"Herrliche Aussichten" - das ist es, was der Epheserbrief gleich zu Beginn seinen Leserinnen und Lesern bzw. Hörerinnen und Hörern vor Augen stellen möchte. Begründet sind sie in Gott selbst, der "immer schon" - von allem Anfang an - das Heil des Menschen im Blick hat.
Einordnung der Lesung in den größeren Zusammenhang und Gliederung
Ein Brief bei Paulus fängt in der Regel anders an: mit Dank, Lob oder dem Aufbau guter Stimmung. Der unbekannte Verfasser des Epheserbriefs hingegen setzt ein mit einem gewaltigen Lobpreis Gottes - eine Art liturgischer Gesang (Eph 1,1-14). Dieser Einstieg ist kein Zufall. Ihm entsprechen verschiedene weitere Gebete innerhalb des Briefes. Bereits die Fortsetzung 1,15-23, aus der der zweite Teil der Lesung genommen ist, ist ein solches. Und ebenso ist Epheser 3,14-21 ein Gebet. Den Grund für diesen Schwerpunkt nennt der Schreiber in Eph 1,12: Das "Lob der Herrlichkeit Gottes" ist die Grundbestimmung des Menschen von Anfang an. Das ist offensichtlich für den Autor nicht nur Theorie, sondern bestimmt auch seine Schreibpraxis.
Aus dem liturgischen Gesang erklingt in der Lesung allerdings nur die erste Strophe (Verse 3-6), die im Griechischen ein einziger Satz ist.
Aus dem Lob Gottes dafür, dass er von allem Anfang an bereits das Wohl des Menschen in seinem Blick hat, springt die Lesung in den Dank des Briefschreibers an die Gemeinde (Verse 15-16), von deren Glauben er gehört habe. Das passt insofern nicht ganz, als das Stichwort "Glaube" ("denn ich habe von eurem Glauben gehört") direkt an die in der Lesung ausgelassene letzte Strophe des insgesamt vierstrophigen Lobpreises anknüpft: "in ihm [d. h. in Christus] habt ihr das Siegel des verheißenen Heiligen Geistes empfangen, als ihr zum Glauben kamt" (Vers 13).
Da aber Glaube nie abgeschlossen ist, sondern auf lebenslanges Wachstum angelegt ist, folgt noch in Vers 17-18 ein Gebetswunsch um tiefere Gotteserkenntnis und ein tieferes Verständnis dafür, was dieser Gott zu geben vermag.
Vers 3: Ein Gottes-Lied
Der Einstieg gibt als gewähltes Gebetsformular den "Lobpreis", die sog. "Eulogie" zu erkennen (Näheres zum Wort s. unter Auslegung). Sie bezieht sich auf Gott Vater im Gegensatz zu den großen Christus-Hymnen des Neuen Testaments (wie z. B. Kolosser 1,15-20). Diese Gott-Vater-Ausrichtung ist typisch für den gesamten Epheserbrief. ER ist es, der in Christus handelt (vgl. Vers 6: "in seinem geliebten Sohn"). Dies verhindert eine von der Theo-logie (Gottes-Rede) losgelöste Christo-logie (Christus-Rede). Beide sind wiederum verbunden durch die Rede vom "Heiligen Geist" (im ausgelassenen Vers 13), sodass sich der Epheserbrief - anders als die Paulusbriefe - als eine der am stärksten trinitarisch (auf die Dreifaltigkeit) ausgerichteten Schriften des Neuen Testaments zu erkennen gibt.
Vers 4: "... schon immer"
Hinter allen Formulierungen der ersten Strophe des Lobpreises muss man sich wie als "Hintergrundstrahlung" die Worte "i m m e r s c h o n" vorstellen. Es gibt keine vorstellbare Zeit in Gott - auch wenn für Gott jeder Zeitbegriff versagt -, in der nicht "schon immer" Jesus zugegen war. Seine Existenz hängt nicht an der irdischen Existenz. Und insofern der Sohn "immer schon" ("vor der Grundlegung der Welt") als der ganz auf seine Menschwerdung und seine Todesüberwindung (Auferweckung) hin "gedachte" beim Vater war, war das ewige Heil eines jeden menschlichen Lebens bei Gott "schon immer" beschlossene Sache. Auf diesem Hintergrund hat die Schlussformulierung "damit wir heilig und untadelig leben vor ihm" eine doppelte Bedeutung: Sie beschreibt die Folge des in Jesus Christus beschlossenen Heils für die Menschen als Zusage (in Jesus hat uns Gott in einen Zustand des heiligen und untadeligen Lebens versetzt) wie auch als moralische Aufforderung, diesem Zustand tatsächlich im Handeln zu entsprechen ("Nun lebt auch heilig und untadelig!"). Genau diese beiden Teile - Zusage und Mahnung - prägen den Aufbau des ganzen Epheserbriefs: Kapitel 1-3 belehren über das, was gilt, Kapitel 4-6 mahnen zu einem entsprechenden ethischen Handeln.
