"Gelebte Kirche" - unter diese Überschrift könnte man die Zweite Lesung des 4. Fastensonntags stellen. Was ändert sich, wenn eine Gemeinschaft von Menschen sich bildet, die sich allesamt als Getaufte verstehen und damit, soweit sie aus dem nicht-jüdischen Bereich stammen, der hinter ihnen liegenden Zeit ohne Glauben an den einen dreifaltigen Gott (sogenanntes "Heidentum") Adieu gesagt haben? Diese Frage stellt der Epheserbrief in den 80er Jahren des 1. christlichen Jahrhunderts.
Zum Epheserbrief
Wichtige Manuskripte dieses Briefes nennen die Epheser in der Überschrift nicht. Im Brieftext selbst tauchen auch weder sie noch die Stadt Ephesus ausdrücklich auf. Nicht nur diese Beobachtungen weisen darauf hin, dass es sich bei dem Schreiben vermutlich um einen Brief in der Nachfolge des Paulus handelt, der sich an ein größeres Gebiet, und nicht an eine konkrete Gemeinde richtet. Vielleicht war Ephesus der Abfassungsort. Das übergeordnete Thema des Briefs ist auf jeden Fall die Einheit von Judenchristen und sogenannten Heidenchristen, also Christen mit nicht-jüdischer Vergangenheit, die Paulus und andere für den Glauben an Jesus gewonnen hatten. Diese Einheit wird verstanden als eine Frage der Kirche, deren Haupt Christus ist. Anders als Paulus schaut der Epheserbrief also nicht mehr auf die Einzelgemeinde (von Korinth, Philippi usw.), sondern auf die Gesamtgemeinschaft der Glaubenden. Was sie eint, ist im Letzten der Glaube an den dreifaltigen Gott. Auch hier zeigt sich eine Besonderheit des Epheserbriefes, der sehr viel stärker als Paulus "Gott", "Jesus Christus" (als dessen Vater) und den "Geist" zusammendenkt (gut erkennbar in Epheser 1,3.14.17).
Perspektivisch scheint sich der Epheserbrief besonders an die Heidenchristen zu wenden. Dies tut er in zwei Schritten. Die vor allem von Gebetssprache (Lob, Dank, Fürbitte) geprägten Kapitel 1 - 3 verweisen auf die Verwurzelung im jüdischen Glauben und wirken so einem Dünkel der Heidenchristen gegenüber den Judenchristen entgegen.
Der zweite Teil des Briefes (Kapitel 4 - 6) hingegen erinnert die Heidenchristen an ihren Wechsel vom Heidentum zum Christentum und mahnt zu einem Lebensstil, der sich von demjenigen der heidnisch gebliebenen Mitbürger unterscheidet. Kirche als Kontrastgesellschaft lautet also das Motto dieses Briefabschnitts, zu dem auch die heutige Lesung gehört.
Einordnung der Lesung in den Kontext
Die Mahnungen zu einem erkennbaren christlichen Leben sind so gestaltet, dass den konkreten Handlungsweisungen (Epheser 4,25-32; 5,3 - 6,9) jeweils ein Grundsatztext vorangeht, der so etwas wie das Prinzip formuliert, auf dem das christliche Ethos beruht (Epheser 4, 1-16; 5,1-2).
Die Lesung vom 4. Fastensonntag ordnet sich nach dieser Aufteilung dem zweiten der Grundsatztexte zu:
"1 Ahmt Gott nach als seine geliebten Kinder 2 und führt euer Leben in Liebe, wie auch Christus uns geliebt und sich für uns hingegeben hat als Gabe und Opfer, das Gott gefällt!" (Epheser 5,1-2).
Die folgenden, von der Lesung nicht aufgenommenen Verse, beschreiben das, was dem Epheserbrief als typisch heidnische Verhaltensweise erscheint: "Unzucht", "Unreinheit", "Habgier" und "Geschwätz" werden besonders hervorgehoben. "Unreinheit" meint dabei - im Gegensatz zur "Unzucht" - nicht den Bereich der Sexualität, sondern Handlungen mit "unreinen" Absichten (Betrug, Gewalt, Lüge usw.). Dies alles soll nicht einmal als Begriff in den Mund genommen werden, geschweige dass man sich mit Menschen, die so handeln, zusammentun dürfte (so die Verse 3-7).
