Jesus Christus ist wahrer Gott und wahrer Mensch. Dieser Satz gehört zum Grundbestand christlichen Glaubens, klingt aber unter Umständen eher abstrakt. Der Hebräerbrief entwickelt daraus jedoch die Voraussetzung dafür, dass Jesus und in ihm Gott selbst mit den Schwächen der Menschen mitfühlen und sie zugleich stärken kann, den Verführungen zu falschen Entscheidungen nicht zu erliegen. Wo es doch geschieht, wartet er am Ende einmal mehr mit Einfühlsamkeit: mit Gnade und Erbarmen.
Einordnung in den größeren Zusammenhang
Mit Hebräer 4,14 beginnt nach der großen Predigt über das "Hören" auf Christus als Gottes Wort (Hebräer 3,7 - 4,13), die sich als eine Auslegung zu Psalm 48 darstellt, eine neue Predigt. Ihr zentrales Thema wurde schon mehrfach im Brief vorausverweisend angedeutet: Jesus als "Hohepriester" (s. unten). Dieses Verfahren, ein Thema nur zu benennen, aber erst viel später auszuführen, ist typisch für den Hebräerbrief und organisiert den inneren Zusammenhalt des Gesamttextes, der trotz seiner grundsätzlichen Zusammenstellung von unterschiedlichen Predigten gegeben ist.
Bemerkenswert ist schließlich noch, dass der Brief das "Hohepriestertum" Jesu zweifach entfaltet: einmal auf der Folie des alttestamentlichen Hohepriesters als "Funktionsträger" und einmal auf der Folie des geradezu legendarischen einzelnen Hohepriesters Melchisedek, der in Genesis/1. Buch Mose 14,17-20 mit Abraham in Verbindung gebracht wird. Fasst man beide Gedanken zusammen, so umfassen sie Hebräer 4,14 - 10,31. Die Melchisedek-Passagen finden sich in Hebräer 5,1-6 und 7,1-10, spielen also für die Lesung dieses Sonntags keine Rolle.
Hebr 4,14: Jesus als "Himmelsdurchschreiter"
Der erste Vers der Lesung greift ein Thema auf, das zum ersten Mal in Hebr 2,17-18 anklingt:
17 Darum musste er [d. i. Christus] in allem seinen Brüdern gleich sein, um ein barmherziger und treuer Hohepriester vor Gott zu sein und die Sünden des Volkes zu sühnen.
18 Denn da er gelitten hat und selbst in Versuchung geführt wurde, kann er denen helfen, die in Versuchung geführt werden.
Vorausverweisend endet mit diesen Versen das Eröffnungskapitel Hebr 1 - 2 und führt damit ein zentrales Motiv ein, dessen Ausführung aber erst ab Hebr 4,14 folgt, nämlch in Hebr 4,14 - 10,25 (in Hebr 10,21 begegnet das Stichwort "Hohepriester" zum letzten Mal im Brief; s. dazu etwas ausführlicher die Einleitung in die Zweite Lesung am 5. Fastensonntag/Lesejahr B).
Genau hier, also am Beginn des großen Abschnitts zum Hohepriestertum Christi, setzt die Lesung ein. Alllerdings bleibt hier noch alles räselhaft. Das liegt daran, dass dieser Vers zwar das Stichwort "Hohepriester" aufgreift, zunächst aber auch noch zurückgreift auf die Passage Hebr 3,1 - 4,13. In ihr ging es um die Gegenüberstellung von Treue und Unglaube. Dieses Thema verwundert nicht in einem Schreiben, dass sich an eine Gemeinde wendet, die Auflösungstendenzen aufweist. Den Glauben aufzugeben und lieber - um des eigenen Erfolges willen oder auch aus Angst vor Lebensgefahr -, mit Rom zu kollaborieren, war eine wirkliche Versuchung, der der Autor des Schreibens mit Mahnungen zum Festhalten am Glauben entgegentritt.
An diesen Gedanken knüpft nun der erste Vers der Lesung an: "Lasst uns an dem Bekenntnis festhalten!" .Gemeint ist das Bekenntnis zum Hohepriester Jesus Christus. Ergänzend zu dieser Aussage wird festgehalten: Er ist - anders als jeder irdischer Hohepriester, der je am Tempel von Jerusalem Dienst tat - himmlischer Herkunft. Er ist nämlich Gottes Mensch gewordenes Wort, (vgl. Hebr 1,1-4) und er ist mit seiner Auferweckung vom Tode wieder zum Vater zurückgekehrt. Diese Bewegung des Herabstiegs vom Himmel und der Rückkehr dorthin wird mit der Wendung "der die Himmel durchschritten hat" zusammengefasst.