Gerade die aktuelle Gegenwart stellt den Glauben an das "immer schon" des Heilswillens Gottes auf eine harte Probe. Aber die Heilige Schrift, die selbst über Jahrhunderte gewachsen ist, mahnt auch immer, die Dinge nicht nur aus dem unter Umständen furchtbaren "Augenblick" heraus (der sich auch zu Jahrzehnten dehnen kann, wie biblisch das ca. 40jährige Exil nach Babylon oder in neuerer Zeit ein Dreißigjähriger Krieg zeigen) zu betrachten, sondern in den Erfahrungsräumen von zig Generationen zu denken oder auch die eigenen Jahre in den Blick zu nehmen, in denen es anders war.
Vers 5: "Sohn" - oder: Beziehung ist alles
Die "Erwählung in Christus" (Vers 4) wird verstärkt durch die Formulierung: "seine Söhne zu werden durch Jesus Christus". Hier wird deutlich: Am Anfang steht nicht die Moral, sondern der tiefe Wunsch nach Beziehung. Die Beziehung Vater - Sohn ist keine exklusive, sondern zielt darauf, alle Menschen in diese Beziehung mit hineinzunehmen. "Sohn" bezieht sich nicht auf das Geschlecht, sondern auf den Stand: geliebt und mit allen Rechten ausgestattet. Da Töchter in damaliger Zeit weniger galten, werden zum Ausdruck der Gleich- und Hochrangigkeit Aller auch die Frauen "Sohn" genannt.
Vers 6: "Herrlich"!
"Herrliche Gnade" nennt ein Stichwort, das am Ende wiederkehren wird: "Herrlichkeit". Dieses Wort hat es vom Hebräischen her und dann auch im Griechischen mit "Strahlglanz" und "Bedeutsamkeit" zu tun, mit dem "Respekt, dessen jemand würdig ist". All dies verleiht Gott dem Menschen, in dem er in Christus immer schon das Menschsein in seinem Heilsplan "vorausgedacht" hat - um es mit menschlicher Bildsprache auszudrücken.
Verse 15-16: Mehr als "nette Worte"
Der Dank des Verfassers angesichts des guten Rufs der Gemeinde ist einerseits sicher auch "fishing for compliments", wie es beim Briefschreiben damals üblich war. Bevor man mit mit dem eigentlichen Anliegen herausrückt, versucht man erst einmal, den Briefempfänger für sich einzunehmen und wohl zu stimmen ("captatio benevolentiae" nennt das der Lateiner).
Andererseits darf man auch sicher sein, dass es dem Briefschreiber - wie auch früher einem Paulus - natürlich gut getan hat, vom Glauben Anderer zu hören. Das Wissen um die erfolgreiche eigene Missionsarbeit und um das Wachstum der Kirche stärkt das eigene Selbstbewusstsein und macht einen auch selbst im Glauben sicherer.
Verse 17-18: Herrliche Aussichten
Zu den abschließenden Lesungsversen (eigentlich hätte mindestens Vers 19 noch hinzugenommen werden müssen) ist oben schon das Wichtigste gesagt. Mit dem "Erbe" wird auf die Auferstehungshoffnung angespielt. Es ist das ewige Leben und die Gemeinschaft mit dem dreifaltigen Gott, die "im Himmel" (Vers 3) bereit liegen. Das Wissen um dieses "Erbe" aber prägt schon die Gegenwart. So sollte es jedenfalls sein. Der Epheserbrief ermutigt zu einem Glauben mit "herrlichen Aussichten", die gerade dann sich als tragfähig und motivierend erweisen sollen, wenn der Alltag mit seinen so ganz anderen Erfahrungen - zzt. verdichten sie sich im "Wort des Jahres" Corona-Pandemie - eher lähmen, deprimieren oder bis zum Nichts-mehr-Einfallen einfach die Kräfte rauben. Motiviert werden soll zu Taten, die jetzt mehr denn je dem Gegenüber und ganz besonders den Kranken, Sterbenden und ihrer aller Helfer/innen den "Strahlglanz", die "Bedeutsamkeit" und den "Respekt, dessen jemand würdig ist" zusprechen. Quelle dieses Zuspruchs ist die "Herrlichkeit Gottes".