, auf den sich alle (Hohe-)Priester Jerusalems zurückführten. Zwei Aspekte sind im Vergleich zu den aaronidischen Hohepriestern, die es zur Zeit des Hebräerbriefs schon gar nicht mehr gab, im Blick auf Jesus besonders hervorzuheben: seine Herkunft als Gottessohn (im Gegensatz zu den Hohepriestern als reinen "Menschenkindern") und sein in Herkunft wie Auferweckung gründendes ewiges Priestertum. Beides rückt ihn näher an Melchisedek heran, dessen Eltern in der Bibel nicht genannt und dessen Tod nicht erwähnt werden (vgl. Hebräer 7,3: "... er, der vaterlos, mutterlos und ohne Stammbaum ist, ohne Anfang seiner Tage und ohne Ende seines Lebens, ähnlich geworden dem Sohn Gottes: Dieser Melchisedek bleibt Priester für immer."). Gerade das Letzte, nämlich die Nichterwähnung des Todes, lässt sich von den Jerusalemer Hohepriestern nicht behaupten. Ehe der Briefschreiber genau diesen Gedanken ab Vers 23 ausführt, schickt er noch voraus, dass das auf Aaron sich zurückführende (Hohe-)Priestertum allein auf gesetzlichen und damit auch veränderbaren Bestimmungen beruht, das für Jesus als Vorabbild maßgebliche Priestertum Melchisedeks hingegen auf einem unlösbaren Eid Gottes beruhe. Im Hintergrund steht immer noch der in Hebräer 5,6 erstmals (allerdings unvollständig) zitierte Psalmvers 110,4, ("Du bist Priester auf ewig nach der Ordnung Melchisedeks"]. Schaut man in den Psalm selbst hinein, so gehen ihm dort die Worte voraus: "Der Herr hat geschworen und nie wird es ihn reuen: ...". Sie werden in Hebräer 7,21 "nachgereicht" und liefern die Grundlage für die Rede vom "Eid".
Eine Frage der Unvergänglichkeit (Verse 23-24)
Nachdem also das Priestertum Jesu Christi auf einer viel verbindlicheren und unerschütterlicheren, ja direkter vermittelten Grundlage aufruht als das aaronidische Priestertum ("Eid" bedeutet einen Schwur Gottes "bei sich selbst"), kann mit Vers 23 in die nächste "Überbietungsrunde" eingebogen werden. Das für die Lesungsfassung ausgelassene Wörtchen "auch" läutet also ein zweites Argument zugunsten Jesu ein. Jetzt geht es um die Frage der zeitlichen Dauer. Dabei setzt die Rede vom "Priestertum" Jesu voraus, dass der Hebräerbrief seinen Kreuzestod ("er" in Vers 24 meint Jesus) mit der Bildsprache des Kultes deutet und als Opfer versteht. Dieser "Opfer"-Begriff ist die Brücke zwischen den Jerusalemer Priestern, die Opfer (zumeist Tieropfer) zur Beseitigung der Sündenfolgen der Menschen darbrachten, also letztlich zur Vermeidung göttlicher Strafen, und dem Handeln Jesu, das allerdings ein Selbst-Opfer ist. Das alttestamentliche Denken setzte sowohl eine beständige - tägliche - Wiederholung der Opfer voraus als auch eine ständige Besetzung des Hohepriester-Postens. Dies bedeutete eine geregelte Abfolge (Sukzession), denn als gewöhnliche Menschen starben die amtierenden Hohepriester auch einmal. Außerdem war ihre Dienstzeit überhaupt zeitlich sehr begrenzt. Dagegen stehen der einmalige Kreuzestod Jesu und seine den Tod überwindende Auferweckung, die es diesem "Hohepriester" Jesus Christus ermöglichen, auch in alle Zukunft, also "in Ewigkeit", für die beim Vater einzutreten, die auf ihn ihre Hoffnung setzen. Diese Hoffnung nennt Hebräer 6,19 "einen sicheren und festen Anker der Seele".
