Die Rede vom "Sohn" mit der Vorstellung vom "Hohepriester" und der Gestalt Melchisedeks im Blick auf Jesus zu kombinieren - das ist schon ein steiler Gedanke, der ganz auf das Konto des Autors des Hebräerbriefs zu gehen scheint. Aber auch wenn es noch so kompliziert klingt: Es darf nicht vergessen werden, dass der Hebräerbrief ein Ermutigungsschreiben ist. Also muss hinter dem Komplizierten eine verständliche Botschaft stehen.
Einordnung der Lesung in den Zusammenhang
Im Lesungsabschnitt am letzten Sonntag (Hebräer 4,14-16) wurde Jesus als "Hohepriester" eingeführt, und zwar mit der Besonderheit, dass er - Jesus - im Gegensatz zu den Hohepriestern des Alten Testaments Versuchungen nicht nur ausgesetzt war, sondern sie auch ohne die geringsten Kompromisse bestanden hat. Der Ton lag aber darauf, Jesus als wirklichen Menschen vorzustellen, der - weil er sich an den schwierigen Erfahrungen des Lebens nicht "vorbeigemogelt" hat - auch empathisch mit den Menschen im Allgemeinen mitfühlen kann. Sein "Hohepriestertum" meint also nicht eine Menschenferne, die sich hinter den Schutzwändern kultischer Schranken abspielt.
Diesen Gedanken verbindet die heutige Lesung aus Hebräer 5,1-6 mit der dennoch gültigen anderen Aussage zu demselben Jesus, die ganz besonders bereits im ersten Kapitel des Hebräerbreifs festgehalten wird: mit seiner Gottessohnschaft.
Vers 1
Die Herausstellung der Gottessohnschaft Jesu bereitet der Verfasser des Hebräerbriefes über einen Umweg vor, indem er in Fortsetzung von Hebräer 4,14-16 zunächst einmal über das Hohepriestertum des Alten Testaments nachdenkt. Dessen Aufgabe war gebunden an den Tempel von Jerusalem, den es zur Zeit des Hebräerbriefs schon gar nicht mehr gab (Zerstörung Jerusalems 70 n. Chr.; Hebräerbrief: wahrscheinlich um 90 n. Chr.). Hier, am Tempel, verrichteten die Hohepriester durch die tägliche Darbringung von Opfern einen Dienst "für die Menschen". Die Opfer dienten nämlich dazu, den von Gott "in Gang gehaltenen" Zusammenhang von böser Tat ("Sünde") und schlechtem Ergehen ("Strafe" als negative Konsequenz eigenen Tuns) zu unterbrechen und Gott dazu zu bewegen, es weiter mit den Menschen zu versuchen. Weder sollte der Sünder selbst an den Folgen seiner Tat zugrunde gehen noch sollte das durch seine Tat in die Welt gesetzte Böse, das man sich wie eine Art Giftwolke vorstellte, die Gesamtheit der Gemeinde mit ins Verderben reißen. Der Dienst "für die Menschen" wurde versehen von Personen, die selbst natürlich auch aus keiner anderen Gruppe als derjenigen der Menschen ("aus den Menschen") herausgenommen waren.
Verse 2-3
Die Menschenzugehörigkeit der Hohepriester Jerusalems hat einen Vor- und einen Nachteil. Der Vorteil besteht in ihrem Verständnis für alles, was den Menschen betrifft, also auch für seine Schwächen und seine Gefährdung, dem Willen Gottes auszuweichen (biblisch heißt das "sündigen"). Sie kennen diese Problematik von sich selber, da sie keine "Ausnahmemenschen" sind. Der "Nachteil" ist: Ihr Opferdienst am Tempel kann nie in reiner Selbstlosigkeit, nur für die anderen Menschen geschehen, für die sie bestellt sind, sondern immer müssen sie zugleich auch "für sich selbst" Opfer darbringen. Vorausgesetzt ist dabei: Die Hohepriester kennen nicht nur die Gefährdung, sondern aufgrund ihrer menschlichen Schwäche erliegen sie ihr auch immer wieder. Sie stehen also in demselben Zusammenhang von Handeln und Tatfolge, den die Opfer unterbrechen sollen. Sie opfern eben "auch für sich selbst" und müssen es tun.
