Am Anfang dieser Lesung steht ein eindeutiges Bekenntnis: Der Gott des Alten Testaments ist ein und derselbe, der in Jesus Christus Mensch geworden ist. Wenn Jesus spricht, hören wir durch ihn denselben Gott, den ein Abraham vernommen und der sich in den Propheten mutige Sprecher und damit eine Stimme verschafft hat.
Einordnung
Mit den Worten der Lesung vom Ersten Weihnachtstag beginnt der Brief an die Hebräer. Kein Gruß, kein Wunsch, keine freundliche Anrede. Stattdessen setzt der Abschnitt mit höchst verdichteter Theologie ein: In wenigen Worten wird Gottes Wirken in der gesamten Geschichte bis zu der Nahtstelle zusammengefasst, die das Christentum mit der Geburt Jesu sowie seiner Kreuzigung und Auferweckung verbindet. Danach geht es nur noch um Jesus Christus, sein göttliches Wesen und das, was er bewirkt. Mit ihm ist für den Hebräerbrief eine neue Zeit angebrochen. "Endzeit" nennt er sie: "Am Ende dieser Tage". Mehr und Anderes als das, was sich in Jesus Christus ereignet hat, ist von Gott her in dieser zu Ende gehenden Zeit nicht zu erwarten. Der nächste Schritt wird bedeuten, dass von "diesen Tagen" (Vers 2) der wirklich letzte kommt und damit die Zeit an sich aufhört. Dies verbindet die Heilige Schrift mit der Wiederkunft Christi, mit dem endgültigen Kommen des "Reiches Gottes", mit Vollendung u. ä.
Damit ist der Brief, der sich eher als eine groß angelegte Predigt entpuppt, die nur ganz am Ende mit Bitten und Gruß etwas künstlich an einen tatsächlichen Brief erinnert (Hebr 13,18-25), beim eigentlichen Thema angelangt. Es geht um einen Hymnus auf Christus, den der unbekannte Verfasser seiner heidenchristlichen Gemeinde in seiner ganzen Bedeutung vor Augen stellen will. Diese Gemeinde (oder Gruppierung innherhalb einer aus Juden- und Heidenchristen sich zusammensetzenden Gemeinde) muss man sich als Gläubige vorstellen, die sich durch Lesen die Welt des (ins Griechische übersetzten) Alten Testaments als der einzigen bis dahin existenten schriftlichen Ur-Kunde des Glaubens angeeignet haben. So steht der Autor vor der Aufgabe, an aus dem Judentum bekannte alttestamentliche Vorstellungen anknüpfen zu wollen und zugleich das Besondere an Jesus herauszustellen. Dazu wählt er ab Vers 4 die besonders seit dem 2. Jahrhundert vor Christus sich sehr verbreitende Vorstellung von den Engeln als himmlischen Wesen, die in der Welt Gottes leben, ihm am nächsten, aber keine Götter, sondern Geschöpfe sind. Noch höhere Wesen konnte man also gar nicht denken. Genau darauf aber zielt die Lesung: Jesus ist größer und mehr als irgendein Engel. Dies wird durch nichts deutlicher als durch die Rede vom "Sohn Gottes" - eine einzigartige Aussage - sowie dadurch, dass die Engel sich vor diesem Sohn Gottes niederwerfen (Vers 6) und ihn damit in seiner Göttlichkeit anerkennen.
Insgesamt ist Hebräer 1,1-6 ein extrem verdichteter Text. Wie eine Ouvertüre spielt er schon auf zahlreiche Themen an, die erst später im Brief entfaltet werden.
Zwei Zeiten (Verse 1-2a)
Die ersten beiden Verse stellen zwei Zeiten gegenüber. Für die erste Zeit stehen die Stichworte "Väter" und "Propheten", für die Jetzt-Zeit ("diese Tage") stehen "wir" ("am Ende dieser Tage hat er zu uns gesprochen") und der "Sohn". Verbunden sind beide Zeiten durch das "Sprechen" ein und desselben Gottes ("hat Gott .... gesprochen" ; "hat er zu uns gesprochen").
Dabei meinen "Väter" nicht etwa nur Abraham, Isaak und Jakob, die sogenannten Patriarchen, sondern alle Glaubensvorfahren derjenigen, an die sich der Herbäerbrief wendet, letztlich also auch unsere Glaubensvorfahren. Das elfte Kapitel des Hebräerbriefs verdeutlicht dies in einer langen Auflistung. Die Propheten sind auch nicht nur unbedingt die großen Verkündigungsgestalten wie z. B. Jesaja, Jeremia oder Hosea, mit denen eigene Bücher des Alten Testaments verbunden sind. Bedenkt man, dass z. B. innerhalb des ersten Kapitels des Hebräerbriefes die meisten Zitate aus den Psalmen und dem Buch Deuteronomuim stammen, wird deutlich: "Propheten" meint die gesamte Heilige Schrift Israels, also das Alte Testament. Denn in jüdischer Sicht gelten auch David, indem er als Verfasser der Psalmen angesehen wird, und Mose, von dem u. a. das Buch Deuteronomium spricht, als Prophet.
