Lesejahr B: 2023/2024

2. Lesung (Eph 4,1-6)

41Ich, der Gefangene im Herrn, ermahne euch,
ein Leben zu führen, das des Rufes würdig ist, der an euch erging.

2Seid demütig, friedfertig und geduldig,
ertragt einander in Liebe
3und bemüht euch, die Einheit des Geistes zu wahren durch das Band des Friedens!

4Ein Leib und ein Geist,
wie ihr auch berufen seid zu einer Hoffnung in eurer Berufung:

5ein Herr, ein Glaube, eine Taufe,

6ein Gott und Vater aller, der über allem und durch alles und in allem ist.

Überblick

Ein starker Appell geht von der Zweiten Lesung dieses Sonntags aus: Die Menschen sollen ihrer eigenen Würde gemäß leben. Das stellt die Frage, worin diese Würde besteht, woher sie kommt und wie ein solches Leben gemäß der eigenen Würde konkret aussieht. Die Lesung bleibt keine Antwort schuldig.

 

Einordnung in den Kontext

Mit Kapitel 4 ändert sich schlagartig der Ton des Epheserbriefs. Bislang (in den Kapiteln 1 - 3) herrschte die Sprache des Gebets vor, die das gesamte erste Kapitel (1,1-14: Gotteslob; 1,15-23: Bitte und Fürbitte) und den Schluss des 3. Kapitels (3,14-21: Fürbitte) bestimmt. Diese Preisungen und Fürbitten rahmen das mittlere Kapitel 2, das unter dem Leitwort "Erinnert euch also ..." (Epheser 2,11) grundsätzliche Elemente des christlichen Glaubens in Erinnerung ruft, um besonders die Heidenchristen der insgesamt aus Juden wie Heiden sich auffüllenden Adressatengemeinde(n) des Briefes an das Fundament einer geistgewirkten Einheit zu erinnern. Diese gilt es trotz der unterschiedlichen religiösen wie sicher auch kulturellen Wurzeln im Bewusstsein zu behalten .

Das Wissen um das Allen gemeinsame Fundament ist das Eine, die Umsetzung im Lebensalltag das Andere. Genau auf diese Ebene zielt der zweite Teil des Epheserbriefs (4,1 -  6,24), der weder mit Gebet noch mit einer "Erinnerung" beginnt, sondern markant einsetzt:

"Ich ... ermahne euch ..." (Epheser 4,1). 

Der damit angeschlagene neue Grundton bleibt erhalten, bis der Brief mit Vers 6,18 den Schluss "einläutet", der - in Entsprechung zur ersten Briefhälfte - zum Gebet auffordert, um noch eine persönliche Mitteilung und schließlich den Abschiedsgruß folgen zu lassen (6,19-24).

 

Vers 1: Grundsatzmahnung

Um den folgenden mahnenden Worten seines Schreibens größeres Gewicht zu geben, wiederholt der anonyme Verfasser des Epheserbriefs noch einmal seine bereits in Epheser 1,1 und 3,1 ausgesprochene Selbstidentifizierung mit dem Apostel Paulus (1,1: "Paulus, Apostel Christi Jesu durch den Willen Gottes, an die Heiligen in Ephesus, ...";  3,1: "Deshalb bin ich, Paulus, der Gefangene Christi Jesu für euch, die Heiden."). Mit dieser Autorität im Hintergrund und dem Hinweis auf das Gefängnis als "Aufenthaltsort" ("Gefangener im Herrn") werden sich die Empfängerinnen und Empfänger wohl kaum den folgenden Mahnungen entziehen können. (Zu den Gründen, warum der Epheserbrief eher nicht von Paulus stammt, s. unter "Auslegung")

Die Fortsetzung des Eingangssatzes erhöht den moralischen Druck, indem die Adressaten ermahnt werden, sich ihrer Tauffwürde gemäß zu verhalten. Denn mit der Taufe verbindet sich die "Erwählung" bzw. der "Ruf" in ein neues, fortan von Christus bestimmtes Leben. Dieses Argument hat schon Paulus in 1 Thessalonicher 2,11-12 verwendet: "11 Ihr wisst auch, dass wir, wie ein Vater seine Kinder, jeden Einzelnen von euch 12 ermahnt, ermutigt und beschworen haben zu leben, wie es Gottes würdig ist, der euch zu seinem Reich und zu seiner Herrlichkeit beruft."

 

Verse 2-3: "Einheit des Geistes"

"Des Rufes würdig lebt", wer drei Tugenden umsetzt:

1. "Demut". Sie ist - anders als im Alten Testament, wo sie eher eine entprechende Haltung vor Gott bezeichnet -  von Paulus her vordefiniert: grundsätzlich "den anderen höher einschätzen als sich selbst" (so in Philipper 2,3).

2. "Friedfertigkeit". Das entsprechende griechische Wort changiert u. a. zwischen Freundlichkeit, Milde und Gewaltlosigkeit.

