Nachdem das Kapitel 12, aus dem bereits die Lesungsabschnitte der letzten beiden Sonntage genommen waren, bislang vor allem verdeutlicht hat, welche Kräfte das irdische Leben den Glaubenden abverlangt, wird am Schluss dieses Kapitels sichtbar, dass diese Kräfte nicht ziellos eingesetzt werden. Nicht der Weg ist das Ziel, sondern "das himmlische Jerusalem", dessen Bürger*innen die Getauften schon sind, ohne aber bereits dort angekommen zu sein. Diese Spannung zwischen "schon " und "noch nicht" löst Hebr 12,18-24 kurzfristig auf, indem der Text die Leserschaft geistig in dieses "himmlische Jerusalem" mit hinein nimmt und mit einer wahren Bilderflut überschüttet. Wurde im Zusammenhang mit Jesus von der "vor ihm liegenden Freude" gesprochen (Hebräer 12,2), so wird diese Freude nun für die Adessaten des Briefes zumindest für einen Augenblick in Bildern erlebbar. Die große Argumentationskette des Verfassers, um seine Gemeinde(n) in der Glaubenskraft zu stärken und vor Ermüdung, Flucht oder Müdigkeit zu bewahren, ist an ihren Höhepunkt gekommen.
Einordnung in den Kontext
Nach dem Hinweis auf den trotz der Schande des Kreuzes durchgehaltenen Glauben Jesu (Hebräer 12,1-4; 20. Sonntag) und dem eher weisheitlich inspirierten Ausflug in die Welt der Erziehung, die nicht ohne Züchtigung und d. h. übertragen: ohne die Erfahrung von Schmerz und Leid auskommt (Hebräer 12,5-17; daraus die Lesung am 21. Sonntag) , wird mit Hebräer 12,18-24 ein völlig anderer Weg beschritten.
Die Lesenden werden mitgenommen in eine Gotteserfahrung. Um diese zu verdeutlichen, wird in den Versen 18-21 zunächst die Grunderfahrung des Gottesvolkes im Alten Testament - die Gottesbegegnung am Berg Sinai während des Auszugs aus Ägypten unter der Führung des Mose - in Erinnerung gerufen. Die ausgelassenen Verse 20-21 unterstreichen, dass diese Gotteserfahrung mit "Schrecken und Zittern" verbunden war (Vers 21). Davon abgesetzt wird dem Berg Sinai ab Vers 21 der "Berg Zion" gegenübergestellt als Bild für das himmlische Jerusalem. Diese "Gottesschau" ist eine ohne jeden Schrecken und jedes Zittern. Für beides lassen die jetzt gewählten Bilder keinen Raum.
Ausgelassen ist mit Vers 24b ein nicht leicht verständlicher Hinweis auf Abel, der wohl ein Rückverweis auf Hebräer 11,4 ist.
Die ebenfalls nicht in die Lesung aufgenommenen Verse 25-29 greifen nach dem einladenden Bild der heutigen Lesung noch einmal auf das Stilmittel der Mahnung zurück: Die Einladung Gottes in das himmlische Jerusalem, "das unerschütterliche Reich" (Vers 28), sollen die "Hebräer" auf keinen Fall "ablehnen" (Vers 25), sondern "dankbar" annehmen (Vers 29). Diese Dankbarkeit wird dann in Kapitel 13, dem Abschlusskapitel des Hebräerbriefs, in Beispielen für das konkrete Verhalten im Gemeindealltag entfaltet.1
Verse 18-19: Aufhebung der Zeiten
Mit Vers 18 beginnt nicht nur eine eigentlich bis Vers 29 reichende Passage des Hebräerbriefs, die man als dessen Summe bezeichnen könnte, sondern es wechselt auch die Perspektive. Dies zeigt gleich die Eröffnung, in der es heißt: "Denn ihr seid ...hinzugetreten ...". Dieser Aussagesatz steht im Gegensatz zu den beiden Selbstaufforderungen
Hebräer 4,16:
"Lasst uns also voll Zuversicht hinzutreten zum Thron der Gnade, damit wir Erbarmen und Gnade finden und so Hilfe erlangen zur rechten Zeit!"
und
Hebräer 10,21-22:
"21 Und da wir einen Hohepriester haben, der über das Haus Gottes gestellt ist, 22 lasst uns mit aufrichtigem Herzen und in voller Gewissheit des Glaubens hinzutreten, die Herzen durch Besprengung gereinigt vom schlechten Gewissen und den Leib gewaschen mit reinem Wasser!"
in der unabgeschlossenen Vergangenheit (Perfekt).