Auch "sprechen" meint mehr und anderes, als man vermuten würde. Im Hebräischen hat der Begriff für "Wort" (dabar) zugleich die Bedeutung "Ereignis". Es geht um das Wirken Gott durch die Zeit hindurch. Dementsprechend ist auch beim "Sprechen durch den Sohn" in Vers 2 nicht der am See Genesaret predigende Jesus gemeint. Vielmehr geht es darum, was dadurch geschehen ist, dass Gott seinen Sohn in die Welt gesandt hat und ihn nicht im Tod belassen, sondern machtvoll zu sich genommen und "zum Erben von allem" eingesetzt hat.
Die Rede vom Sohn (Verse 2b-3)
Drei Aussagen verbindet der Christushymnus des Hebräerbriefes miteinander:
1. Der Sohn, Jesus Christus, war immer schon bei Gott. Er war schon als Gottes "Wort" (griechisch: logos) bei der Schöpfung zugegen. "Durch ihn ist alles erschaffen" heißt es daher in Kolosser 1,16 und im Glaubensbekenntnis der Kirche. Die Schöpfung wird aber biblisch nicht nur als ein "Moment" gedacht, sondern Gott bewahrt auch diese Schöpfung (" er trägt das All durch sein machtvolles Wort").
2. Der Kreuzestod Jesu hat die "Reinigung von den Sünden" bewirkt, also all das einmal und für immer beseitigt, was trennend zwischen Gott und Mensch steht. Was der Hebräerbrief hier nur kurz andeutet, wird besonders in Hebr 9,1-28 ausgeführt.
3. Der Gekreuzigte ist von Gott "erhöht", also in das göttliche Leben gerufen worden. Damit ist er zum "Erben" der endgültigen und nie endenden Gemeinschaft mit Gott und zum endgültigen Sachwalter des Lebens eingesetzt worden. Die eigentümliche Rede vom "Erben" erklärt sich daraus, dass der Hebräerbrief tröstend und aufrichtend seine Gemeinde ebenfalls als "Erben" sieht (vgl. Hebr 1,14). Tod, Auferweckung und Erhöhung Jesu bewirken eine in Aussicht gestellte Teilhabe an der ewigen Gemeinschaft mit Gott für alle, die an diesen Jesus glauben können. Dieses in Aussicht gestellte Erbe soll schon jetzt von "der Furcht vor dem Tod" befreien (Hebr 2,15).
Der Vergleich mit den Engeln (Verse 4-6)
Zur Veranschaulichung der Besonderheit Jesu greift der Hebräerbrief zum Vergleich mit den Engeln. Hier verwendet der uns unbekannte Autor ein Verfahren, das er zu lieben scheint: Er weist auf eine alttestamentliche Größe hin, die er bei seiner Leserschaft als bekannt voraussetzen kann, und zeigt auf, inwieweit Jesus bzw. Gottes Handeln in Jesus diese alttestamentliche "Vorlage" überbietet. Dies zeigt er z. B. an der Gestalt des Hohepriesters oder am Zelt der Begegnung beim Durchzug durch die Wüste auf. Im Lesungstext von Weihnachten sind es nun die Engel. Obwohl von ihnen sogar gelegentlich als "Söhne Gottes" gesprochen wird (so z. B. in der griechischen Fassung von Deuteronomium 32,43, wo es heißt: "und alle Söhne Gottes sollen sich vor ihm niederwefen"), sind sie nicht zu vergleichen mit "dem Sohn" schlechthin, der ganz und gar Gott wesensgleich ist. Vers 5 zitiert übrigens mit Ps 2,7 und und 2 Sam 7,14 zwei Stellen, die schon in der jüdischen Tradition als Hinweise auf den von Gott eingesetzten kommenden Messias gedeutet wurden. Die Erwartung dieses Messias sieht der Hebräerbrief in Jesus Christus erfüllt - wenn auch auf eine völlig unerwartete Weise. Denn Menschwerdung, Kreuzigung und Auferweckung gehörten nicht in den messianischen Erwartungshorizont jüdischer Vorstellung. Gerade aber so passt die Hebräerbrieflesung in die Liturgie des Hochfestes der Geburt des Herrn.