Stärkung des Selbstbewusstseins von Menschen, die sich haben taufen lassen, und zugleich das Idealbild einer Kontrastgesellschaft, die nicht nach Geschlecht, Nation oder sozialem Status ihre Ehren verteilt - darum geht es Paulus in dieser kurzen Passage aus dem Galaterbrief.
Kurze Einführung in den Galaterbrief
Die Zweiten Lesungen des 12. bis 14. Sonntag im Jahreskreis sind dem Galaterbrief entnommen. Daher sei kurz in dieses Schreiben des Paulus eingeführt. (Wem diese Einführung zu lang ist, kann direkt zu Vers 26 weiter scrollen.)
Die Situation in Galatien
Der Galaterbrief reagiert auf eine konkrete Situation:
Im Missionsgebiet des Paulus in der Gegend um das heutige Ankara - Galatien - versuchen andere christliche Missionare, die sich ein Christusbekenntnis nur unter striktester Einhaltung der jüdischen Vorschriften zu Reinheit, Kalenderfragen und besonders der Beschneidung vorstellen können, massiv ihre Sicht durchzusetzen. Sie stiften damit Unsicherheit in den Gemeinden des Paulus, der ein Christentum ohne Verpflichtung auf das jüdische Gesetz verkündet hatte. Paulus sieht daher sein Werk in Gefahr und versucht, - zum Teil mit groben Polemiken gegen die radikalen judenchristlichen Missionare - für sein Evangelium zu werben, das allein auf der Botschaft von Tod und Auferweckung Jesu Christi gründet.
Paulus konnte also einerseits für Menschen nicht-jüdischer Herkunft ("Heiden") ganz vom Judentum absehen, was ihm Ärger mit anders denkenden, "konservativen" Judenchristen einbrachte. Andererseits war er selbst jüdischer Herkunft, besaß eine Ausbildung als Rabbiner (jüdischer theologischer Lehrer) und hat für sich selbst auch als Christ keineswegs seine jüdische Verwurzelung aufgegeben.. Das macht ihn zum idealen Mittler zwischen den Welten des Judentums und des nicht-jüdischen römischen Reiches.
Die Theologie des Galaterbriefes und der nähere Kontext der Lesung
Von dieser Vermittlungsarbeit zeugt u. a. das 3. Kapitel des Galaterbriefes, in dem sich Paulus mit der Rolle des jüdischen Gesetzes, also den von Gott an Mose während der Flucht aus Ägypten auf dem Sinai offenbarten Vorschriften, auseinandersetzt. Dieses Gesetz - hebräisch: Tora ("Weisung") - ist der Stein des Anstoßes im Streit zwischen Paulus und seinen missionarischen Gegnern in Galatien. Wenn Paulus auch die neu für das Christentum gewonnenen Galater nicht auf die Tora verpflichtet hat, ist sein Argument nicht, das Gesetz sei schlecht. Damit würde er die gesamte Heilige Schrift des Judentums und seine eigene Herkunft leugnen bzw. in Frage stellen. Ja, er würde Gott selbst in Frage stellen, der durch Mose und die Propheten gesprochen hat. Es ist aber für Paulus genau dieser selbe und eine Gott, der auch durch Jesus Christus gesprochen hat und in ihm wirksam war.
Deshalb schreibt Paulus der jüdischen Tora - näherhin dem Teil der Tora mit den Vorschriften bezüglich Reinheit und Opferkult, Kalender und Beschneidung , nicht den bleibend gültigen ethischen Weisungen zum liebenden und geschwisterlichen Miteinander sowie zur Gottesliebe - eine an sich gute, aber vorläufige, erzieherische Funktion zu (s. dazu die Rubrik "Kunst etc." im Rahmen der Auslegung der Zweiten Lesung zum 1. Januar). Sie wird abgelöst durch Jesus Christus. Vereinfacht gesagt: Während das Gesetz den Menschen ständig auf die möglichen Übertretungen hinweist und für selbige auch Strafen kennt, stehen Tod und Auferstehung Jesu dafür, dass Gott dem Menschen grundsätzlich als vergebender begegnet. Während das Gesetz den Menschen eher in seiner Schwachheit zeigt und zugleich unter Leistungsdruck stellt, Übertretungen zu vermeiden, besagt der Glaube an Jesus Christus: Von Gott her ist schon alles getan, was zu einem ungestörten Verhältnis mit ihm nötig ist. An die Stelle der Leistung tritt der Glaube, diesem Gott vertrauen zu können.