Eine Frage der "Verfallszeit" (Vers 25)
Vers 25 verstärkt den Gedanken des unvergänglichen Priestertums Christi: Er lebt nicht nur "allezeit" und kann damit unaufhörlich beim Vater für die Seinen eintreten, auf alle Weltzeit hin. Vielmehr gilt auch: Was durch ihn im Tod am Kreuz geschehen ist, hat eine Wirksamkeit "für immer". Nichts ist dem Christusgeschehen hinzuzufügen und nichts ist zu wiederholen. Das Gegenbild sind die täglich zu wiederholnden Opfer der Priesterschaft am Tempel von Jerusalem bzw. das jährlich zu wiederholende große Sühneopfer am "Versöhnungstag" (Yôm Kippûr) durch den Hohepriester, was die - vielleicht sehr menschlich gedachte Vorstellung nahelegt: der durch die Jerusalemer Priesterschaft geleistete Opferdienst hat maximal eine Wirksamkeitszeit von einem Jahr. In Jesus Christus gibt es keine Verfallszeiten und Ablauffristen!
Eine Frage der Angemessenheit (Verse 26-27)
Dieser Vers ordnet das bisher Gesagte in eine gewisse Logik und Zwangsläufigkeit ein, die zumindest der Briefschreiber im Heilswirken Gottes erkennt. Das altertümliche Wort "sich ziemen" (griechisch prépō) kann man auch mit "angemessen sein" bzw. "passend [für uns] sein" wiedergeben. Es begegnet bereits an einer früheren Stelle im Hebräerbrief, auch hier, um eine interne Logik im Handeln Gottes bezüglich der Menschen festzustellen:
"Denn es war angemessen, dass Gott, für den und durch den das All ist und der viele Söhne zur Herrlichkeit führen wollte, den Urheber ihres Heils durch Leiden vollendete" (Hebräer 2,10).
Im Gegensatz zu diesem Vers geht es aber in Vers 25 nicht um die Angemessenheit des Leidens, sondern um die Angemessenheit eines Hohepriesters "der anderen Art", eben "nach der Ordnung Melchsideks". Dazu gehört das Wirken dieses Hohepriesters Jesus Christus "im Himmel" ("erhöht über die Himmel" meint nichts anderes und beide Ausdrücke verweisen einfach in den direkten Bereich Gottes); aber dazu gehört auch die "Sündenfreiheit" Jesu, die ihre Entsprechung bei Melchisedek in dessen Namen findet, der in Übersetzung lautet: "Mein König ist Gerechtigkeit" (vgl. Hebräer 7,2, etwas vereinfachend: "dessen Name König der Gerechtigkeit bedeutet"). Diese alttestamentlich auf Gott selbst verweisende "Gerechtigkeit" interpretiert der Hebräerbrief im Blick auf Jesus durch die Begriffe "heilig, frei vom Bösen, abgesondert von den Sündern". Weil Jesus also trotz aller Versuchungen, die auch ihm nicht erspart blieben, nicht von Gott gelassen hat und seinen Weg der Liebe konsequent bis in den Tod gegangen ist, ist dieser als (Selbst-)Opfer verstandene Tod als Selbsthingabe aus reiner Selbstlosigkeit zu verstehen: Allein die, für die Jesus starb und die in der Logik des Hebräerbriefs eines Sündopfers bedürfen, sind die Empfänger der guten Wirkung: des ewigen Lebens bei Gott. Jesus selbst bedurfte dessen nicht - im Gegensatz zu den Hohepriestern am Tempel, die auch selbst Sünder waren und daher die Sündopfer auch für sich selbst darbringen mussten.
Das "ein für alle Mal" des in Jesus geschehenen Erlösungshandeln Gottes entspricht dem "für immer retten" aus Vers 25. Viermal verwendet der Hebräerbrief die Formulierung "ein für alle Mal": außer innerhalb der Lesung in Vers 27 auch noch in Hebräer 9,12; 10,2 und 10,10. Für den Zugang aller Menschen zu Gott, auch wenn sie Sünder sind, braucht es weder weitere "Jesusse" noch mehrere "Tode" Jesu noch irgendwelche weiteren Opfer.
Eine Frage der Vollendung (Vers 28)
Der letzte Vers fasst die gesamte Argumentation Hebräer 7,11-27 noch einmal wie in einem Brennglas zusammen: das Gesetz als Grundlage des alttestamentlichen (Hohe-)Priestertums im Gegensatz zur Eideszusage Gottes an den "Sohn", die "Schwachheit" der Hohepriester, die als Sündhaftigkeit zu verstehen ist und von Jesus fern bleibt und schließlich die von den Hohepriestern nicht aussagbare "Ewigkeit" und "Vollendung". Die beiden letzten Begriffe verweisen in die himmlische, also göttliche Sphäre im Gegensatz zum irdischen Dienst der Hohepriesterschaft.
[Zur weiteren Bedeutung des Wortes "Vollendung" im Rahmen der Gesamtargumentation s. unter "Auslegung"]