Lesejahr C: 2021/2022

2. Lesung (Hebr 12,18-19.22-24a)

18Denn ihr seid nicht zu einem sichtbaren, lodernden Feuer hinzugetreten, zu dunklen Wolken, zu Finsternis und Sturmwind,

19zum Klang der Posaunen und zum Schall der Worte, bei denen die Hörer flehten, diese Stimme solle nicht weiter zu ihnen reden; ...



22Ihr seid vielmehr zum Berg Zion hinzugetreten, zur Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, zu Tausenden von Engeln, zu einer festlichen Versammlung

23und zur Gemeinschaft der Erstgeborenen, die im Himmel verzeichnet sind, und zu Gott, dem Richter aller, und zu den Geistern der schon vollendeten Gerechten,

24zum Mittler eines neuen Bundes, Jesus, ...

Überblick

Nachdem das Kapitel 12, aus dem bereits die Lesungsabschnitte der letzten beiden Sonntage genommen waren, bislang vor allem verdeutlicht hat, welche Kräfte das irdische Leben den Glaubenden abverlangt,  wird am Schluss dieses Kapitels sichtbar, dass diese Kräfte nicht ziellos eingesetzt werden. Nicht der Weg ist das Ziel, sondern "das himmlische Jerusalem", dessen Bürger*innen die Getauften schon sind, ohne aber bereits dort angekommen zu sein. Diese Spannung zwischen "schon " und "noch nicht" löst Hebr 12,18-24 kurzfristig auf, indem der Text die Leserschaft geistig in dieses "himmlische Jerusalem" mit hinein nimmt  und mit einer wahren Bilderflut überschüttet. Wurde im Zusammenhang mit Jesus von der "vor ihm liegenden Freude" gesprochen (Hebräer 12,2), so wird diese Freude nun für die Adessaten des Briefes zumindest für einen Augenblick in Bildern erlebbar. Die große Argumentationskette des Verfassers, um seine Gemeinde(n) in der Glaubenskraft zu stärken und vor Ermüdung, Flucht oder Müdigkeit zu bewahren, ist an ihren Höhepunkt gekommen.

 

Einordnung in den Kontext

Nach dem Hinweis auf den trotz der Schande des Kreuzes durchgehaltenen Glauben Jesu (Hebräer 12,1-4; 20. Sonntag) und dem eher weisheitlich inspirierten Ausflug in die Welt der Erziehung, die nicht ohne Züchtigung und d. h. übertragen: ohne die Erfahrung von Schmerz und Leid auskommt (Hebräer 12,5-17; daraus die Lesung am 21. Sonntag) , wird mit Hebräer 12,18-24 ein völlig anderer Weg beschritten.

Die Lesenden werden mitgenommen in eine Gotteserfahrung. Um diese zu verdeutlichen, wird in den Versen 18-21 zunächst die Grunderfahrung des Gottesvolkes im Alten Testament - die Gottesbegegnung am Berg Sinai während des Auszugs aus Ägypten unter der Führung des Mose - in Erinnerung gerufen. Die ausgelassenen Verse 20-21 unterstreichen, dass  diese Gotteserfahrung  mit "Schrecken und Zittern" verbunden war (Vers 21).  Davon abgesetzt wird dem Berg Sinai ab Vers 21 der "Berg Zion" gegenübergestellt als Bild für das himmlische Jerusalem. Diese "Gottesschau" ist eine ohne jeden Schrecken und jedes Zittern. Für beides lassen die jetzt gewählten Bilder keinen Raum.

Ausgelassen ist mit Vers 24b ein nicht leicht verständlicher Hinweis auf Abel, der wohl ein Rückverweis auf Hebräer 11,4 ist.

