Die Adressaten des Hebräerbriefs leben in der Bedrängnis durch das römische Reich Da trauen sich längst nicht mehr alle, zum auch der gegenseitigen Stärkung dienenden Gottesdienst zu kommen. Einige haben wahrscheinlich schon dem Glauben selbst den Rücken gekehrt und akzeptieren den Kaiserkult, um z. B. als Handelsleute "im Geschäft zu bleiben". Diesen Tendenzen zu Flucht, Aufgabe und Glaubensmüdigkeit möchte der Verfasser des Hebräerbriefs, der eher eine mehrteilige Predigt mit Exkursen (z. B. Kapitel 11) ist, mit allen Registern entgegenwirken.
Einordnung in den Kontext
Das der Lesung vorangehende Kapitel 11 bot dazu eine beeindruckende Liste von Glaubenszeugen aus alttestamentlicher Zeit. Bis zu ihrem "normalen" oder auch gewalttätigen Tod sind sie allesamt nicht in der Kraft erlahmt, auf das von Gott hinterlegte "unsichtbare Erbe" zu hoffen, nämlich den Einzug in das "himmlische Jerusalem". Rhetorisch geschickt lenkt nun Kapitel 12 den Blick zurück von der Himmelschau (Bild der "Wolke" in Vers 1) auf die irdischen Adressaten des Hebräerbriefs.
Aufbau des Textes
Die Verse 1-3 (ohne Vers 4) bilden eine Einheit in sich. Sie wird gerahmt einerseits durch die Selbstaufforderung, "Fesseln abzuwerfen" und "im Wettkampf zu laufen" (Vers 1), und andererseits durch die Aufforderung, "nicht zu ermatten und mutlos zu werden" (Vers 3).
Diese Aufforderung gründet in einem besonderen Blick, nämlich demjenigen auf Jesus (vgl. Vers 3: "Richtet also eure Aufmerksamkeit auf den..." als Rückgriff auf Vers 2: "... und dabei auf Jesus blicken"). Die Jesus betreffenden Aussagen bilden die Mitte der Texteinheit und bestimmen den ganzen Vers 2. Auf diese Mitte hin lenkt Vers 1 allmählich die Aufmerksamkeit und von dieser Mitte her zieht Vers 3 die Konsequenz für das Handeln der Gemeinde. Die Mitte von Vers 2 wiederum und damit das Zentrum der ganzen Einheit Hebräer 12,1-3 ist das Wort "Kreuz", das nur an dieser Stelle im gesamten Hebräerbrief vorkommt.
Vers 4 ist ein typischer Übergangsvers, der vom Griechischen her den Folgevers 5 einleitet. Dies zeigt der Übergang zwischen beiden Versen 4 und 5 mit dem Wörtchen "und". Die Lesungsauswahl hat aber offensichtlich Vers 4 als für sich stehende Aussage verstanden und noch zu den Versen 1-3 gezogen.
Vers 1: Von der "Wolke der Zeugen" zu den Lesenden des Hebräerbriefs
Während Kapitel 11 eher im Zeitraffer durch die Zeiten geht und namentliche Glaubenszeugen und -zeuginnen sowie Gruppen von Verfolgten chronologisch aufeinander folgen lässt, bindet die Eröffnung von Kapitel 12 alle in das Bild der "Wolke" zusammen. Nicht die Einzelbeispiele der Zeugen und ihre Verteilung über die Zeit sind das Entscheidende, sondern die gewaltige Fülle und die Gemeinschaft. Was sie eint, wurde in Kapitel 11 durch die immer wieder refrainartig wiederholte Formel "aufgrund des Glaubens" verdeutlicht (beginnend mit Abel in 11,4 insgesamt neunzehnmal) .
An dieser Gemeinschaft will der Verfasser seine Adressaten teilhaben lassen. Rhetorisch holt er die Hörenden oder Lesenden sozusagen in die Wolke mit hinein, und zwar geschickt im sich selbst einbeziehenden Wir-Stil. Er lässt das geistige Auge diese "Wolke" durchwandern, um dann wieder ganz realistisch auf den Boden der irdischen Gegebenheiten zu blicken.
Dazu wechselt er veranschaulichend das Bild: Jetzt befinden wir uns sozusagen in der Arena einer römischen Wettkampfstätte. Von der "Wolkenversammlung", die wie eine beflügelnde Zuschauermenge von oben herabschaut, geht es jetzt um den sportlich-kämpferischen Einsatz des Einzelnen, um laufend das Ziel zu erreichen. Alles, was den Lauf behindern könnte, soll abgeworfen werden, damit man sich ja nicht mit überflüssigem Ballast unnötig beschwert oder irgendetwas am Leibe trägt, in dem man sich verfangen könnte. Das anschauliche Bild steht für die "Sünde", die hier als Kurzwort für alles steht, was sich an irdischen Verführungsmöglichkeiten bietet, um dem Glauben Adé zu sagen. (Näheres unter der Rubrik "Auslegung"). Ihnen gilt es mit Ausdauer zu widerstehen.