Das ist natürlich zu lesen auf dem Hintergrund, dass gerade die letzten beiden Punkte, "Schwäche" und "vor Gott auch für die eigenen Sünden eintreten" für Jesus nicht zutreffen. Er hat in den Versuchungen seines Lebens keine Schwäche gezeigt und keine Entscheidung gegen Gott getroffen. Er hat also nicht "gesündigt". Deshalb hat er auch keine Aktion vor Gott "für sich selbst" nötig. Was er zur Unterbrechung des Zusammenhangs von böser Tat und letztlich tödlicher Tatfolge tut - und hier denkt der Hebräerbrief an den Kreuzestod Jesu - tut er ausschließlich "für die Menschen", in reiner Selbstlosigkeit!
Da der Argumentationsfaden des Hebräerbriefs an dieser Stelle abbricht bzw. eine unvermutete Wendung macht, ist klar: Die Verse 1-3 beginnen keinen neuen Gedanken, sondern verklammern den in Vers 4 einsetzenden neuen Gedanken mit dem vorangehenden Text, den sie zu Ende führen. Die Verse 1-3 sind in ihrer Aussage nur zu verstehen auf dem Hintergrund von Hebräer 4,15:
"Wir haben ja nicht einen Hohepriester, der nicht mitfühlen könnte mit unseren Schwächen, sondern einen, der in allem wie wir versucht worden ist, aber nicht gesündigt hat."
Vers 4
Wie angedeutet, biegt Vers 4 in eine überraschende Gedankenrichtung ab. Ohne die Formulierung aufzugreifen, knüpft er an die Aussage "Denn jeder Hohepriester wird aus den Menschen genommen und für die Menschen eingesetzt zum Dienst vor Gott" an und darin besonders an die fettgedruckten Worte. Die passivische Formulierung "wird eingesetzt" lässt ja offen, wer denn derjenige ist, der den Hohepriester einsetzt. Genau darauf antwortet Vers 4: Gott selbst ist der Einsetzende. Dabei wird das Worte "einsetzen" (griechisch kathísthēmi) ersetzt durch das Wort "rufen, berufen" (griechisch kaléō). Gerade an dieser Stelle merkt man, wie wenig dem Autor des Hebräerbriefs das "real exisitierende" Hohepriestertum vor Augen steht, das mit der römischen Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n. Chr. untergegangen ist (s. o.) und längst auf Geburtsadel, Familienbande und Machtpolititk gesetzt hatte (man denke nur an die kleine Randbemerkung beim Prozess Jesu in Johannes 18,13, die hier Bände spricht: "... und führten ihn [Jesus] zuerst zu Hannas; er war nämlich der Schwiegervater des Kajaphas, der in jenem Jahr Hohepriester war." Schwiegervater und Schwiegersohn schoben sich gegenseitig die Posten zu!). Der Hebräerbrief denkt vielmehr an das "Hohepriestertum", wie es im Alten Testament als Ideal und als theologischer Typos beschrieben wird. Nach dieser Sicht führt es sich auf die Gestalt des Mose-Bruder Aaron zurück. An diesen erging gemäß dem Buch Exodus/Zweites Buch Mose vermittelt durch Mose der Ruf Gottes:
"Lass aus der Mitte der Israeliten deinen Bruder Aaron und mit ihm auch seine Söhne zu dir kommen, damit sie mir als Priester dienen." (Exodus 28,1)
Diese göttliche Berufung steht über allem und ist grundlegender als die fortan als Bedingung festgelegte Zugehörigkeit zu den männlichen Nachkommen des Stammes Levi (einer der zwölf Stämme Jakobs, aus dem auch Aaron stammte) oder der aufwändige kultische Einsetzungsritus. Sie gilt eben vermittelt durch den Ahnvater Aaron der gesamten Hohepriesterschaft.