Was aber hat es nun mit dem "Hohepriestertum" Jesu auf sich?
Hebr 4,15: Der Gottessohn als "einfühlsamer Hohepriester"
Noch einmal wird die Antwort ein wenig hinausgezögert. Stattdessen wird dem Bekenntnis zum "himmlischen" Gottessohn ein zweites zur Seite gestellt:
Dieser Jesus Christus war zugleich ganz und gar Mensch, also kein der irdischen Wirklichkeit enthobenes Wesen. Als "typisch" menschlichen Wesenszug nennt der Hebräerbrief dabei die Versuchbarkeit/Verführbarkeit. Auch Jesus war Verführungen ausgesetzt. Dabei könnte der Verfasser des Hebräerbriefes hier an die Versuchungen Jesu durch Satan in der Wüste denken, die.Markus 1,12-13 nur kurz benennt, Matthäus 4,1-11 hingegen sehr ausführlich darstellt (unter "Kontext" sind die entsprechenden Stellen ausgeführt.). Wie Jesus hier Satan "abblitzen" lässt und sich nicht auf die Versuchung einlässt, Satan als Gott anzuerkennen, kann veranschaulichen, was der Hebräerbrief damit meint, wenn er festhät: Jesus war zwar - wie jeder Mensch Verführungen - ausgesetzt, ist ihnen aber nicht erlegen. Er hat nicht gesündigt.
Gerade aber die Erfahrung von Versuchungen im Leben Jesu verleihen ihm eine Eigenschaft, die man einem rein "himmlischen", weltenthobenen Wesen nicht zutrauen würde: Er kann mit den menschlichen Schwächen mitfühlen. Das moderne Wort dafür heißt Empathie: die Fähigkeit, sich in Andere einzufühlen.Wenn es letztlich darum geht, die Verwundungen zu heilen, die jemand innerlich davonträgt, wenn er einer Verführung zum absolut Falschen erlegen ist, dann ist diese Empathie eine ideale Vorassetzung. Dies gilt um so mehr, wenn dieser "Heiler" zwar selbst solche Verführung zum absolut Falschen kennt, ihr aber selbst eben nicht erlegen ist.,
Genau als einen solchen "Heiler", als "Erlöser" von den Sünden, genauer: von den negativen Folgen für das, was eigenes falsches Handeln der Seele an Schaden zufügt - genau als einen solchen "Sündentilger" will der Hebräerbrief Jesus vorstellen. Das ist auch der Hintergund des Vergleichs mit dem Hohepriester am Tempel, der auch in einem feierlichen Ritus einmal im Jahr einen Sündenvergebungsritus vollzog. Doch traut der Hebräerbrief diesem Ritus keine große Wirkkraft zu, musste er doch jährlich wiederholt werden. Vor allem wissen wir weder etwas von der besonderen Einfühlungsfähigkeit der jüdischen Hohepriester noch sind sie himmlisch-göttlicher Herkunft. Unter beiden Vergleichspunkten steht also Jesus Christus für den Hebräerbrief überragend da.
Hebr 4,16: Christus als Ansprechpartner in der Entscheidungsnot
Er ist damit auch der ideale Ansprechpartner für solche, die sich gerade in einer Situation befinden, in der sie auf der Kippe zu einer falschen Entscheidung stehen, - der Hebräerbrief denkt natürlich besonders an die Gefahr, sich für Rom und gegen den eigenen Glauben zu entscheiden. Im Glauben an den mitfühlenden und zugleich heilenden, vielleicht auch Inspiration zur Überwindung von Verführungen gebenden "Hohepriester" Christus dürfen und sollen sich die Menschen betend an ihn wenden.
Die "rechte" Zeit, von der der Vers spricht, ist also besonders die Stunde der Anfechtung, wo die Hilfe am nötigsten ist. Das Motiv knüpft vertrauensvoll an die Gebetstradition der Psalmen an: "Aller Augen warten auf dich und du gibst ihnen ihre Speise zur rechten Zeit" (Psalm 145,15).
Der "Thron der Gnade" hingegen löst sich von Hebräer 8,1 her auf: "Wir haben einen solchen Hohepriester, der sich zur Rechten des Thrones der Majestät im Himmel gesetzt hat," Der zum Vater in den Himmel zurückgekehrte Gottessohn (vgl. Christi Himmelfahrt) ist zugleich der Richter am Ende der Zeit. Das Symbol des Richters ist biblisch der "Thron", von dem aus er das Urteil spricht. Mit dem Richter Jesus aber verbinden sich, wenn Empathie und Heilung seine Hauptwesenszüge sind, nicht das Todesurteil, sondern Gnade und Erbarmen.