Mit einer steilen These setzt die erste der Lesungen aus dem Hebräerbriefs ein, der jetzt und an den nächsten Sonntagen die Zweite Lesung bestimmt: Der schändliche Leidensweg Jesu wird als "Königsweg" gewürdigt und auch noch als "Gott angemessen" bezeichnet. Eine Herausforderung für den Glauben - damals wie heute.
Einordnung in den Zusammenhang des Buches
Mit diesem Sonntag steigt der Zyklus der Zweiten Lesungen - nach einem Durchgang durch den Jakobusbrief - in den Hebräerbrief ein. Er war schon einmal mit seinem hinteren Teil (Kapitel 11 und 12) im Lesejahr C am 19. - 22. Sonntag im Jahreskreis an der Reihe (plus einigen Einzellesungen an Festtagen). Diesmal sind die Lesungsabschnitte aus dem vorderen Teil gewählt.
Dabei steigt die erste Hebräerbrief-Lesung bereits mittendrin ein. Sie ist Teil der beiden großen Einleitungskapitel des Schreibens, mit dem sich ein unbekannter Autor an Gemeindegruppen wendet, die eher dem Heiden- als dem Judenchristentum zugehören. Denn ausdrücklich wird bei ihnen eine Hinkehr zum Glauben an den einen Gott betont (vgl. Hebräer 6,1: "wir wollen nicht noch einmal den Grund legen mit der Abkehr von toten Werken und dem Glauben an Gott"), der für Juden selbstverständlich war bzw. ist und nur für die polytheistisch verwurzelten Menschen aus den "Völkern" (sog. "Heiden") eine Neuorientierung bedeutete. Diese Heiden-Christinnen und -Christen sollen im Glauben gestärkt werden angesichts einer weiter heidnisch bestimmten Umwelt mit ihren eigenen Reizen und Verlockungen. Bei seinen ganzen Argumentationen, Predigten und Ermahnungen scheint der Verfasser sehr gebildete Kreise vor sich zu haben, denen die Welt des Alten Testaments eben nicht durch eigene jüdische Abstammung, sondern vermutlich durch Lektüre vertraut ist. Nur so erklären sich die zahlreichen alttestamentlichen Anspielungen bzw. Zitate des Hebräerbriefs.
Nachdem dieser in Kapitel 1 die Einzigkeit Jesu als "Gottessohn" herausgestellt hat und ihn von den "Göttersöhnen", nämlich den Engeln, abegesetzt hat, stellt Kapitel 2 die Menschheit dieses Gottessohnes heraus. Beides, seine Hoheit (Göttlichkeit) wie seine Niedrigkeit (Menschheit) sieht der Brief ganz im Dienste der "vielen Söhne" (Vers 10), das sind die Frauen wie Männer umfassenden Menschen, die - um des "Wortspiels", also der Nähe zum Begriff "Gottes-Sohn" willen -, "Söhne" genannt werden. Wurde der erste Gedanke (Jesu Gottessohnschaft) mit einer langen Kette von Psalmenzitaten (Schluss des ersten Kapitels) begründet, wird der Erniedrigungsgedanke bzw. die darin sich ausdrückende Wertschätzung der Menschheit Jesu durch Gott in Kapitel 2 mit einem Zitat aus Psalm 8 begründet, das den Ausführungen vorangestellt ist:
"6 ... Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, / oder des Menschen Sohn, dass du dich seiner annimmst? 7 Du hast ihn nur ein wenig unter die Engel erniedrigt, / mit Herrlichkeit und Ehre hast du ihn gekrönt, 8 alles hast du ihm unter seine Füße gelegt" (Hebräer 2,7 als Zitat von Psalm 8,5-7, wie er in der griechischen Übersetzung überliefert ist).
Die auch auf Hebräer 2,9-11 folgende Untermalung mit Psalmzitaten (Verse 12-13) als Entsprechung zu Kapitel 1 ist in der Lesung ausgelassen.
