Einordnung der Lesung in ihren Zusammenhang
Der Lesungsabschnitt ist erkennbar Teil einer größeren Einheit, wie schon der Einstieg mit den Worten "Ihr aber" zeigt. Er setzt eine nähere Bestimmung der Adressaten voraus: Wer ist mit "ihr" gemeint?
Tatsächlich hat der Schreiber des Epheserbriefs diese Frage in Vers 11 beantwortet:
"Erinnert euch also, dass ihr früher von Geburt Heiden wart".
Offensichtlich wendet sich der anonyme Verfasser, der ca. 20 Jahre nach dem Tod des Apostels Paulus in den 80er Jahren des 1. Jh. n. Chr. in dessen Namen seinen Brief an die Gemeinden in und um Ephesus formuliert, besonders an die Heidenchristen. Möglicherweise dünkten sie sich als "Früchte" der paulinischen Missionsarbeit den Judenchristen überlegen, die sich noch stark am jüdischen Ritualgesetz orientierten. Der daraus drohenden Spaltung versucht der Epheserbrief deutlich entgegenzuwirken und fängt in seiner ganzen ersten Hälfte (Kapitel 1 - 3) mit den Heidenchristen an, um ab Kapitel 4 auf die Lebenspraxis der gesamten, sich aus Juden- und Heidenchristen zusammensetzenden Kirche zu schauen. D. h. die dort formulierten Mahnungen gelten beiden Gruppen gleichermaßen, die vorangehenden "Lehren" stärker den Heidenchristen.
Von ihnen sprechen die der Lesung vorangehenden Verse 11b-12 in sehr drastischer und damit jedem Dünkel entgegenwirkender Weise als
"von denen, die äußerlich beschnitten sind, Unbeschnittene genannt wurdet. 12 Zu jener Zeit wart ihr von Christus getrennt, der Gemeinde Israels fremd und von dem Bund der Verheißung ausgeschlossen; ihr hattet keine Hoffnung und lebtet ohne Gott in der Welt."
Dabei zeigt übrigens die Kennzeichnung der Judenchristen als solchen,"die äußerlich beschnitten sind", dass der Verfasser auch ihnen gegenüber durchaus Distanz bewahrt (das "äußere" Zeichen alleine macht einen noch nicht zum Christen).
Aufbau der Lesung
Der so umrissenen Herkunft der Heidenchristen stellt der Verfasser in Vers 13 - dem ersten Satz der Lesung - den radikalen Wechsel entgegen, den die Annahme des Christentums durch die ehemaligen Heiden bedeutet.
Auf diese Einleitung folgt mit den Versen 14-17 ein Christus-Lob (im Unterschied zum Gottes-Lob Epheser 1,3-14 am vorigen Sonntag), dessen Zentralwort "Friede" lautet:
14 Denn er ist unser Friede. ...
15b Er stiftete Frieden ...
17 Er kam und verkündete den Frieden ...
Vers 18 leitet aus diesem Christuslob eine Konsequenz ab, die Juden- wie Heidenchristinnen und -christen gleichermaßen betrifft und deshalb als "Wir"-Satz formuliert ist.
Die in der Lesung ausgelassenen Verse 19-22 entfalten diese Konsequenz wieder mit dem speziellen Blick auf die eingangs als Adressaten genannten Heidenchristen und kehren entsprechend zur "Ihr"-Anrede zurück: "Ihr seid also jetzt nicht mehr Fremde ..." (Vers 19).
Vers 13: "Ferne" und "Nähe" (I)
Der Unterschied zwischen aus dem Judentum stammenden Christen und Christinnen und solchen, die aus dem Heidentum gekommen sind, wird über die Begriffe "Nähe" und "Ferne" definiert (s. dazu auch noch unter Vers 17). Die Formulierung klingt zunächst einmal nicht besonders freundlich. Sie will die Grenze markieren zwischen den Zugehörigen zu dem Volk, mit dem Gott einst seinen Bund geschlossen hat (vgl. Deuteronomium 5,2 mit Blick auf den Durchzug durch die Wüste Sinai und den dortigen Berg Horeb: "Der HERR, unser Gott, hat am Horeb einen Bund mit uns geschlossen."), und allen nicht zum Volk Israel Gehörigen. Zumindest aus judenchristlicher Sicht ist nachvollziehbar, dass Bundeszugehörigkeit als eine größere Nähe zu Gott verstanden wird.
Entscheidend ist aber: Diese Nähe ist nicht exklusiv, bzw. gilt umgekehrt: Die "Ferne" ist kein "in Beton gegossener" Zustand. Ganz im Gefolge der Sicht des Apostels Paulus sieht auch der Epheserbrief die Lösung des Unterschieds zwischen "Nahen" und "Fernen" nicht in der Umkehr der "Fernen" zum Judentum, sondern in einer neuen Eröffnung der Nähe für Alle durch Gott selbst: nämlich durch den Kreuzestod seines Sohnes Christus Jesus1. Schon im "Gotteslob" Epheser 1,3-14 (Zweite Lesung des vorigen Sonntags) war in diesem Zusammenhang das Symbol-Wort "Blut" genannt worden. Es steht dafür, dass Gott seinerseits mit seinem ganzen "Leben" (Blut gilt im Alten Testament als Träger des "Lebens") bis zur Hingabe alles tut, um zu beseitigen, was die Nähe zu ihm verbauen könnte. Dieser von ihm ausgehende Einsatz unterscheidet sich vom jüdischen Weg, über menschliche Leistung, nämlich das Einhalten des göttlichen Gesetzes, die im Bund grundsätzlich gewährte Gottesnähe zu "sichern".
