Kurz und präzise bringt die heutige Lesung aus dem Hebräerbrief eine Theologie des Wortes Gottes auf den Punkt. Sie ist alles andere als beruhigend.
Einordnung der Lesung in den größeren Zusammenhang
Auf die grundlegende Einführung des Hebräerbriefs zu Jesus Christus als Gottes Sohn, der als solcher einerseits über den Engeln steht (Kapitel 1) und andererseits doch unser sterbliches Menschengeschick geteilt hat, um die Menschen aus der Todesangst zu befreien, die er geteilt, aber durch Gott auch überwunden hat, (Kapitel 2), folgt in Hebräer 3,7 - 4,13 eine erste große Predigt. Sie kreist um das Psalmwort "Heute, wenn ihr seine Stimme hört ..." (Psalm 95,7 in der Fassung der griechischen Übersetzung), das auf die Adressaten des Briefes bezogen wird Sie soll auf "Christus, der als der treue Sohn über das Haus Gottes gestellt ist" (vgl. 3,6), hören. Offensichtlich gibt es Anlass, dieses Hören der Gemeinde in Frage zu stellen, so dass die Predigt einen mahnenden Unterton hat, der sich aus dem Schluss des insgesamt sehr viel längeren Psalmzitats ergibt: "Sie sollen nicht in das Land meiner Ruhe kommen" (hier zitiert Hebräer 3,11 Psalm 95,11). Während der Psalm die starrköpfige Wüstengeneration unter der Führung des Mose beim Auszug aus Ägypten im Blick hat, die der biblischen Erzählung zufolge 40 Jahre unterwegs war, sodass eine andere Generation in das verheißene Land einzog als aus Ägypten ausgezogen war, hat der Hebräerbrief-Verfasser die dauernde Gemeinschaft mit Gott als von Christus bereit gehaltenes Erbe nach diesem irdischen Leben im Blick, das man auch verpassen kann - eben dann, wenn man dem Wort Christi nicht traut und folgt. Damit ist nicht ein bestimmtes Wort aus der Verkündigung Jesu gemeint, sondern Jesus selbst als Grund endzeitlicher Hoffnung und Verheißungswort Gottes an uns, das in Jesus Fleisch geworden ist, - er ist das Wort.
Den Abschluss dieser Predigt bilden die beiden Verse der heutigen Lesung.
Vers 12
In proklamierendem Stil wird die Bedeutsamkeit und Eigenart des Wortes Gottes vorgestellt. Fünf Begriffe schlagen wie ein Hammer Markierungen ein: "lebendig", "wirksam", "scharf", "durchdringend", "richtend".
"Lebendig" ist Gottes Wort als machtvoller Ausdruck des "lebendigen Gottes" (Hebräer 3,12). Das erste Buch der Bibel (Genesis/1. Buch Mose) besingt z. B. seine Schöpferkraft ("Gott sprach ... und es wurde"). Berücksichtigt man die vorangehende Predigt zu Psalm 95, so könnte die Brücke zur Wahl des Wortes "lebendig" auch Deuteronomium/5. Buch Mose 32,47 sein, das Gottes Wort so umschreibt: " Das ist kein leeres Wort, das ohne Bedeutung für euch wäre, sondern es ist euer Leben. Wenn ihr diesem Wort folgt, werdet ihr lange in dem Land leben, in das ihr jetzt über den Jordan hinüberzieht, um es in Besitz zu nehmen."
"Wirksam" ist im Grunde eine Parallelaussage zu "lebendig": Gottes Wort bewirkt, was es will - wie es im Buch Jesaja in der anderen Kurzfassung einer Wort-Gottes-Theologie heißt [vgl. dazu unter "Kontext"]. Bereits dem Propheten Jeremia wird dies visionär und damit bildhaft-anschaulich vor Augen geführt:
"11 Das Wort des HERRN erging an mich: Was siehst du, Jeremia? Ich antwortete: Einen Mandelzweig [im Hebräischen kann man auch mithören: "Wache-Zweig"] sehe ich. 12 Da sprach der HERR zu mir: Du hast richtig gesehen; denn ich wache über mein Wort und führe es aus" (Jeremia 1,11f.)
