Vieles an dieser Lesung befremdet: Nicht als Kind im Stall, sondern wie eine Gestalt, die aus dem Himmel herabkommt, kommt Jesus in die Welt. Dabei wird ihm zugleich ein Gespräch mit Gott Vater in den Mund gelegt. Und der Wortlaut dieses Gesprächs stammt aus einem Psalm. Eine regelrechte Inszenierung nimmt hier der Verfasser des Hebräerbriefs vor, mit der er seiner Gemeinde die Frage beantworten will: Wozu hat Gott seinen Sohn in die Welt gesandt?
Einordnung in den Brief
Der Brief an die Hebräer erinnert trotz seiner Bezeichnung nur in den letzten Versen mit seinen Segenswünschen und Grüßen (Hebr 13,20-25) an einen Brief. Im Übrigen ist er sehr vielmehr ein großes Predigtschreiben, mit dem der unbekannte Autor seine sich aus Heidenchristen zusammensetzende Gemeinde (oder entsprechende Gruppierungen inmitten eines sich "bunter" zusammensetzenden Christentums) im Glauben stärken, in Zeiten der Bedrängnis trösten und vor dem Auseinanderfallen bewahren will. Kennzeichen einer Predigt, wie man sie aus der jüdischen Tradition kannte, waren sehr aufwändige Auslegungen einzelner Worte der Heiligen Schrift, die in der frühen Zeit der Christinnen und Christen nur das Alte bzw. ErsteTestament umfasste.
Genau hier ordnet sich nun auch die heutige Lesung ein, die im Grunde eine predigthafte Auslegung von Psalm 40,7-9 auf die Gestalt Jesu Christi hin ist. Sie gehört an das Ende einer viel größeren Predigteinheit, in der es um den Vergleich zwischen dem alttestamentlichen Hohepriester und dem Hohepriestertum Jesu selber geht (insgesamt Hebr 4,14 - 10,18). Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass im Opferkult des Alten Testaments der Hohepriester einmal jährlich Tieropfer für die Vergebung der Sünden des Volkes darbrachte, Jesus hingegen sich selbst, und zwar ein für allemal, am Kreuz für die Sünden der Menschen hingegeben hat.
Dennoch bleibt die Frage im Raum, wie sich denn nun die doch auf göttlichem Gebot beruhenden Opfer im Tempel und Jesus Christus, der mit seinem Wirken diese Opfer in Frage stellt, zueinander verhalten. Ein Gemeindelehrer und Briefschreiber, der keinen Riss zwischen den Gott des Alten Testaments und den Gott Jesu Christi setzen will, sondern ein und denselben Gott am Werke sieht1, musste diese Frage beantworten, wenn er die alttestamentliche Tradition nicht einfach missachten wollte. Dabei erleichtert es dem Verfasser des "Briefes" die Aufgabe, dass zur Entstehungszeit des Schreibens (vielleicht 80 - 90 n. Chr.) der Tempel schon 15-20 Jahre zerstört gewesen sein dürfte. Es gab also schon keinen realen Tempel und keinen realen Hohepriester mehr. Der Autor kann sich allein auf die alttestamentlichen Aussagen zu diesen "Vor-Bildern" für Jesus beziehen.
Der "Predigttext": Verse 5-7
Wer Psalm 40,7-9 im Text der neuen Einheitsübersetzung nachliest, wird merken, dass es Unterschiede zum Zitat der Stelle im Hebräerbrief gibt. Dort steht: statt "einen Leib hast du mir gegeben": "... doch Ohren hast du mir gegraben". Abgesehen von dem schwierigen Bild des "Ohren graben" macht diie Abweichung deutlich: Der Hebräerbrief bezieht sich nicht auf die hebräische Fassung des Psalms, sondern auf die griechische Übersetzung aus den letzten vorchristlichen Jahrhunderten (die sog. Septuaginta). Genau diese Fassung bot dem griechisch schreibenden Hebräerbrief-Verfasser die Gelegenheit, den Psalm auf Jesus Christus zu beziehen. Es geht nicht mehr nur um einen Beter, der mit seinem Herzen auf Gott hört (deshalb die Rede von "Ohren"), entsprechend handelt und darin das eigentlich von Gott geforderte Opfer erkennt. Das Stichwort "Leib" der griechischen Fassung lässt den Autor des "Briefes" an die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus denken. Das Ich des Beters wird zur Stimme Christi, der in der Heiligen Schrift Israels ("Schriftrolle") eine Aussage über sich selbst liest.
Die Auslegung des Schrifttextes: Verse 8-9
Die "Predigt" zu Psalm 40,7-9 versucht zu erklären, warum die von Gott selbst eingesetzten Opfer von Jesus im Grunde aufgehoben werden. Dahinter steht eine ganz besondere Sichtweise auf Jesus Christus, die so im Neuen Tesament nur der Hebräerbrief vertritt. Er legt - anders als z. B. Paulus, der immer nur vom Kreuz spricht - einen Schwerpunkt auf die Getsemane-Szene vor der Gefangenname Jesu durch die römischen Soldaten, von der die Evangelien berichten. Erfüllt von Todesangst ringt Jesus darum, ja zu sagen zu dem grausamen Geschick, das ihn erwartet und das für ihn mit Gottes Willen zusammenhängt: "Vater wenn du willst, nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht mein, sondern dein Wille soll geschehen. .... Und er betete in seiner Angst noch inständiger und sein Schweiß war wie Blut, das auf die Erde tropfte" (Lukas 22,43-44). Diese Szene deutet der Hebräerbrief folgendermaßen:
"7 Er hat in den Tagen seines irdischen Lebens mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte, und er ist erhört worden aufgrund seiner Gottesfurcht.
8 Obwohl er der Sohn war, hat er durch das, was er gelitten hat, den Gehorsam gelernt;
9 zur Vollendung gelangt, ist er für alle, die ihm gehorchen, der Urheber des ewigen Heils geworden" (Hebr 5,7-9).
Das bedeutet: Alles Heil, letztlich der Zugang zum ewigen Leben der Menschen bei Gott trotz aller Sündhaftigkeit, hängt am Gehorsam Jesu gegenüber dem Vater. Das ist für den Hebräerbrief das eigentliche und wahre Opfer, das die alttestamentlichen Tieropfer nicht schlecht, aber nicht mehr notwendig macht. Und genau diesen Gehorsam erkennt der "Briefschreiber" in Ps 40 als Auftrag Gottes an Jesus, den dieser bereits mit seinem Kommen in die Welt auch annimmt: "Siehe, ich komme, um deinen Willen zu tun" (Ps 40,9/Hebr 10,9).
Der Predigt-Schlusssatz: V 10
Der letzte Vers der Lesung vom Vierten Advent bündelt das bisher Gesagte. Die Eröffnung der Gemeinschaft mit Gott wird jetzt als "Heiligung" bezeichnet - ein Begriff, der ursprünglich die Annahme von Opfergaben durch Gott bezeichnet - betont noch einmal: Was Jesus getan hat, bedarf keiner Wiederholung, so wie die Opfer im Tempel der täglichen Wiederholung und die große Feier des Versöhnungsfestes unter der Leitung des Hohepriesters der jährlichen Wiederholung bedurften.