Vers 14: "Friede"
Nachdem Vers 13 auf Christus Jesus hingeführt hat, folgt nun ein Hymnus, der allein ihn in die Mitte stellt. Die meisten Sätze beginnen mit "Er", nur der letzte variiert, aber in Entsprechung: "durch ihn".
Der erste Satz ("Er ist unser Friede") ist die Grundaussage des Hymnus, die im Folgenden entfaltet wird. Sie operiert mit einem doppelten Friedensbegriff: Er meint zum einen die Beendigung des gestörten Verhältnisses zwischen Gott und den Menschen. Im Kreuzestod Jesu wird die Vergebung Gottes für alle ansichtig und wirksam. Der auf Vergebung folgende Zustand heißt oft "Versöhnung", hier aber "Friede".
Indem dieser Friede aber von Gott her Menschen jüdischer wie nichtjüdischer ("heidnischer") Herkunft gleichermaßen gilt, ist Jesus auch der Friede zwischen den beiden miteinander rivalisierenden Gemeindegruppen von Juden- und Heidenchristen. Die verkürzende Knappheit des ersten Satzes macht deutlich, wie sehr der Friede an Christus hängt.
Ohne ihn wird anderes in die Mitte gestellt, das nicht der Versöhnung, sondern allein der identitätswahrenden Abgrenzung dient. Mit der "trennenden Wand" dürfte wohl das jüdische Gesetz gemeint sein (s. Vers 15) - und zwar nicht mit seinen gültig bleibenden ethischen Weisungen, sondern mit seinen Regelungen der Beschneidung, der Reinheit bei Essen und Gottesdienst usw. Da Paulus unter den Heiden ein Evangelium ohne dieses rituelle Gesetz verkündet hat, lag hier die "Kampfzone" ("Feindschaft") zwischen beiden christlichen Gruppen. An die Stelle dieser "trennenden Wand der Feindschaft" ist das grundsätzlich Allen geltende Kreuzesgeschehen gerückt - obwohl auch dieses in der Geschichte faktisch wiederum zu einer "trennenden Wand" wurde. Denn die "Friedensbotschaft" des Kreuzes erfordert einen Glauben, den nicht alle teilen.
Vers 15a: Aus zwei wird eins - "e i n neuer Mensch"
Dieser Vers bestätigt die Interpretation der "trennenden Mauer der Feindschaft" auf das jüdische Gesetz hin, fügt aber einen neuen Gedanken hinzu. Als Ziel des Friedenshandelns Jesu wird benannt: "um die zwei in sich zu e i n e m neuen Menschen zu machen". Unter "Auslegung" wird der reiche Assoziationshintergrund beleuchtet. Aber auch ohne Kenntnis der alt- und neutestamentlichen Bezugstexte wird im Bild anschaulich, wie sehr sich der Verfasser des Briefes für seine Gemeinde(n) eine tief wurzelnde Einheit wünscht, deren Grundlegung er in Christus verwirklicht sieht.
Vers 15b-16: "e i n Leib"
Dieser Satz drückt das bisher Gesagte nur noch einmal in anderen Worten aus, wobei der Wechsel vom Begriff "Mensch" zum Begriff "Leib" eine Bedeutungsverschiebung beinhaltet. Denn "Leib" ist für Epheser das Bildwort für die Kirche. Schon Paulus benutzte das Bild, um die einzelne Gemeinde als einen lebendigen und auf das Mitwirken Aller angewiesenen Organismus zu verstehen. Der Epheserbrief-Autor weitet das Bild auf das Gesamtgebilde der bestehenden Gemeinden aus, die die Kirche mit Christus als Haupt bilden. Auf diesem Hintergrund kann der eine Gott nur in einem, d. h. in einem von Einheit geprägten "Leib" gegenwärtig sein."Feindschaft" wäre mithin das Gegenteil von Kirche.
Vers 17: "Ferne" und "Nähe" (II)
Das Ende des Christus-Hymnus greift die Rede von der "Ferne" und "Nähe" aus Vers 13 wieder auf und zeigt dabei zweierlei: Zum einen hat sie ihre Wurzeln im Alten Testament, zum anderen ist sie von Anfang an nicht negativ abgrenzend, sondern von vornherein im Blick auf die Überwindung möglicher Abgrenzungen gewählt. Dies ergibt sich durch einen Blick auf die alttestamentliche Bezugsstelle Jesaja 57,19:
"Ich erschaffe Frucht der Lippen. Friede, Friede dem Fernen und dem Nahen, spricht der HERR, ich werde ihn heilen."
Vers 18: "in dem e i n e n Geist"
Der Schlussvers der Lesung bestätigt, was schon am letzten Sonntag festgestellt wurde: Gegenüber Paulus wie auch dem Kolosserbrief zeigt der Epheserbrief ein starkes Interesse an der gleichzeitigen Rede von Vater, von Jesus Christus und vom Geist. Es liegt noch keine ausgeprägte Dreifaltigkeitstheologie vor (der dafür notwendige Begriff der "Person" ist im Neuen Testament noch gar nicht bekannt2), wohl aber eine an der Dreizahl orientierte (triadische) Gottrede, die ihren Grund in der Betonung des Geistes hat. Sie wird auch hier wieder wirksam: Die von Gott her gewirkte Einheit braucht ja auf Seiten des Menschen ein Sich-Einlassen auf diese Einheit, denn sie ergibt sich nicht einfach aus menschlicher Logik. Den dazu notwendigen "Beweger" erkennt der Epheserbrief im Geist Gottes, den der Mensch in der Taufe empfängt - Jude wie Heide. Auf diese Allen gemeinsame Taufe schauen alle Adressaten des Epheserbriefs zurück. Was aber für Epheseus gilt, gilt nicht nur dort und nicht nur damals!