Die ebenfalls nicht in die Lesung aufgenommenen Verse 25-29 greifen nach dem einladenden Bild der heutigen Lesung noch einmal auf das Stilmittel der Mahnung zurück: Die Einladung Gottes in das himmlische Jerusalem, "das unerschütterliche Reich" (Vers 28), sollen die "Hebräer" auf keinen Fall "ablehnen" (Vers 25), sondern "dankbar" annehmen (Vers 29). Diese Dankbarkeit wird dann in Kapitel 13, dem Abschlusskapitel des Hebräerbriefs, in Beispielen für das konkrete Verhalten im Gemeindealltag entfaltet.1

 

Verse 18-19: Aufhebung der Zeiten

Mit Vers 18 beginnt nicht nur eine eigentlich bis Vers 29 reichende Passage des Hebräerbriefs, die man als dessen Summe bezeichnen könnte, sondern es wechselt auch die Perspektive. Dies zeigt gleich die Eröffnung, in der es heißt: "Denn ihr seid ...hinzugetreten ...". Dieser Aussagesatz steht im Gegensatz zu den beiden Selbstaufforderungen

Hebräer 4,16:

"Lasst uns also voll Zuversicht hinzutreten zum Thron der Gnade, damit wir Erbarmen und Gnade finden und so Hilfe erlangen zur rechten Zeit!"

und 

Hebräer 10,21-22:                                                                                                                                                                                      

"21 Und da wir einen Hohepriester haben, der über das Haus Gottes gestellt ist, 22 lasst uns mit aufrichtigem Herzen und in voller Gewissheit des Glaubens hinzutreten, die Herzen durch Besprengung gereinigt vom schlechten Gewissen und den Leib gewaschen mit reinem Wasser!"

in der unabgeschlossenen Vergangenheit (Perfekt).

Für einen Augenblick, den sich der Briefschreiber bis zum Schluss aufgehoben hat, wird die bis dahin durchgehaltene Spannung zwischen Jetzt und Später, zwischen Erde und Himmel, zwischen Menschenbereich und Gottesbereich aufgehoben. Für einen kurzen Moment werden die Adressaten in den Bereich des Himmels entführt, als sei die Vollendung schon geschehen. Mit dieser "Vor-Schau" versucht der Hebräerbrief die im Glauben ermüdenden Gemeindeglieder aus der Reserve zu locken und neues Feuer zu entzünden.

Dabei zögert der Brief den eigentlichen Ort des "Hinzutretens" geschickt hinaus, um zunächst aufzuzeigen, welcher Art dieser Ort nicht ist. Dazu zitiert der Briefschreiber Motive der Gotteserscheinung am Berg Sinai, als das Volk Israel unter der Führung des Mose aus Ägypten geflohen war. Verdichtet findet sich das gesamte Vokabular in Deuteronomium/5. Buch Mose 4,10-12:

"10 Vergiss nicht den Tag, als du am Horeb vor dem HERRN, deinem Gott, standest! Der HERR hatte zu mir gesagt: Ruf mir das Volk zusammen! Ich will sie meine Worte hören lassen. Sie sollen lernen, mich zu fürchten, so lange, wie sie im Land leben, und sie sollen es auch ihre Kinder lehren. 11 Ihr wart herangekommen [= "hinzugetreten"] und standet unten am Berg und der Berg brannte: Feuer, hoch bis in den Himmel hinauf, Finsternis, Wolken und Dunkel. 12 Der HERR sprach zu euch mitten aus dem Feuer. Eine Stimme, Worte habt ihr gehört, eine Gestalt habt ihr nicht gesehen, nur Donnerstimme war da."

Dramatisierend sind noch weitere Elemente hinzugenommen, die biblisch alle mit der Gottesbegegnung zu tun haben (vgl. dazu die Schilderung derselben Gottesbegegnung in Exodus/2. Buch Mose 19,10-24). Auffallenderweise wird das Wort "Sinai" oder "Berg", das eigentlich zu erwarten wäre, weggelassen und "ersetzt" durch den Hinweis, dass es sich nicht um eine "berührbare" (griechisch psēlaphōménos)  Stätte handelt, zu der die "Hebräer" hinzugetreten sind. [Leider übersetzt die Einheitsübersetzung hier falsch mit "sichtbar"]. Dies ist eine indirekte Anspielung auf den Berg Sinai, von dem es in Exodus 19,12 heißt:

"Zieh um das Volk eine Grenze und sag: Hütet euch, auf den Berg zu steigen oder auch nur seinen Fuß zu berühren! Jeder, der den Berg berührt, hat den Tod verdient."