3. "Geduld": Gemeint ist die "Geduld", die man mit der/dem Anderen hat. "Langmut" wäre eine andere passende Übersetzung. Das Hebräische (Altes Testament) umschreibt diese Tugend als "Langsamkeit zum Zorn".

Es geht also um Tugenden, die dem friedlichen und gelingenden Zusammenleben in der Kirche (und in der Welt) dienen. Sie sollen aber nicht aus Zwang heraus gelebt werden, sondern aus einer Grundhaltung der Liebe, die dem anderen grundsätzlich nur wohl will und sich selbst zurückzunehmen vermag. Das Hohelied der Liebe des Paulus  in 1 Korinther 13 buchstabiert diese höchste aller Tugenden konkret durch.

Alles zielt auf die nun schon so oft genannte "Einheit". Dabei meint "im Geiste" nicht  die Gesinnung oder die Innerlichkeit, sondern  die vom Geist Gottes beabsichtigte und von ihm bewirkte Einheit.

Im letzten Bildwort wird ein unsichtbares "Band" um die Gemeinde herumgelegt, das sie zu einer Gemeinschaft des Friedens zusammenbindet, die im Frieden schaffenden Heilswirken Jesu gründet. 

 

Verse 4-5: Das Zahlwort "ein"

Auf die Tugend-Dreierreihe samt der Nennung der Liebe folgen zwei weitere Dreierreihen, die alle Glieder mit dem Zahlwort "ein" versehen:

"Leib" ist das Epheserbrief-Bildwort für die Kirche, die sich aus Einzelgemeinden zusammensetzt;

"Geist" ist die entscheidende Gabe Gottes, durch die er den Menschen zu allem Tun befähigt, das dann aufgrund der e i n e n Quelle (eben des  e i n e n Geistes) wiederum nur einheitsstiftend wirken kann (vgl. Epheser 3,16: "Er gebe euch aufgrund des Reichtums seiner Herrlichkeit, dass ihr in Bezug auf den inneren Menschen durch seinen Geist an Kraft und Stärke zunehmt.").

"Hoffnung" bezeichnet die letzte "Triebfeder" christlichen Handelns, nämlich "zu ihm [d. h. zu Gott] zu gelangen nach seinem gnädigen Willen" (Epheser 1,5).

Vers 5 benennt die Gründe, warum diese Einheit so unverzichtbar ist:

es gibt nur einen Herrn, Jesus Christus;

entsprechend kann der Glaube an ihn auch nur einer sein;

die Hinwendung zu dem einen Glauben an den einen Herrn Jesus Christus erfolgt in der einen Taufe, nämlich derjenigen auf den Namen Jesu Christi, die für alle ein und dieselbe ist.

 

Vers 6: Der eine Gott

Der letzte Grund der Einheit ist das monotheistische Bekenntnis zu dem einen Gott, das für die aus dem Judentum kommenden Christen immer schon selbstverständlich, für die eher vielgötterisch unterwegs seienden "Heiden" (Bürgerinnen und Bürger des vorderasiatisch-griechisch-römischen Imperiums) neu zu lernen war. Und da der Epheserbrief-Autor eine Vorliebe für die Zahl Drei zu haben scheint, schließt er mit einer diese Einheit Gottes, die keinen Platz für andere Mächte und Kräfte lässt, wunderbar zusammenfassenden Formel, die wiederum drei Glieder hat: "über allem - durch alles - in allem".

 

 

 

Auslegung

Vers 1: "Ich, der Gefangene im Herrn ..."

Gleich zu Beginn seines Schreibens hält der Autor fest, er sei "Paulus, Apostel Christi Jesu durch den Willen Gottes" und wende sich als solcher "an die Heiligen in Ephesus, die Gläubigen in Christus Jesus" (Epheser 1,1). Diesen offensichtlich gewollten Eindruck verstärkt er in einer autobiographisch klingenden Passage in Epheser 3,1-13, deren erster Satz lautet: "1 Deshalb bin ich, Paulus, der Gefangene Christi Jesu für euch, die Heiden." Und genau auf diesen Vers bezieht sich der erste Satz der heutigen Lesung noch einmal zurück.

Warum sollte diese Angabe nicht stimmen? Immerhin enthält der Brief keine Datumsangabe, die für eine spätere Fiktion spricht. Außerdem lässt Paulus in den Briefen, die ihm sicher zuzuschreiben sind, mindestens zwei Gefangenschaften erkennen: eine kürzere in Ephesus und eine längere in Caesarea maritima (in Erwartung seiner Auslieferung nach Rom). In Rom selbst dürfte er schließlich - vermutlich bis zu seinem Märtyrertod am Beginn der 60er Jahre - unter Hausarrest getanden haben. Warum also sollte Paulus nicht etwa aus Rom einen Brief an die Gemeinde(n) von Ephesus geschrieben haben?

Genannt werden sollen nur solche Gründe, die helfen, das Profil des Paulus [im Folgenden: P.] einerseits und das des Epheserbrief-Autors [im Folgenden: E.] andererseits zu schärfen, um so ein plastischeres Bild von den sonst vielleicht etwas abstrakt klingenden Briefen zu erhalten.