Das in Psalm 8 Gesagte bezieht der Hebräerbrief - anders als der Psalm selbst - nicht auf den Menschen allgemein, sondern auf Jesus. Das "unter die Füße gelegt" im Sinne des endgültigen Sieges Christi über die Welt ist für die angesprochene Gemeinde in ihrer angespannten Bedrängnissituation, die von Isolation und Prozessen geprägt ist, allerdings noch nicht erkennbar (Vers 8b: "Jetzt aber sehen wir noch nicht, dass ihm alles unterworfen ist"). So wahr und wirklich die Einsetzung Jesu Christi als "Allherr" über alle denkbaren Mächte im Glauben ist, so schwer ist sie doch angesichts der nach wie vor wirksamen irdischen Mächte im Inneren wahr- und anzunehmen. Deshalb konzentriert sich der Briefschreiber erst einmal auf die Auslegung der ersten Sätze des Psalmzitats.
Vers 9
Genau an dieser Stelle setzt die Lesung ein. An das Thema "Engel" aus dem ersten Kapitel anknüpfend, kann der Hebräerbrief sagen: Jesus, der als Sohn Gottes höher war und ist als alle Engel, wurde - zumindest für eine kurze Zeit ("ein wenig" ist im Griechischen [brachý] zeitlich zu verstehen) - weniger als sie: ein sterblicher, ja den Tod erleidender Mensch. Als solcher aber wurde er, weil er sich diesem Weg nicht entzogen hat, sondern ihn bis zum bitteren Ende gegangen ist, von Gott "mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt" (auferweckt und als Sieger über alle todbringenden Mächte eingesetzt). Der Weg der Schmach des Kreuzestodes, der aus römischer Sicht nur mit Verachtung angesehen werden kann, wird von Gott her mit größter Achtung bedacht und als "Königsweg" ("Krönung mit Ehre und Herrlichkeit"!) gewürdigt. Hier wird im Gewand der Psalmensprache, die in ihrer Anwendung gleichermaßen die Adressaten des Briefs stärkt und in Hochstimmung versetzt wie sie die römische Welt - die auch einmal "unterworfen werden wird" - als Scheinwelt entlarvt, in einem positiven Sinne Stimmung gemacht: Menschen, die sich selbst als erniedrigt erfahren, erhalten im erniedrigten und diese Erniedrigung aushaltenden Jesus (das griechische Wort für "leiden" bedeutet wörtlich "kosten, genießen") ein Vorbild. Zugleich ist er aber in der Überwindung dieser Erniedrigung durch Gott selbst der "Anführer ihres Heils" (Vers 10 [s. dazu unter "Auslegung"]), auf den die Gemeinde ("wir" heißt es im Text) hoffnungsvoll schauen darf. Eine solche Solidaritäts- wie Hoffnungsgestalt in Einem vor Augen haben zu dürfen ist ein Geschenk ("Gnade"; von Wille ["gnädiger Wille"] sagt der griechische Wortlaut nichts!).
Vers 10
In einem nächsten Schritt bindet die Lesung das Gesagte in einen größeren Zusammenhang ein:
1. Die Hoffnungsgestalt Jesus wird zurückgebunden an Gott als Ursprung ("durch den") und Ziel ("für den") der Welt. Mitten auf dem Weg, der vom unvordenklichen Anfang zum nicht wirklich absehbaren Ende führt, das aber für jede/n Einzelnen mit dem Tod bereits erfahrbar wird, hat Jesus seinen Platz eingenommen, und zwar als der Gekreuzigte. Auffällig ist, dass der Hebräerbrief dieses Henkerholz ("Kreuz") nur einmal ausdrücklich nennt (Hebräer 12,2), dafür aber um so häufiger das zugehörige "Leiden" als Begriff wählt und auch ausführlicher thematisiert (Hebräer 5,8: "Obwohl er der Sohn war, hat er durch das, was er gelitten hat, den Gehorsam gelernt"). Das "Leiden" scheint auf den Punkt zu bringen, was Jesus mit den Briefadressaten verbindet!