Die Folge dieser Einsicht, die Paulus selbst in seinem Leben als göttliche Offenbarung gewonnen hat, wie er selber sagt (Galater 1,15-16), ist gewaltig: Während die Tora ja nur für das Judentum Gültigkeit hat, ist der Glaube an Jesus prinzipiell jeder und jedem möglich. Genau dieser Gedanke, der den Abschluss des 3. Kapitels im Galaterbrief bildet, ist der zentrale Gedanke in der Zweiten Lesung vom 12. Sonntag.
Vers 26: Stärkung des Selbstbewusstseins
Sicher ist es für Paulus ein Problem, nicht vor Ort zu sein, sondern sich aus der Ferne nur brieflich an seine galatischen Mitschwestern und-brüder wenden zu müssen. Vers 26 ist ein Satz, mit dem er sie trotz der räumlichen Entfernung zu packen versucht. Er spricht sie, die Tendenzen haben, sich wieder den einengenden jüdischen Vorschriften zu unterwerfen, auf ihren durch die Taufe erworbenen Stand an. Er will Selbstbewusstsein und das Wissen um die Freiheit und Größe, die aus dem Glauben an Jesus kommen, stärken. Diesen Glauben haben sie in ihrem Ja zur (Erwachsenen-)Taufe bekundet. Sie dürfen sich "Söhne Gottes" nennen - nein, sie sind es. Die Bezeichnung hat nichts mit der Geschlechterverteilung in den Gemeinden zu tun, sondern ist vorausgreifend gewählt auf das Zielwort am Schluss der Lesung: "Erben gemäß der Verheißung" (Vers 29). (Zum an dieser Stelle nicht weiter ausgeführten Zusammenhang mit der "Verheißung an Abraham" s. die Ausführungen zu "Gerecht gemacht aus Glauben" innerhalb des "Überblicks" zur Zweiten Lesung am Dreifaltigkeitssonntag/16. Juni 2019).
Vers 29: Alle sind "Söhne Gottes"
Im damaligen Recht erbten Töchter entweder gar nicht oder sehr viel weniger als Söhne. Diese Unterscheidung gilt im Blick auf das, was Christinnen und Christen erhoffen, nicht. Im Glauben sind alle gleichermaßen "Vollerben", unabhängig von Geschlecht, Nation oder sozialem Status. "Sohn" ist also im Sinne des "Vollerben" zu verstehen. Der Himmel kennt keine Hierarchie. Diese Aufhebung aller menschlich gesetzten Unterscheidungen macht Paulus deutlich, indem er kurzerhand alle, Frauen wie Männer, zu "Söhnen" erklärt (zur Formulierung "männlich und weiblich" s. die Rubrik "Auslegung"). Diese "Sohnschaft" nimmt Maß an "dem Sohn" schlechthin: am Gottessohn Jesu Christus. Der Rückbezug auf ihn, der Glaube an ihn und das Bemühen, seine Liebe im Leben nachzuahmen, eint alle. Das gilt erst recht für das, was alle als "Erbe" erwarten dürfen: ewiges Leben, also eine auch im biologischen Tod nicht endende Lebens- und Liebesgemeinschaft mit Gott und denen, die schon bei Gott sind.
Vers 28: "Nicht Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich"
Diese aus dem Glauben behauptete und im Leben zu verwirklichende grundsätzliche Gleichheit, die aus der Einheit Gottes erwächst und auf die Einheit im Leben der Gemeinden zielt, bedeutete bereits innerhalb des römischen Reiches eine Unterwanderung der nach Ständen sortierten Gesellschaft. Sie hat aber die Kraft zur Unterwanderung gesellschaftlich festschreibender Standeszuweisungen, die immer mit Bevorzugung und Benachteiligung arbeiten, bis heute nicht verloren. Nicht zufällig waren die Christen den Römern ein Dorn im Auge.
Vers 27: Das Bild vom Kleid
Neben der Rede vom "Sohn" ist ein weiteres Bild für die grundsätzliche Gleichheit aller Getauften das "Kleid". Denn hinter der Formulierung "Christus anziehen" verbirgt sich eine Anspielung auf das Taufkleid, das Mann und Frau, Arm und Reich miteinander unterschiedslos verbindet (zur weiteren Betrachtung der Formulierung s. die Rubrik "Kunst etc.").