Allmählich fragt man sich: Worauf will der Autor des Hebräerbriefs in seiner Argumetnation hinaus? Was hat das alles mit Jesus zu tun, um den es ihm doch eigentlich geht? Das klärt sich erst in den folgenden beiden Versen.
Verse 5-6
Vers 5 wählt dazu ein Muster, das schon aus Hebräer 4,15 (s. o.) bekannt ist: Zwischen dem alttestamentlichen Hohepriester und Jesus als "Hohepriester" gibt es Vergleichbares, aber auch absolute Unterschiede. Ja, auch Jesus war Versuchungen ausgesetzt - wie die Jerusalemer Priester, aber: Nein, er ist ihnen nicht erlegen (so in 4,15). Jetzt (in 5,5) heißt es: Ja, auch Jesus verdankt sich einem göttlichen Ruf, wie die alttestamentlichen Hohepriester, aber: Nein, es geht nicht um die "bloße" Bestellung zu einem Tempeldienst. Inhaltlich besagt dieser Ruf etwas, was sich von keinem Priester Jerusalems sagen lässt: "Mein Sohn bist du." Fällt schon in dieser Satzfolge die enge Verbindung, besser: Gleichsetzung von "Sohn" und "Hohepriester" auf, so wird sie in Vers 6 bestätigt und verstärkt. Denn in sehr eigenständiger Kombination lässt der Hebräerbriefautor auf Psalm 2,7 ("Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt") das damit in keinem ursprünglichen Zusammenhang stehende Zitat aus Psalm 110,4 ("Der HERR hat geschworen und nie wird es ihn reuen: Du bist Priester auf ewig nach der Ordnung Melchisedeks.") folgen. Beide Psalmworte sind nicht als alttestamentliche Belegtexte für eine These des Hebräerbreifs zu verstehen. Vielmehr sind sie gemeint als ein über die Zeiten hinweg ewig gültiges Wort Gottes an Jesus Christus. Die mehrfachen Bezeugungen der Koppelung von "Sohn" und "Hohepriester" im Blick auf Jesu Christus lassen im Hebräerbrief weder eine Unterscheidung in der Gewichtung zu noch eine Unterscheidung in der Zeitfolge (z. B. erst Sohn, später Hohepriester). Beides gilt immer und zugleich, und das in einem skandalösen Doppelverständnis: Der ganz an die Sphäre Gottes und damit an die Sphäre unerreichbarer Machtfülle rührende Sohnestitel schließt ein, dass dieser göttliche Sohn "durch Leiden den Gehorsam lernen musste" (so in Hebräer 5,8). Und der ganz an eine irdische Aufgabe erinnernde Hohepriestertitel, der mit dem als Opfer gedeuteten Kreuzestod Jesu in Verbindung steht, ist ein Würde- bzw. "Herrlichkeits"-Titel (im Griechischen steht für "sich die Würde verleihen" doxázomai: "sich verherrlichen"). Beides - Sohnes- wie Hohepriesterbekenntnis - sind Ewigkeitsaussagen im Sinne von "immer schon" und "ohne Ende". Als solche überbieten sie die Vorstellung vom alttestamentlichen Hohepriester um ein Unvergleichbares. Das lässt sich für den Hebräerbrief namentlich auch noch einmal festmachen an der Vorbildgestalt des "außer Konkurrenz" laufenden - also nicht zu den "Söhnen Aarons" zählenden Hohepriester Melchisedek. Seine "Ordnung" taugt eher zum typologischen Vorbild für den "Hohepriester" Jesus Christus als die "Ordnung" des Aaron und seiner Söhne (vgl. dazu unter Auslegung).
Allein die Besonderheit des Gottessohnes und Hohepriesters Jesus Christus kann das Vertrauen und die Hoffnung begründen, die der Schreiber des Hebräerbriefs in seiner von Auflösung und Angst geplagten Gemeinde wecken bzw. stärken will.