2. Schon die Einleitung des Hebräerbriefs hatte festgehalten: "am Ende dieser Tage hat er [Gott] zu uns gesprochen durch den Sohn, den er zum Erben von allem eingesetzt, durch den er auch die Welt erschaffen hat". Der Autor geht also - wie z. B. auch das Johannesevangelium (Johannes 1,1.14: "Im Anfang war das Wort ... Und das Wort ist Fleisch geworden") davon aus, dass Gott nie ohne Jesus zu denken ist, völlig unabhängig von seinen irdischen biographischen Lebensdaten. Und mit diesem "Sohn" hat Gott von allem Anbeginn an bereits alle Söhne und Töchter [zum Begriff "viele Söhne" s. unter "Auslegung"], d. h. die Menschen im Blick, um auch sie in die ungestörte, von allem Leid und aller Angst vor ihrer möglichen Beendigung befreiten Gemeinschaft mit sich ("Herrlichkeit") zu führen.
3. Die eigentliche Spitzenaussage des Verses ist aber die, dass die Erreichung der Herrlichkeit im Sinne der Gemeinschaft mit Gott für die Menschen nicht nur an "den Sohn" gebunden ist - und z. B. nicht, wie der Hebräerbrief andernorts ausführlich darlegt, z. B. an die Darbringung von Opfern -, sondern an das "Leiden" dieses Sohns, und dass dies auch noch "angemessen war" (griechisch: éprepen). Natürlich kann man diese Aussage im Sinne eines grausamen Zynismus missverstehen und wird dann ein solches Gottesbild berechtigterweise ablehnen. Tatsächlich aber geht es um eine gewaltige Solidaritätsaussage: Gott hält sich aus nichts "fein heraus", und ganz besonders nicht aus allem Leiden dieser Welt, das zu "Schreien und Tränen" (Hebräer 5,7) führt, sondern geht im Sohn genau diesen Weg mit, "durchkostet" (s. oben zu Vers 9) ihn geradezu im Sinne der berühmten Gebetszeile Dietrich Bonhoeffers: "Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand ...". Der Hebräerbrief stellt nicht die spekulative Frage nach einem Gott, der alles Leid der Welt doch gleich hätte verhindern können, sondern geht von der Realität der Welt mit allem Leid, wie sie ist, aus, und sucht in ihr die hilfreiche Spur Gottes. Dieser Realität nicht ausgewichen zu sein, sondern sie im Letzten ausgehalten und durchlitten zu haben, war Jesu Weg, der "zum Ziel geführt hat" (das griechische Wort für "vollenden" [teleíōmai] enthält das Wort télos = "Ziel, Ende").
Vers 11
Der Schlussvers des äußerst dichten Lesungsabschnitt enthält eine weitere Zuspitzung, die so nur an dieser Stelle im gesamten Neuen Testament getroffen wird: Die Herkunft aus dem "Einen", mit dem wohl am ehesten der in Vers 10 genannte "Gott, für den und durch den das All ist" gemeint ist, macht den, durch dessen am Ende in Leben gewandelten Leidensweg (Unterwerfung der Todesmächte = Auferweckung) unbegrenzte "Herrlichkeit" eröffnet wurde (das meint "Heiligung"), und diejenigen, die in diese Herrlichkeitseröffnung mit hineingenommen werden möchten, zu Geschwistern bzw. zu Kindern. Gott nennt nicht nur den Einen, sondern Alle "Sohn" bzw. "Söhne" (hier wird nicht geschlechtergerecht, sondern ausschließlich von Jesus her denkend formuliert, wohl wissend, dass die "Söhne" auch die Frauen umschließt, so wie Jesus nach biologischem Geschlecht zwar Mann war, aber in seinem Wirken Frauen und Männer gleichermaßen erfasst hat). In Entsprechung dazu nennt Jesus Alle "Brüder" (und Schwestern).
Diese "Definition" über die gemeinsame Herkunft übersteigt noch einmal die ethisch argumentierende Aussage Jesu im Matthäusevangelium: "Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan" [s. unter "Kontext"].