Für einen Augenblick, den sich der Briefschreiber bis zum Schluss aufgehoben hat, wird die bis dahin durchgehaltene Spannung zwischen Jetzt und Später, zwischen Erde und Himmel, zwischen Menschenbereich und Gottesbereich aufgehoben. Für einen kurzen Moment werden die Adressaten in den Bereich des Himmels entführt, als sei die Vollendung schon geschehen. Mit dieser "Vor-Schau" versucht der Hebräerbrief die im Glauben ermüdenden Gemeindeglieder aus der Reserve zu locken und neues Feuer zu entzünden.
Dabei zögert der Brief den eigentlichen Ort des "Hinzutretens" geschickt hinaus, um zunächst aufzuzeigen, welcher Art dieser Ort nicht ist. Dazu zitiert der Briefschreiber Motive der Gotteserscheinung am Berg Sinai, als das Volk Israel unter der Führung des Mose aus Ägypten geflohen war. Verdichtet findet sich das gesamte Vokabular in Deuteronomium/5. Buch Mose 4,10-12:
"10 Vergiss nicht den Tag, als du am Horeb vor dem HERRN, deinem Gott, standest! Der HERR hatte zu mir gesagt: Ruf mir das Volk zusammen! Ich will sie meine Worte hören lassen. Sie sollen lernen, mich zu fürchten, so lange, wie sie im Land leben, und sie sollen es auch ihre Kinder lehren. 11 Ihr wart herangekommen [= "hinzugetreten"] und standet unten am Berg und der Berg brannte: Feuer, hoch bis in den Himmel hinauf, Finsternis, Wolken und Dunkel. 12 Der HERR sprach zu euch mitten aus dem Feuer. Eine Stimme, Worte habt ihr gehört, eine Gestalt habt ihr nicht gesehen, nur Donnerstimme war da."
Dramatisierend sind noch weitere Elemente hinzugenommen, die biblisch alle mit der Gottesbegegnung zu tun haben (vgl. dazu die Schilderung derselben Gottesbegegnung in Exodus/2. Buch Mose 19,10-24). Auffallenderweise wird das Wort "Sinai" oder "Berg", das eigentlich zu erwarten wäre, weggelassen und "ersetzt" durch den Hinweis, dass es sich nicht um eine "berührbare" (griechisch psēlaphōménos) Stätte handelt, zu der die "Hebräer" hinzugetreten sind. [Leider übersetzt die Einheitsübersetzung hier falsch mit "sichtbar"]. Dies ist eine indirekte Anspielung auf den Berg Sinai, von dem es in Exodus 19,12 heißt:
"Zieh um das Volk eine Grenze und sag: Hütet euch, auf den Berg zu steigen oder auch nur seinen Fuß zu berühren! Jeder, der den Berg berührt, hat den Tod verdient."
Das ist ganz offensichtlich der entscheidende Unterschied zwischen der Gottesbegegnung des Volkes Israel am Sinai und der vor Augen gestellten Gottesbegegnung im Himmel: die erste war noch ganz an die Berührbarkeit gebunden und damit an alles, was irdisch ist, die zweite wird es nicht sein und ist es auch in der Vor-Schau nicht. Es geht eher um eine "mystische" Schau, ein von den leiblichen Augen "unberührtes" Schauen bei geschlossenen Augen ("Mystik" kommt vermutlich von "mýō" "die Augen schließen").
Vers 22: Das eigentliche Ziel
Mit Vers 22 beginnt die positive Beschreibung dessen, wohin das "Hinzutreten" geführt hat. Als Erstes nennt der Hebräerbrief in Gegenüberstellung zum ungenannten Sinai den nun ausdrücklichn genannten "Berg Zion". Er ist so etwas wie der Symbolname für den an sich niedrigen Stadthügel Jerusalems, der keine geographische Angabe machen will, sondern mit dem sich Gottesnähe, Heil und Sehnsucht nach der endgültigen Durchsetzung der Gottesherrschaft verbinden (s. dazu mehr unter "Auslegung").