Das ist ganz offensichtlich der entscheidende Unterschied zwischen der Gottesbegegnung des Volkes Israel am Sinai und der vor Augen gestellten Gottesbegegnung im Himmel: die erste war noch ganz an die Berührbarkeit gebunden und damit an alles, was irdisch ist, die zweite wird es nicht sein und ist es auch in der Vor-Schau nicht. Es geht eher um eine "mystische" Schau, ein von den leiblichen Augen "unberührtes" Schauen bei geschlossenen Augen ("Mystik" kommt vermutlich von "mýō" "die Augen schließen").

 

Vers 22: Das eigentliche Ziel

Mit Vers 22 beginnt die positive Beschreibung dessen, wohin das "Hinzutreten" geführt hat. Als Erstes nennt der Hebräerbrief in Gegenüberstellung zum ungenannten Sinai den nun  ausdrücklichn genannten "Berg Zion". Er ist so etwas wie der Symbolname für den an sich niedrigen Stadthügel Jerusalems, der keine geographische Angabe machen will, sondern mit dem sich Gottesnähe, Heil und Sehnsucht nach der endgültigen Durchsetzung der Gottesherrschaft verbinden (s. dazu mehr unter "Auslegung").

Als Ort der Sehnsucht nach göttlichem Frieden auf Erden wird schon im Judentum ein vom Himmel erwartetes Jerusalem genannt - eine Vorstellung, die christlich sowohl im Hebräerbrief als auch in der Offenbarung des Johannes aufgenommen wird. Dieses "himmlische Jerusalem" hat nach dem Hebräerbrief nicht unbedingt einen Tempel, sondern ist ein solcher. Es ist eine Stätte des himmlischen Gottesdienstes ("festliche Versammlung"), an dem die Adressaten des Briefes im Hören des Wortes teilnehmen dürfen. Sie sind vereint mit den Engeln, die im Hebräerbrief eine große Rolle spielen (vgl. Hebräer 1,5-15; 2,5-10; im Übrigen s. zu den Engeln die Ausführungen am 3. Sonntag der Osterzeit zur Zweiten Lesung, Überblick, Vers 11).

 

Vers 23: Gemeinschaft als Ziel

Vor allem aber geht es um die Feiergemeinschaft mit den verstorbenen Christen, die im Tode vorangegangen aund mit Christus auferstanden sind. So wie Jesus als "Erstgeborener der Toten" (Kolosser 1,18; Offenbarung 1,5)  bezeichnet wird (in Parallele zum Begriff "Erstgeborener der Schöpfung": Kolosser 1,15) , heißen auch die, die ihm in Tod und Auferstehung gleich werden, "Erstgeborene".

Im Zentrum der Begegnung wie der Feier steht Gott selbst, und zwar als Richter. Dieses Bekenntnis zu Gott durchzieht das Alte wie das Neue Testament und wurde übrigens in gleicher Weise ein zentrales Bekenntnis im Islam. Mit dem Glauben an Gott verbindet sich eine letzte Verantwortlichkeit des Menschen vor seinem Schöpfer für sein Tun. Dieser bedrohlich klingende Gedanke wird hier in ein helles Licht gerückt - es geht ja immer noch um die Ermutigung (!) der glaubensschwachen Adressaten des Hebräerbriefs -, insofern diejenigen in den Blick rücken, die im Gericht bestanden haben.