Auf die Negativabgrenzung folgen die Verse der Lesung, die von den Christen als "Kindern des Lichts" im Gegensatz zu den Menschen mit den "Werken der Finsternis" sprechen und sie zu "Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit" aufrufen.
Nach einer schwer verständlichen, weil auch vom griechischen Wortlaut her nicht ganz klaren Textpassage über das "ans Licht Bringen" ("aufdecken" und "erleuchten" heißt es in der Übersetzung), folgt erkennbar ein Zitat, das diese Perikope abschließt. Die Einleitung "Deshalb heißt es ..." gibt zu erkennen, dass das Zitat die vorangehenden Ausführungen begründen oder zumindest mit einem den Angesprochenen bekannten Text untermauern will.
Vers 8: Ein deutlicher Lebenseinschnitt
Der markante Lesungseinstieg zielt auf den Wechsel zwischen der Zeit vor der Taufe ("Einst wart ihr Finsternis") und der Zeit seit der Taufe ("... jetzt aber seid ihr Licht im Herrn"). Dabei wird die Taufe weder als etwas Äußerliches verstanden noch als ein folgenloser Höhepunkt betrachtet, sondern als ein Geschehen, in dem Gottes Wirken und die menschliche Entscheidung für diesen Gott zu einer neuen Lebenspraxis führen. Diese wiederum wird ermöglicht durch den in der Taufe wirkenden Geist Gottes. Der zeitlich nicht sehr weit vom Epheserbrief entstandene Hebräerbrief spielt ebenfalls auf diesen Zusammenhang an, wenn er von den Getauften als denen spricht, "die einmal erleuchtet worden sind, die von der himmlischen Gabe genossen und Anteil am Heiligen Geist empfangen haben" (Hebräer 6,4). Dieses Bild vom Licht hat die frühe Kirche übernommen, wenn der Kirchenvater, Philosoph und Martyrer Justin (gest. 165 n. Chr.) die Taufe "photismós" - "Erleuchtung" nennt (1. Apologie 66,4; Dialog mit Tryphon 70,1).
Zum genaueren Verständnis der Licht-Metapher s. unter "Auslegung".
Vers 9: Drei christliche Grundhaltungen
"Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit" sollen den Christen auszeichnen. Denkt man daran, dass der Epheserbrief Juden- und Heidenchristen zu einer Einheit zusammenschmieden will, wundert es nicht, dass diese ethischen Grundsätze bereits im Alten Testament wurzeln. Eine Spur liefert dabei ganz besonders der erste der drei Begriffe, der wörtlich nicht "lauter Güte", sondern "jegliche Gutheit" (pãsa agathosýnē) lautet. Denn das Wörtchen "gut" verweist auf einen zentralen Vers im Buch Micha:
"Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte lieben und achtsam mitgehen mit deinem Gott" (Mi 6,8).
Die konkrete Formulierung "jegliche Gutheit", die als erste "Frucht des Lichts" (so ebenfalls wörtlich der griechische Text gegenüber der Einheitsübersetzung "das Licht bringt hervor") genannt wird, erklärt selbige zum übergeordneten Leitfaden, dem Gerechtigkeit und Wahrheit als Konkretionen sich zuordnen.
Verse 10-12: Schaut genau hin!
Der "Frucht des Lichts", also dem, was aus dem Existenzwandel des Getauften als Lebenspraxis folgt, wird den "fruchtlosen Werken der Finsternis" (so der griechische Text wörtlich) gegenübergestellt, die in den ausgelassenen Versen 3-7 (siehe oben) ausführlich genannt worden waren. Die Maxime kann entsprechend nur heißen: Schaut genau hin, mit wem ihr euch zusammentut! Die Mahnung, ja nichts mit den "Werken der Finsternis" (Vers 11) und damit natürlich vor allem mit deren Tätern (Vers 12) "nichts gemein" zu haben, wiederholt wörtlich den der Lesung vorangehenden Vers 7. Das Verbot, die gerne im Finstern, und damit heimlich begangenen Unrechtstaten auch nur zu nennen, wiederholt im Grunde Vers 3. Diese Verknüpfungen zeigen, wie eng eigentlich die Verse 3-14 zusammengehören und wie sehr die Lesung aus ihrem Zusammenhang herausgeschnitten ist.