Die Worte "scharf" und "durchdringend" bereiten das abschließende Gerichtsmotiv mit markanten Bildern vor:
Die "Schärfe" wird mit dem "zweischneidigen Schwert" in Verbindung gebracht, das im Alten wie im Neuen Testament als die schärfste Waffe überhaupt gilt. In Verbindung mit dem im Himmel thronenden Christus als Gerichtsherrn begegnet es noch in Offenbarung 1,16: "In seiner Rechten hielt er sieben Sterne und aus seinem [gemeint ist der himmlische Christus] Mund kam ein scharfes, zweischneidiges Schwert und sein Gesicht leuchtete wie die machtvoll strahlende Sonne."
Die "durchdringende" Kraft des Wortes knüpft an jüdische Vorstellungen von der Alles ausleuchtenden Weisheit Gottes an [s. dazu unter "Auslegung"]. Diese in die letzte Faser des Menschen reichende Durchdringungskraft des göttlichen Wortes zielt auf das Innerste, denn es gilt: "18 ... was von außen in den Menschen hineinkommt, ihn nicht unrein machen kann? ... 20 Was aus dem Menschen herauskommt, das macht ihn unrein. 21 Denn von innen, aus dem Herzen der Menschen, kommen die bösen Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, 22 Ehebruch, Habgier, Bosheit, Hinterlist, Ausschweifung, Neid, Lästerung, Hochmut und Unvernunft" (Markus 7,18-22). Ergänzend zur alttestamentlich-jüdischen, auch von Jesus vertetenen ganzheitlichen Sicht vom Menschen ist im Hebräerbrief allerdings schon das griechisch-philosophische Menschenbild mit seiner Unterscheidung zwischen Leib ("Gelenke und Mark"), Geist und Seele getreten. Die alte Sicht vom "Herzen" als Ort des Denkens, Planens und Wollens (s. Jesus in Markus 7,21) ist aber noch nicht verloren gegangen, wie der Schluss von Vers 12 ("des Herzens") zeigt.
Er ist der Zielpunkt der fünfgliedrigen Aussagenkette: Gottes Wort ist ein "richtendes". Mit dem Gedanken des Endgerichts knüpft die Passage an die vorangehende Mahnpredigt an, dass es im Falle der Nichtausrichtung an Christus als dem Wort Gottes zum Verpassen des Einzugs "in das Land meiner Ruhe" kommen kann. Die Entfaltung des "scharfen" Wortes in Vers 12, das geradezu wie ein Operateur zu sezieren vermag und damit auch das Scheinheilige zu entlarven vermag, wirkt da eher beunruhigend.
Vers 13
Leider lässt die Übersetzung das griechische "Wortspiel" - ganz sicher ist es mehr als das! - der kleinen Wort-Gottes-Theologie nicht erkennen. Denn der letzte Halbsatz "dem wir Rechenschaft schulden" heißt wörtlich: "dem wir schulden das Wort [griechisch: lógos]". Nach Gottes Wort (Vers 12) geht es jetzt um des Menschen Wort. Es geht darum, dass der Mensch sich zum vernommenen Wort Gottes verhält und Verant-wort-ung für sein Tun übernimmt. Beide Male ist im Griechischen vom lógos die Rede: wenn Gott in der ganzen Breite seiner Wirkmöglichkeiten spricht (kreativ, tröstend, orientierend, mahnend, richtend: Vers 12) und wenn der Mensch antwortend und sich verantwortend spricht (Vers 13). Gott hat den Menschen in Jesus erkennen lassen, dass er (der Mensch) zum Dia-log berufen ist.