Vers 2: Das Vorbild Jesus
Mehreres an diesem Vers fällt auf:
1. Der Name "Jesus"
Der Blick aus der Wolke wird auf "Jesus" gelenkt, der hier einzig und allein mit seinem irdischen Namen genannt wird. Das fällt auf, da der Hebräerbrief sonst durchaus auch von "Jesus Christus" spricht (vgl. geradezu hymnisch Hebräer 13,8: "Jesus Christus ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit."). Vom älteren Paulus her gesehen wäre dies auch die viel geläufigere Redeweise. Doch schon die erste Nennung Jesu (Hebr 2,9: "aber den, der ein wenig unter die Engel erniedrigt war, Jesus, ihn sehen wir um seines Todesleidens willen mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt;") zeigt, dass der Hebräerbrief vor allem auf Jesus in seinem Todesleiden schaut.
2. "Kreuz"
Genau darauf wird auch diesem Vers der Lesung mit dem Stichwort "Kreuz" angespielt. Spätestens jetzt könnte man irritiert sein: Denn was soll das Wettkampfmotiv mit dem Kreuz zu tun haben?
Hier zeigt sich der höchst kreative Umgang des Predigers, der aus dem Hebräerbrief spricht bzw. der sich hinter dem anonymen Schreiber verbirgt, mit den ihm vorliegenden Traditionen. Weder interessiert ihn - zumindest an dieser Stelle - das Kreuz als Folterinstrument noch als "Ort" der "Vergebung der Sünden" oder als Pfahl, an dem "unser Schuldschein angeheftet wurde" (vgl. zu den beiden letzten Aspekten zuletzt noch Kolosser 2,13-14 in der Zweiten Lesung am 17. Sonntag). Von Interesse ist allein die "Schande" und die Beschämung der Person, die die Kreuzigung in der römischen Welt bedeutete. "Schlimmer geht nimmer", so darf man sich vorstellen, was ein Römer über einen Gekreuzigten dachte.
Dieser "Schande" hat sich Jesus nicht entzogen, glaubend an und hoffend auf den, der die an ihn Glaubenden "zuschanden werden" lässt (zu dieser biblsichen Redeweise vgl. bereits Ps 22,5-6: "5 Dir haben unsere Väter vertraut, sie haben vertraut und du hast sie gerettet. 6 Zu dir riefen sie und wurden befreit, dir vertrauten sie und wurden nicht zuschanden.").
Glaubend bekennt der Hebräerbrief, dass Jesus in seinem Glauben nicht enttäuscht wurde: Er hat "sich zur Rechten von Gottes Thron gesetzt". Dies ist nicht nur einfach eine traditionsgeprägte Ausdrucksweise für das Fortwirken des auferweckten Jesus Christus, sondern dieser Ausdruck der himmlischen Erhöhung wird sehr gezielt eingesetzt: Dem Bild größter Schande (im irdisch-römischen Sinne) wird ein Bild höchster Macht gegenübergestellt, vor der jeder römische Kaiserthron und der darauf Sitzende in die Bedeutungslosigkeit entschwindet.
3. "Vollendung"
Das Bild vom "Thronen zur Rechten Gottes" ist zugleich eine Veranschaulichung dessen, was der Begriff "Vollendung" ("Vollender des Glaubens") meint: Es ist die Teilhabe an der endgültigen Gottesherrschaft, an dem "Zustand", der eintritt, wenn die Vaterunser-Bitte "Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden" sich als Bitte erübrigt haben wird, weil er reine Wirklichkeit ist. Jesus ist dort schon angekommen - so bekennt der Glaube -, um allen, die in gleicher Weise wie er Gott vertrauen und auf ihn hoffen, den Weg dorthin zu eröffnen. Insofern ist er tatsächlich im Sinne des Vorbildes "Anführer des Glaubens", im Sinne des bereits am Ziel Angekommenen "Vollender des Glaubens" und im Sinne des Wegbereiters "Urheber ewigen Heils" (vgl. Hebr 5,9). Zum Begriff "Urheber des Glaubens", wie die Einheitsübersetzung den griechischen Ausdruck "archēgós" unglücklicherweise wiedergibt, s. die Rubrik "Auslegung".
Vers 3: Nachfolge Jesu konkret
Mit dieser zweifachen Botschaft, dass Jesus Anführer und Vollender des Heils ist, will der Autor des Hebräerbriefs zur Nachahmung Jesu im Glauben auffordern. Auch die "Hebräer", also seine Gemeinden, sollen angesichts erlebter Anfeindung durch die "gottfernen Repräsentanten des Irdischen schlechthin, ungeachtet politischer, ethnischer oder religiöser Schranken" (Knut Backhaus, Der Hebräerbrief, Regensburg 2009, S. 416) nicht ermatten und mutlos werden und sich von drohender gesellschaftlicher Ächtung und Ausgrenzung nicht abschrecken bzw. von der Kraft ihres Glaubens abbringen lassen.
Vers 4: Es könnte noch schlimmer kommen
Der letzte Vers der Lesung macht wenig Hoffnung auf Besserung der Zustände. Ob der Widerstand "bis aufs Blut" gegen die Verlockung, allein auf Weltliches oder gar auf sich selbst ohne Gott zu setzen ("Sünde"), das Martyrium oder allgemeiner den Einsatz bis zum Letzten statt vorzeitiger Ermüdung meint, lässt sich nicht ganz sicher sagen. So oder so fordert aber der Verfasser des Hebräerbriefs höchste Entschiedenheit in Sachen Glauben ein.