Ein starker Appell geht von der Zweiten Lesung dieses Sonntags aus: Die Menschen sollen ihrer eigenen Würde gemäß leben. Das stellt die Frage, worin diese Würde besteht, woher sie kommt und wie ein solches Leben gemäß der eigenen Würde konkret aussieht. Die Lesung bleibt keine Antwort schuldig.
Einordnung in den Kontext
Mit Kapitel 4 ändert sich schlagartig der Ton des Epheserbriefs. Bislang (in den Kapiteln 1 - 3) herrschte die Sprache des Gebets vor, die das gesamte erste Kapitel (1,1-14: Gotteslob; 1,15-23: Bitte und Fürbitte) und den Schluss des 3. Kapitels (3,14-21: Fürbitte) bestimmt. Diese Preisungen und Fürbitten rahmen das mittlere Kapitel 2, das unter dem Leitwort "Erinnert euch also ..." (Epheser 2,11) grundsätzliche Elemente des christlichen Glaubens in Erinnerung ruft, um besonders die Heidenchristen der insgesamt aus Juden wie Heiden sich auffüllenden Adressatengemeinde(n) des Briefes an das Fundament einer geistgewirkten Einheit zu erinnern. Diese gilt es trotz der unterschiedlichen religiösen wie sicher auch kulturellen Wurzeln im Bewusstsein zu behalten .
Das Wissen um das Allen gemeinsame Fundament ist das Eine, die Umsetzung im Lebensalltag das Andere. Genau auf diese Ebene zielt der zweite Teil des Epheserbriefs (4,1 - 6,24), der weder mit Gebet noch mit einer "Erinnerung" beginnt, sondern markant einsetzt:
"Ich ... ermahne euch ..." (Epheser 4,1).
Der damit angeschlagene neue Grundton bleibt erhalten, bis der Brief mit Vers 6,18 den Schluss "einläutet", der - in Entsprechung zur ersten Briefhälfte - zum Gebet auffordert, um noch eine persönliche Mitteilung und schließlich den Abschiedsgruß folgen zu lassen (6,19-24).
Vers 1: Grundsatzmahnung
Um den folgenden mahnenden Worten seines Schreibens größeres Gewicht zu geben, wiederholt der anonyme Verfasser des Epheserbriefs noch einmal seine bereits in Epheser 1,1 und 3,1 ausgesprochene Selbstidentifizierung mit dem Apostel Paulus (1,1: "Paulus, Apostel Christi Jesu durch den Willen Gottes, an die Heiligen in Ephesus, ..."; 3,1: "Deshalb bin ich, Paulus, der Gefangene Christi Jesu für euch, die Heiden."). Mit dieser Autorität im Hintergrund und dem Hinweis auf das Gefängnis als "Aufenthaltsort" ("Gefangener im Herrn") werden sich die Empfängerinnen und Empfänger wohl kaum den folgenden Mahnungen entziehen können. (Zu den Gründen, warum der Epheserbrief eher nicht von Paulus stammt, s. unter "Auslegung")
Die Fortsetzung des Eingangssatzes erhöht den moralischen Druck, indem die Adressaten ermahnt werden, sich ihrer Tauffwürde gemäß zu verhalten. Denn mit der Taufe verbindet sich die "Erwählung" bzw. der "Ruf" in ein neues, fortan von Christus bestimmtes Leben. Dieses Argument hat schon Paulus in 1 Thessalonicher 2,11-12 verwendet: "11 Ihr wisst auch, dass wir, wie ein Vater seine Kinder, jeden Einzelnen von euch 12 ermahnt, ermutigt und beschworen haben zu leben, wie es Gottes würdig ist, der euch zu seinem Reich und zu seiner Herrlichkeit beruft."
Verse 2-3: "Einheit des Geistes"
"Des Rufes würdig lebt", wer drei Tugenden umsetzt:
1. "Demut". Sie ist - anders als im Alten Testament, wo sie eher eine entprechende Haltung vor Gott bezeichnet - von Paulus her vordefiniert: grundsätzlich "den anderen höher einschätzen als sich selbst" (so in Philipper 2,3).
2. "Friedfertigkeit". Das entsprechende griechische Wort changiert u. a. zwischen Freundlichkeit, Milde und Gewaltlosigkeit.
3. "Geduld": Gemeint ist die "Geduld", die man mit der/dem Anderen hat. "Langmut" wäre eine andere passende Übersetzung. Das Hebräische (Altes Testament) umschreibt diese Tugend als "Langsamkeit zum Zorn".
Es geht also um Tugenden, die dem friedlichen und gelingenden Zusammenleben in der Kirche (und in der Welt) dienen. Sie sollen aber nicht aus Zwang heraus gelebt werden, sondern aus einer Grundhaltung der Liebe, die dem anderen grundsätzlich nur wohl will und sich selbst zurückzunehmen vermag. Das Hohelied der Liebe des Paulus in 1 Korinther 13 buchstabiert diese höchste aller Tugenden konkret durch.
Alles zielt auf die nun schon so oft genannte "Einheit". Dabei meint "im Geiste" nicht die Gesinnung oder die Innerlichkeit, sondern die vom Geist Gottes beabsichtigte und von ihm bewirkte Einheit.
Im letzten Bildwort wird ein unsichtbares "Band" um die Gemeinde herumgelegt, das sie zu einer Gemeinschaft des Friedens zusammenbindet, die im Frieden schaffenden Heilswirken Jesu gründet.
Verse 4-5: Das Zahlwort "ein"
Auf die Tugend-Dreierreihe samt der Nennung der Liebe folgen zwei weitere Dreierreihen, die alle Glieder mit dem Zahlwort "ein" versehen:
"Leib" ist das Epheserbrief-Bildwort für die Kirche, die sich aus Einzelgemeinden zusammensetzt;
"Geist" ist die entscheidende Gabe Gottes, durch die er den Menschen zu allem Tun befähigt, das dann aufgrund der e i n e n Quelle (eben des e i n e n Geistes) wiederum nur einheitsstiftend wirken kann (vgl. Epheser 3,16: "Er gebe euch aufgrund des Reichtums seiner Herrlichkeit, dass ihr in Bezug auf den inneren Menschen durch seinen Geist an Kraft und Stärke zunehmt.").
"Hoffnung" bezeichnet die letzte "Triebfeder" christlichen Handelns, nämlich "zu ihm [d. h. zu Gott] zu gelangen nach seinem gnädigen Willen" (Epheser 1,5).
Vers 5 benennt die Gründe, warum diese Einheit so unverzichtbar ist:
es gibt nur einen Herrn, Jesus Christus;
entsprechend kann der Glaube an ihn auch nur einer sein;
die Hinwendung zu dem einen Glauben an den einen Herrn Jesus Christus erfolgt in der einen Taufe, nämlich derjenigen auf den Namen Jesu Christi, die für alle ein und dieselbe ist.
Vers 6: Der eine Gott
Der letzte Grund der Einheit ist das monotheistische Bekenntnis zu dem einen Gott, das für die aus dem Judentum kommenden Christen immer schon selbstverständlich, für die eher vielgötterisch unterwegs seienden "Heiden" (Bürgerinnen und Bürger des vorderasiatisch-griechisch-römischen Imperiums) neu zu lernen war. Und da der Epheserbrief-Autor eine Vorliebe für die Zahl Drei zu haben scheint, schließt er mit einer diese Einheit Gottes, die keinen Platz für andere Mächte und Kräfte lässt, wunderbar zusammenfassenden Formel, die wiederum drei Glieder hat: "über allem - durch alles - in allem".