 

Vers 24a: Begegnung mit Jesus als Ziel

Der Anfang von Vers 24, der durch die Lesungsauswahl aus dem Zentrum des Textes Hebräer 12,18-29 in eine mehr oder weniger abgebrochene Schlussposition gerät (s. Anmerkung 1), lenkt den Blick ganz auf den, der diese beschriebene himmlische Begegnung zwischen Gott und Mensch ermöglicht hat, die hier mystisch vorweggenommen wird: "Jesus", der "Mittler eines neuen Bundes". Mit diesen wenigen Worten zitiert der Hebräerbrief sich selbst und ruft Hebräer 9,15 in Erinnerung:

"Und darum ist er [= Christus] der Mittler eines neuen Bundes; sein Tod hat die Erlösung von den im ersten Bund begangenen Übertretungen bewirkt, damit die Berufenen das verheißene ewige Erbe erhalten".

Dieser Vers Hebräer 9,15 schließt die größere Passage 9,1-15 ab (s. das einleitende "darum" in Vers 15). In ihr findet eine doppelte Gegenüberstellung statt:

1. Anders als der irdische jüdische Hohepriester am Tempel, der jährlich ein Sühnopfer zur Vergebung seienr eigenen Sünden und der ganzen Glaubensgemeinschaft dargebracht hat, hat Jesus ein einziges Mal und für immer sich selbst dargebracht.

2. Der jüdische Sühneritus ist ganz an ein "irdisches Heiligtum" (Hebräer 9,1) gebunden, während Jesus als Mittler im "himmlischen Heiligtum" (vgl. dazu die Verse 11 und 12) wirkt.

Mit anderen Worten: Kapitel 9 des Hebräerbriefs umschreibt im kultischen Bild der Gegenüberstellung von irdischem und himmlischem Heiligtum dasselbe, was Hebräer 12 mit der Gegenüberstellung von irdischem Sinai und himmlischem Jerusalem meint. Der entscheidende Unterschied: Heräer 9 ist ein belehrender Text über Jesus, Hebräer 12 führt in das innere, vorwegnehmende Erleben dessen hinein, was auf die wartet, die auf Jesus und seinen himmlischen Vater ihre ganze Hoffnung setzen.

Auslegung

Der Berg Zion (Vers 22)

Wenn der Symbolort der alttestamentlichen Begegnung zwischen Gott und seinem Volk ein Berg ist, nämlich der Sinai1, dann ist es naheliegend, dass für die Christus-Begegnung in der Vollendung auch ein Berg gewählt wird. Dafür bot sich der Berg Zion besonders an, da er schon im Alten Testament den "Entsprechungsberg" zum Sinai bildet. Hier, auf dem Zion im Tempel, kommt Gott selbst zur Ruhe, nachdem er sein Volk, dem er sich am Sinai Volk kundgetan hat, auf dem Weg von Ägypten bis ins verheißene Land begleitet hat. So wird auch der Berg Zion zum Ort der Gottesgegenwart und der Gottesbegegnung.

Allgemein steht dahinter die Tatsache, dass Götter in der Alten Welt grundsätzlich gerne mit einem Berg als Götterwohnung verbunden werden, wie z. B. die altgriechische Vorstellung vom Olymp beweist.

So verwundert es nicht, dass Israel die Einzigkeit seines Gottes mit einer Einzigkeit des Berges Zion untermauert, auch wenn die äußeren Gegebenheiten dem nicht ganz entsprechen. Denn schon der neben dem Zions-Hügel von Jerusalem liegende Ölberg ist deutlich höher. In überhöhender, mythisierender und idealisierender Weise heißt es z. B. in Psalm 48:

2 Groß ist der HERR und hoch zu loben in der Stadt unseres Gottes.
3 Sein heiliger Berg ragt herrlich empor; er ist die Freude der ganzen Erde. Der Berg Zion liegt weit im Norden; er ist die Stadt des großen Königs. ...
12 Der Berg Zion freue sich, die Töchter Judas sollen über deine Urteile jubeln.
13 Umkreist den Zion, umschreitet ihn, zählt seine Türme!
14 Betrachtet seine Wälle, geht in seinen Palästen umher, damit ihr einem späteren Geschlecht erzählen könnt:
15 Ja, das ist Gott, unser Gott für immer und ewig. Über das Sterben hinaus wird er selbst uns leiten.