Als Ort der Sehnsucht nach göttlichem Frieden auf Erden wird schon im Judentum ein vom Himmel erwartetes Jerusalem genannt - eine Vorstellung, die christlich sowohl im Hebräerbrief als auch in der Offenbarung des Johannes aufgenommen wird. Dieses "himmlische Jerusalem" hat nach dem Hebräerbrief nicht unbedingt einen Tempel, sondern ist ein solcher. Es ist eine Stätte des himmlischen Gottesdienstes ("festliche Versammlung"), an dem die Adressaten des Briefes im Hören des Wortes teilnehmen dürfen. Sie sind vereint mit den Engeln, die im Hebräerbrief eine große Rolle spielen (vgl. Hebräer 1,5-15; 2,5-10; im Übrigen s. zu den Engeln die Ausführungen am 3. Sonntag der Osterzeit zur Zweiten Lesung, Überblick, Vers 11).
Vers 23: Gemeinschaft als Ziel
Vor allem aber geht es um die Feiergemeinschaft mit den verstorbenen Christen, die im Tode vorangegangen aund mit Christus auferstanden sind. So wie Jesus als "Erstgeborener der Toten" (Kolosser 1,18; Offenbarung 1,5) bezeichnet wird (in Parallele zum Begriff "Erstgeborener der Schöpfung": Kolosser 1,15) , heißen auch die, die ihm in Tod und Auferstehung gleich werden, "Erstgeborene".
Im Zentrum der Begegnung wie der Feier steht Gott selbst, und zwar als Richter. Dieses Bekenntnis zu Gott durchzieht das Alte wie das Neue Testament und wurde übrigens in gleicher Weise ein zentrales Bekenntnis im Islam. Mit dem Glauben an Gott verbindet sich eine letzte Verantwortlichkeit des Menschen vor seinem Schöpfer für sein Tun. Dieser bedrohlich klingende Gedanke wird hier in ein helles Licht gerückt - es geht ja immer noch um die Ermutigung (!) der glaubensschwachen Adressaten des Hebräerbriefs -, insofern diejenigen in den Blick rücken, die im Gericht bestanden haben.
Vers 24a: Begegnung mit Jesus als Ziel
Der Anfang von Vers 24, der durch die Lesungsauswahl aus dem Zentrum des Textes Hebräer 12,18-29 in eine mehr oder weniger abgebrochene Schlussposition gerät (s. Anmerkung 1), lenkt den Blick ganz auf den, der diese beschriebene himmlische Begegnung zwischen Gott und Mensch ermöglicht hat, die hier mystisch vorweggenommen wird: "Jesus", der "Mittler eines neuen Bundes". Mit diesen wenigen Worten zitiert der Hebräerbrief sich selbst und ruft Hebräer 9,15 in Erinnerung:
"Und darum ist er [= Christus] der Mittler eines neuen Bundes; sein Tod hat die Erlösung von den im ersten Bund begangenen Übertretungen bewirkt, damit die Berufenen das verheißene ewige Erbe erhalten".
Dieser Vers Hebräer 9,15 schließt die größere Passage 9,1-15 ab (s. das einleitende "darum" in Vers 15). In ihr findet eine doppelte Gegenüberstellung statt:
1. Anders als der irdische jüdische Hohepriester am Tempel, der jährlich ein Sühnopfer zur Vergebung seienr eigenen Sünden und der ganzen Glaubensgemeinschaft dargebracht hat, hat Jesus ein einziges Mal und für immer sich selbst dargebracht.
2. Der jüdische Sühneritus ist ganz an ein "irdisches Heiligtum" (Hebräer 9,1) gebunden, während Jesus als Mittler im "himmlischen Heiligtum" (vgl. dazu die Verse 11 und 12) wirkt.
Mit anderen Worten: Kapitel 9 des Hebräerbriefs umschreibt im kultischen Bild der Gegenüberstellung von irdischem und himmlischem Heiligtum dasselbe, was Hebräer 12 mit der Gegenüberstellung von irdischem Sinai und himmlischem Jerusalem meint. Der entscheidende Unterschied: Heräer 9 ist ein belehrender Text über Jesus, Hebräer 12 führt in das innere, vorwegnehmende Erleben dessen hinein, was auf die wartet, die auf Jesus und seinen himmlischen Vater ihre ganze Hoffnung setzen.