1. Beide, P. wie E., sehen sich als Apostel. Allerdings findet sich nur bei E. die Einordnung der "Apostel" in das "Fundament" der Kirche (Epheser 2,20: "Ihr seid auf das Fundament der Apostel und Propheten gebaut; der Eckstein ist Christus Jesus selbst."). E. ordnet damit den wirklichen Paulus bereits der Tradition zu, die abgeschlossen ist und auf der die aktuelle Verkündigung aufbaut. Er ist bereits zur Norm geworden für alle Späteren. Dies spricht sehr dafür, dass E. bereits auf den als Märtyrer verstorbenen Paulus zurückblickt, der sich selbst nie zur Norm erklärt und auch das Bild der Apostel als "Fundament" nicht gebraucht. Er hatte mit ihnen ja noch selbst bei seinen Aufenthalten in Jerusalem zu tun und sagt von ihnen einmal - mit Respekt wie auch mit einem gewissen kritischen Unterton -, dass sie in der Jerusalmer Gemeinde "als die Säulen Ansehen genießen" (Galater 2,9).

2. P. denkt beim Begriff "Kirche" eher an die Ortsgemeinde, wie besonders aus 2 Korinther 1,1 hervorgeht: "Paulus, durch Gottes Willen Apostel Christi Jesu, und der Bruder Timotheus an die Kirche Gottes, die in Korinth ist, und an alle Heiligen in ganz Achaia.E. hingegen bezieht diesen Begriff nie auf eine Ortsgemeinde sondern meint mit ihr durchgängig das Gegenüber Christi, also die Gemeinschaft aller an Christus Glaubenden. Auch wenn sich E. an die Gemeinde von Ephesus oder die Gemeinden der zugehörigen Provinz Asia wendet, hat er doch das größere Ganze im Blick.

3. Dies führt auch zu einer unterschiedlichen Bildsprache. Für P. realisiert sich in der Ortsgemeinde der "Leib Christi": "Ihr aber seid der Leib Christi und jeder Einzelne ist ein Glied an ihm" (1 Korinther 12,27) Der Gesamtorganismus (von dem 1 Korinther 12 beispielhaft  "Auge", "Ohr", "Hand", "Fuß", "edle und weniger edle Glieder" ausdrücklich nennt) ist also der "Leib Christi". Im Gefolge des Kolosserbriefes, der ebenfalls mehrheitlich als nicht paulinisch angesehen wird, ändert E. das Bild deutlich ab. Was in Kolosser 1,18 heißt: "Er ist das Haupt, der Leib aber ist die Kirche.", das heißt bei E.: "15 ... Er, Christus, ist das Haupt. 16 Von ihm her wird der ganze Leib zusammengefügt und gefestigt durch jedes Gelenk" (Epheser 4,15-16). M. a. W. es wird eine hierarchische Stufung im Bild vom Leib vorgenommen, die sich wahrscheinlich mit Blick auf eine wachsende Kirche und aus der Frage nach Christus repräsentierenden Leitungsstrukturen ergeben hat.

4. Schließlich fällt auf, dass E. deutlich stärker als P. darauf bedacht ist, das Wirken des Geistes zu betonen. Dabei fehlt aber eine Vorstellung, die für das paulinsiche Gemeinde Verständnis von enormer Bedeutuig zu sein scheint: das "Charisma", also jene gottgeschenkte Gnadengabe, die P. allen Getauften zuspricht. Für die Charismen gilt bei ihm dasselbe wie für das Leibbild: Es gibt eine Vielzahl von Charismen vom Apostelsein (= Osterzeuge sein) über Heilungsgaben bis hin zu "Hilfsdiensten", die alle gleichermaßen wertvoll sind, sofern sie nur dem Aufbau der Gemeinde dienen. E. hingegen betont die Einsetzung von Aposteln, Propheten, Hirten und Lehrern durch Christus, lässt genau in diesem Zusammenhang das Wirken des Geistes weg und kennt den Begriff Charisma weder im Blick auf die Leitungsfunktionen noch auf die der Gemeinde bzw. Kirche nützlichen Dienste. Die Hauptaufgabe des Geistes ist für E. die Schaffung der "Einheit" der Kirche.

Kunst etc.

Straßenschild Berlin-Lichtenrade, Wikimedia CCO 1.0
Straßenschild Berlin-Lichtenrade, Wikimedia CCO 1.0

"Frieden" (Vers 3) ist ein großes Wort, aber so schwer zu erreichen. Der Epheserbrief wendet seine ganze theologisch-argumentative Kraft auf, um zumindest innerhalb der Kirche den von Gott geschenkten Frieden auch zu leben und sichtbar werden zu lassen. Liest man allein nur die Liste der Tugenden, die den Weg zum Frieden pflastern müssten, ahnt man schon, wo die "Gehwegschäden" liegen.