Der Berg Zion ist damit Symbol für Gott selbst einerseits und für die auf ihn sich gründende Gemeinschaft der Glaubenden, die allein von ihm Heil erwarten, andererseits. Dieses Heil findet seine Ausdrucksform in der Erwartung eines universalen Friedens, in dem Waffen zu  Landwirtschaftsgerät umgeschmiedet werden (s. die Ankündigung der Völkerwallfahrt in Jesaja 2,1-5), bzw. in der Erwartung lichtvollen Heils:

"1 Um Zions willen werde ich nicht schweigen, um Jerusalems willen nicht still sein, bis hervorbricht wie ein helles Licht seine Gerechtigkeit und sein Heil wie eine brennende Fackel.2 Dann sehen die Nationen deine Gerechtigkeit und alle Könige deine Herrlichkeit. Man ruft dich mit einem neuen Namen, den der Mund des HERRN für dich bestimmt" (Jes 62,1-2).

Insofern sich mit Zion also zwar mit irdischen Bildern umschriebene, aber doch jedes irdische Maß übersteigende Sehnsüchte und Hoffnungen verbinden, ist die Rede von einem himmlischen Berg Zion in Hebräer 12,22 durchaus nachvollziehbar. Die Konkretisierung der Gottesbegegnung zur Jesus-Begegnung ist natürlich eine christliche Füllung, die ihre Entsprechung im Bild des "himmlischen Jerusalem" mit "dem Lamm" (= der in den Himmel erhöhte Christus) findet (vgl. Offenbarung 21,9-27 und dazu besonders die Rubrik "Auslegung" in der Kommentierung der 2. Lesung am 5. Sonntag der Osterzeit).

 

"Stadt des lebendigen Gottes" (Vers 22)

Der ebenfalls in Vers 22 genannte "lebendige Gott" ("Stadt des lebendigen Gottes") ist weniger der Gegenbegriff zu einem "toten" Gott als vor allem zu einem unwirksamen Gott. Es ist der wirkmächtige Gott, der in den Lesungen der liturgischen Feiern spricht und dem die antwortende Gemeinde zutraut, dass er weiterhin handelt, wie er einst gehandelt hat und seine Versprechen einlöst, zur Vollendung zu führen. Das ist der Sinn des Schluss-Dialogs nach jeder Lesung: "Wort des lebendigen Gottes! - Dank sei Gott!".

 

"Die Geister der schon vollendeten Gerechten" (Vers 23)

Für die Deutung der "Geister der schon vollendeten Gerechten" wird vorgeschlagen, in ihnen nur eine erneute Nennung der "Erstgeborenen" unter dem Aspekt der "Vollendung" zu verstehen.

Man kann in dieser Formulierung aber auch eine doppelte Anspielung auf das Buch Daniel sehen. Mit ihm ist der Hebräerbrief zumindest teilweise durch die apokalyptische Sprache bzw. die dahinter stehenden Vorstellungen verbunden, wie z. B. die starke Betonung der Engel (Hebräer 1-2) zeigt.

Eine erste Anspielung könnte sich auf Daniel 12,1-3 beziehen (Erwartung einer Auferweckung derer, die viele zur "Gerechtigkeit" geführt haben und damit selber "Gerechte" sind).  Hier sind vor allem die am Glauben festhaltenden Juden zur Zeit des Daniel (2. Jh. v. Chr.) gemeint, die ihre Mitschwestern und -brüder im Glauben bestärkt haben. Zusammen mit der Bemerkung, dass Gott der Richter "Aller" ist - also nicht nur der Adressaten des Hebräerbriefs oder der Christen -  könnten mit "den Geistern der schon vollendeten Gerechten" auch die an Gott festhaltenden Juden aus allen Zeiten gemeint sein, wobei der Hebräerbrief vielleicht zunächst an diejenigen denkt, die vor dem Kommen Jesu in dieser Welt gelebt haben und gestorben sind und sich somit überhaupt nicht an ihn binden konnten.