Offen bleibt, wer mit dem "sie" im Satz "was sie heimlich tun" gemeint ist. Der Zusammenhang lässt weniger an Außenstehende ("Heiden") denken, als vor allem an Mitchristen in den Gemeinden, die trotz ihrer Taufe an den alten Praktiken aus der "Zeit der Finsternis" vor der Taufe festhalten.
Verse 13-14a: Eine Frage der Übersetzung
Dies erklärt auch am einfachsten die beiden nächsten Verse, deren Übersetzung alles andere als einfach ist. Während die Fassung der Einheitsübersetzung "Alles Erleuchtete ist Licht" keinen rechten Sinn ergeben will, könnte der alte Übersetzungsvorschlag des Neutestamentlers Heinrich Schlier (1900 - 1978) hilfreich sein, der bereits in Vers 12 das Wort "aufdecken" mit "überführen" wiedergibt, und in den Versen 13-14a fortfährt:
"Alles aber, was überführt wird, kommt durch das Licht zum Scheinen. Denn alles, was zum Scheinen kommt, ist Licht." (Heinrich Schlier, Der Brief an die Epheser. Ein Kommentar, Düsseldorf 51965, 232f.)
Das "Überführen" (griechisch: eléngchein) darf hier im doppelten Sinn verstanden werden: Es "überführt" die Täter und deckt deren falsche Wege auf. Dies geschieht aber so, dass in der "Überführung" zugleich ein Impuls steckt, das Lager der "Finsternis" zu verlassen und ebenfalls auch die Seite des Lichts zu wechseln ("überführen" im Sinne von "hinüberführen").
Es bleibt immer noch ein wenig offen, was denn nun aber genau mit "Licht" gemeint ist. Die Antwort darauf gibt das abschließende Zitat.
Vers 14b: Ein altes Lied
Auch wenn keiner die Originalquelle des Zitats kennt, sind sich alle Fachleute sicher, dass es sich um ein altes Tauflied (oder einige Zeilen daraus) handelt. Der Wechsel von der Finsternis zum Licht (s. Vers 8) wird hier noch grundsätzlicher als Wechsel vom Todesschlaf zum Leben verstanden. Der Lebensbringer aber ist Jesus Christus, der in die Finsterniswelt des Todes (das Bild entstammt den dunklen Höhlengräbern der damaligen Zeit) Licht bringt. Verwiesen sei auf den bereits an das Alte Testament anknüpfenden Vers Matthäus 4,16:
"Das Volk, das im Dunkel saß, hat ein helles Licht gesehen; denen, die im Schattenreich des Todes wohnten, ist ein Licht erschienen" (vgl. bereits Jesaja 9,1).
Vor allem das Johannesevangelium entfaltet die Gleichung von "Licht" und "Leben", wenn Jesus dort spricht:
"Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben" (Johannes 8,12).
Warum wird das Tauflied an dieser Stelle des Epheserbriefs und als markanter Abschluss des Lesungsabschnitts zitiert? Rein formal lautet die Argumentation: Ihr (Heiden-)Christen, lebt eure Taufe und ändert euer Leben gegenüber den heidnischen Praktiken. Diesen Wechsel vorzunehmen, wurde euch bereits im Akt der Taufe zugesprochen. Ihr habt diesen Weckruf selbst mitgebetet. Nun lebt ihn auch (vgl. Vers 8)!
Darüber hinaus erweist sich das Zitat als Verständnisschlüssel der gesamten Lesung: Immer, wenn vom Licht die Rede war, war also niemand anders gemeint als Christus selbst. Bis heute besingt ihn die Kirche im Lied als "Sonne der Gerechtigkeit". Und in jeder Osternacht wird neu eine Osterkerze als Symbol des auferweckten Christus entzündet. Danach erklingt dreimal wie ein Heroldsruf: "Lumen Christi" - "Licht Christi". Es könnte in diesem Jahr der Moment sein, wo die im Epheserbrief gemeinte Wirklichkeit spürbar wird - als nachhaltige Wirkung der Zweiten Lesung vom 4. Fastensonntag.