"Darstellung des Herrn" - einmal mehr wird an diesem Hochfest, das früher einmal die Weihnachtszeit abschloss, deutlich, wie sehr Gott sich in Jesus auf das Menschsein einlässt. Die Zweite Lesung des Festtages betont die Menschengleichheit des göttlichen Kindes: "Darum musste er [Christus] in allem seinen Brüdern gleich sein" (Hebr 2,17).
Einordnung in den Kontext
Schon mehrfach in der Advents- und Weihnachtszeit begegnete der Hebräerbrief in der zweiten Lesung. Er ist ein eher predigtartiges Schreiben, das in Zeiten der Bedrängnis eine christliche Gemeinde vor Auflösungs- und Fluchttendenzen zu bewahren sucht. Er will also gleichermaßen Mut machen, trösten, aber auch mahnen, da der uns unbekannte Autor keinen anderen Retter kennt als Christus. Jesus Christus verbürgt das ewige Leben.
In Kapitel 1 grenzt der Hebräerbrief Jesus als "Sohn Gottes" von den Engeln ab. Könnte die Hoheit Jesu gegenüber den Engeln zum "Höhenflug" abdriften, betont dagegen Hebräer 2,9 - aus dem die Festtagslesung stammt -, dass der Gottessohn zugleich "ein wenig unter die Engel erniedrigt" wurde. Diese Anspielung auf die alte griechische Fassung von Psalm 8 ("Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als die Engel", der hebräische Text sagt: "... wenig geringer als Gott") sagt aber im Grunde zu wenig, weshalb der Hebräerbrief auf das Todesleiden Jesu verweist ("ihn sehen wir um seines Todesleidens willen mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt").
Dann folgt im der Lesung unmittelbar vorausgehenden Vers 10 eine Art Quersumme der bisherigen Aussagen:
"Denn es war angemessen, dass Gott, für den und durch den das All ist und der viele Söhne zur Herrlichkeit führen wollte, den Urheber des Heils durch Leiden vollendete".
Er bildet das Brückenglied zu den Lesungsversen und ist zugleich deren Verstehensschlüssel.
Verse 11-12.13c: Verbrüderung
Der Sohn - also Jesus als Sohn Gottes - und die Söhne - also die Menschen als Geschöpfe1 - sind beide von Gott nicht zu trennen. Die Beziehung beider zu Gott ist aber unterschiedlich: Der eine war immer schon, vor aller Schöpfung, beim Vater. Die anderen aber gab und gibt es nie anders denn als Geschöpfe und Erdenkinder. Wie aber soll ein erdenferner göttlicher Sohn etwas für die Erdenkinder tun können? Wie soll er eine störungsfreie Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen bewirken können? Das genau meint das Wort "heiligen".
Der Hebräerbrief antwortet: durch "Verbrüderung"! In Jesus wird Gott einer von uns.
Das Stichwort "Bruder" liefert besonders Psalm 22,23, der als erstes zitiert wird. Er wird vom Verfasser des Hebräerbriefes so verstanden, dass Jesus das sprechende Ich des Psalmverses ist, das sich an die Menschen ("meine Brüder") wendet. Hier wird übrigens deutlich, dass das Neue Testament die Psalmen keineswegs nur als Gebete verstand, sondern als Wort Gottes. Deshalb stehen sie in der Heiligen Schrift und können genauso Ausgangspunkt für eine Predigt werden wie ein Prophetentext oder die Tora (5 Bücher Mose).
Es folgen noch zwei weitere verstärkende Psalmenzitate (der Hebräer-Autor liebt solche Zitat-Ketten), von denen die Leseordnung das mittlere auslässt, das vielleicht am wenigsten einen Bezug zum eigentlichen Gedanken zu erkennen gibt.
Verse 14-16: Der Gottessohn wird Menschensohn
Die "Verbrüderung" geschieht dadurch, dass der Gottessohn zum Menschensohn wird. Dabei war es wichtig, die Menschen der damaligen Zeit nicht auf falsche Gedanken zu bringen. Denn dass Götter zu Menschen oder gar Tieren wurden, kannte man aus den griechischen Mythen. Jupiter näherte sich z. B. Leda bekanntlich als Schwan. Und das alte Ehepaar Philemon und Baucis bekam Gottesbesuch in Gestalt eines menschlichen Gastes. Bei Jesus aber geht es nicht um Verkleidung, sondern um einen existentiellen Wandel vom Gott- zum Menschsein. Dieser wird durch nichts deutlicher als das Sterben Jesu. Hier beschönigt übrigens der Hebräerbrief nichts. Jesus ist hier keiner, der heroisch Schmerzen erträgt oder gar als Gottessohn gar nichts spürt. Kapitel 5 spricht von "lautem Schreien, Tränen, Gebeten, Bitten", von "durch Leiden Gehorsam lernen" - "obwohl er Sohn war" (Hebräer 5, 7-8).
Dieses Uns-gleich-Werden ist für den Hebräerbrief deshalb so wichtig, weil er ja eine Gemeinde stärken und trösten will, die in politischer Bedrängnis lebt, einschließlich der Gefahr des Martyriums. In dieser Gemeinde ist "Angst vor dem Tod" (Vers 15) kein Allgemeinplatz, sondern sehr wahrscheinlich eine ganz tief sitzende und täglich gespürte Realität. Wenn aber "der Urheber des Heils durch Leiden vollendet wurde", wenn Gott in seinem Sohn selbst Todesangst durchlebt hat, um am Ende aber diesen Tod zu besiegen, dann kann das diejenigen trösten, die an diesen Gott und seinen Sohn glauben.
VV 17-18
Diese Aussage wird durch einen weiteren Vergleich mit dem Alten Testament (nach den Psalmen) verstärkt. Jetzt geht es um den Hohepriester. Der hatte, solange es den Tempel von Jerusalem gab, die Aufgabe, einmal im Jahr einen großen Sühneritus zur Vergebung der Sünden für das ganze Volk durchzuführen.Die Einführung dieses Vergleichs mit dem Sühnetod Jesu bereitet die großen Passagen in den Kapiteln 5 und 7 - 10 vor, wo es eher um die Unterschiede zwischen Jesus als "Hohepriester" und dem alttestamentlichen Hohepriester geht. In Hebr 2,17-18 geht es um das, was beide verbindet. Der alttestamentliche Hohepriester war immer ein Mensch. Auch Jesus, der zwar nicht durch Opfer, sondern durch seinen eigenen Tod Sündenvergebung bewirkt, war mindestens insoweit Mensch, dass er sogar in Versuchung geführt wurde. Bei der Versuchung scheint sowohl auf die Auseinandersetzung Jesu mit dem Satan in der Wüste angespielt zu sein (vgl. Markus 1,12-13) als auch auf die Getsemane-Szene, in der Jesus den Vater darum bittet, "den Kelch [des Kreuzestodes] an ihm vorübergehen zu lassen" (vgl. Markus 14,35-36; zum Ganzen vgl. die Kommentierung zur Zweiten Lesung am Karfreitag). Für den Hebräerbrief war es für Jesus durchaus eine Versuchung, dem ihn erwartenden Tod auszuweichen. Der, der selbst solche Versuchungen kennt, vermag am ehesten heilsam für diejenigen zu werden, die sich auch versucht sehen, den Nachteilen ihres Glaubens auszuweichen.