Wenn diese Auslegung zutrifft, berühren sich die Hoffnung des Hebräerbriefs und die des Paulus, der in Römer 9-11 ebenfalls für die an Gott treu festhaltenden Juden, die aus ihrer Glaubensüberzeugung heraus den Weg mit Jesus nicht mitgehen können, von Gott her ewiges Heil erwartet.

Für diese Deutung spricht auch, dass man Vers 23 als Zitat aus dem berühmten "Gesang der Jünglinge im Feuerofen" Daniel 3 lesen kann bzw. als Auslegung zu dieser Passage:

83 Preist den HERRN, ihr Israeliten; lobt und rühmt ihn in Ewigkeit!
84 Preist den HERRN, ihr seine Priester; lobt und rühmt ihn in Ewigkeit!
85 Preist den HERRN, ihr seine Knechte; lobt und rühmt ihn in Ewigkeit!
86 Preist den HERRN, ihr Geister und Seelen der Gerechten; lobt und rühmt ihn in Ewigkeit! (Dan 3,.83-86).

Weitere Belege für diese weite Sicht des Hebräerbriefs bezüglich derer, die das Heil erhoffen dürfen, sind unter der Rubrik  "Kontext" angeführt.

 

 "Ein neuer Bund" (Vers 24)

Mit der Rede von "einem neuen Bund" bewegt sich der Hebräerbrief auf theologisch sensiblem Gebiet. Zumindest in der Nachwirkung hat wohl nicht zuletzt dieses Schreiben eine Sichtweise in der Kirche bewirkt, die das Judentum dem "alten Bund" zuordnet, welcher von Gott aufgelöst worden sei, um in Jesus einen "neuen Bund" zu schließen, der natürlich nur den Christen gilt. Diese Auffassung hat ihre deutlichste Ausformulierung in der Übertragung des Eucharistiehymnus "Tantum ergo sacramentum" des hl. Thomas von Aquin (1225 - 1274) durch den Gymnasiallehrer Heinrich Bone (1813 - 1893) gefunden. In dessen deutscher Version von 1847 heißt es sehr frei gegenüber dem lateinischen Text ("et antiquum documentum novo cedat ritui" - wörtlich: "und das Alte Testament (?) möge dem neuen Ritus weichen"): "..dieser Bund wird ewig währen, und der alte hat ein End". Dass diese sehr radikale Gegenüberstellung zumindest nicht zwingend ist, zeigen ältere Übertragungsvorschläge, die von "alten Bildern" bzw. vom "alten Brauch" sprechen, die durch "ein Neues Testament" bzw. durch einen "neuen Brauch" abgelöst werden (D. Gottlieb Mohnike, Hymnologische Forschungen Zweither Teil, Stralsund 1832, S. 182-186).

Unabhängig von der Frage der zutreffenden Übersetzung des Thomas-Textes bzw. der Diskussion, was er genau meint, lässt sich im Blick auf den Hebräerbrief deutlich erkennen: Er hält mit Sicherheit als Bekenntnis fest, dass Gott in Jesus etwas Neues getan hat: An die Stelle eines Zugangs zu sich selbst über Weisungen ("Gesetz") und Opferriten hat er in Jesus einen einmaligen, keiner Wiederholung bedürfenden und zugleich personalen Zugang zu sich eröffnet.

Dies alles geschieht aber unter dem Vorzeichen desselben Bundes und desselben Gottes, der von jeher gesprochen hat. Die Verheißung an Abraham und der Bund mit ihm kann ja nur deshalb so oft herangezogen werden (zwischen Hebräer 2,16 und 11,17 wird Abraham elfmal genannt!), weil es eben nie eine Aufhebung dieses Bundes gab! Anders gesagt: Wenn der Hebräerbrief tatsächlich öfter von einem "alten Bund" im Gegensatz zu einem "besseren" Bund spricht (Heb räer 7,22; 8,6), bezieht er den Begriff einzig und allein auf die "berührbaren" Riten, die im Sinai-Bund festgelegt wurden. Ein Blick auf die Verse Hebräer 9,1-7 verdeutlicht dies sehr schnell:

"1 Der erste Bund hatte zwar gottesdienstliche Vorschriften und ein irdisches Heiligtum. 2 Es wurde nämlich ein erstes Zelt errichtet, in dem sich der Leuchter, der Tisch und die Schaubrote befanden; dieses wird das Heilige genannt. 3 Hinter dem zweiten Vorhang jedoch war ein Zelt, das Allerheiligstes genannt wird, 4 mit dem goldenen Rauchopferaltar und der ganz mit Gold überzogenen Bundeslade; darin waren ein goldener Krug mit dem Manna, der Stab Aarons, der Triebe angesetzt hatte, und die Bundestafeln; 5 über ihr waren die Kerubim der Herrlichkeit, die die Sühneplatte überschatteten. Doch es ist nicht möglich, darüber jetzt im Einzelnen zu reden. 6 So also ist das alles geordnet. In das erste Zelt gehen die Priester das ganze Jahr hinein, um die heiligen Dienste zu verrichten. 7 In das zweite Zelt aber geht nur einmal im Jahr der Hohepriester allein hinein, und zwar mit dem Blut, das er für sich und für die unwissentlich begangenen Vergehen des Volkes darbringt."

Davon zu unterscheiden ist der Hinweis auf den erneuerten Bund in Hebr 10,14-18:

14 Denn durch ein einziges Opfer hat er die, die geheiligt werden, für immer zur Vollendung geführt. 15 Das bezeugt uns auch der Heilige Geist; nachdem er gesagt hat: 16 Dies ist der Bund, den ich nach diesen Tagen mit ihnen schließen werde - spricht der Herr: Ich lege meine Gesetze in ihr Herz und schreibe sie in ihr Denken hinein; 17 und: An ihre Sünden und Übertretungen denke ich nicht mehr. 18 Wo also die Sünden vergeben sind, da gibt es kein Opfer für die Sünden mehr.

Hier zitiert der Verfasser eine Ankündigung aus Jeremia 31,33-34 (fett gedruckt). Erkennbar ist das eigentlich Neue der Verzicht auf den Opferritus, während die eigentliche Bundesgrundlage - "meine Gesetze" - gültig bleiben, nicht länger als "berührbares" steinernes Dokument (die 2 Tafeln mit den 10 Geboten des Sinai), sondern eingeschrieben und verinnerlicht in den Herzen des Menschen. Es bleiben aber dieselben, eben nie aufgehobenen und ungültig gewordenen Gottesworte. Dieser neue Bundesschluss ist eine Erneuerung des vorangehenden, auf derselben Basis, aber mit anderen Rahmenbedingungen. Denn Gott bleibt sich treu. Daran können Menschen nichts ändern, sie können sich höchstens selbst von diesem treuen Gott lossagen. Wenn Paulus einmal rhetorisch fragt:  "...Wenn einige untreu wurden, wird dann etwa ihre Untreue die Treue Gottes aufheben?" (Römer 3,3), so liegt die Antwort auf der Hand: Nein, er bleibt treu!

1

Kunst etc.

Berg Sinai, 31.8.2006, CC BY-SA 4.0, EinsamerSchütze
Berg Sinai, 31.8.2006, CC BY-SA 4.0, EinsamerSchütze

Der Anblick des Sinai-Felsens bzw. eines der damit identifizierten Berge auf der Sinai-Halbinsel veranschaulicht, worauf der Hebräerbrief in Vers 18 zielt: "Ihr seid zu etwas Berührbarem hinzugetreten". Es ist die Massivität und Materialität des Felsens, die das Gegenbild zur "schwebenden Himmelsgemeinschaft" (vgl. Vers 23) darstellt. Irdische Gewichtigkeit steht der erhebenden mystischen Vor-Schau gegenüber.