"Herrliche Aussichten" - das ist es, was der Epheserbrief gleich zu Beginn seinen Leserinnen und Lesern bzw. Hörerinnen und Hörern vor Augen stellen möchte. Begründet sind sie in Gott selbst, der "immer schon" - von allem Anfang an - das Heil des Menschen im Blick hat.
Einordnung der Lesung in den größeren Zusammenhang und Gliederung
Ein Brief bei Paulus fängt in der Regel anders an: mit Dank, Lob oder dem Aufbau guter Stimmung. Der unbekannte Verfasser des Epheserbriefs hingegen setzt ein mit einem gewaltigen Lobpreis Gottes (sog. "Eulogie") - einer Art liturgischem Gesang (Eph 1,1-14). Er bezieht sich auf Gott Vater im Gegensatz zu den großen Christus-Hymnen des Neuen Testaments (wie z. B. Philipper 2,5ff: "Jesus Christus ... war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, ..."). Diese Gott-Vater-Ausrichtung ist typisch für den gesamten Epheserbrief. ER ist es, der "in Christus" handelt (vgl. Vers 6: "in seinem geliebten Sohn"). Dies verhindert eine von der Theo-logie (Gottes-Rede) losgelöste Christo-logie (Christus-Rede). Beide sind wiederum verbunden durch die Rede vom "Heiligen Geist" (Vers 3: "Segen seines Geistes").
Dieser Einstieg ist kein Zufall. Ihm entsprechen verschiedene weitere Gebete innerhalb des Briefes. Sie durchziehen den gesamten ersten, lehrhaft ausgerichteten Teil (Kapitel 1-3), fehlen zwar im handlungsorientierten zweiten Hauptteil (Epheseser 4,1 - 6,9), tauchen dafür aber am Ende noch einmal deutlich auf, wenn der Verfasser in 6,18-20 sowohl allgemein zum Beten als auch konkret zur Fürbitte für seine Person auffordert. Den Grund für diesen Schwerpunkt nennt der Schreiber in Epheser 1,12: Das "Lob der Herrlichkeit Gottes" ist die Grundbestimmung des Menschen von Anfang an. Das ist offensichtlich für den Autor nicht nur Theorie, sondern bestimmt auch seine Schreibpraxis.
Zugleich merkt man beim Lesen der Eulogie, dass sie mehr als ein Gebet ist. Sie vermittelt eine sehr verdichtete Zusammenfassung von Glaubensinhalten. So erklärt sich auch, dass anstelle einer zu erwartenden Gebetsanrede Gottes durchgängig über Gott in der dritten Person ("er") gesprochen wird. Betend belehrt der Briefschreiber seine Adressaten.
Dabei formuliert Vers 3 ein Grundbekenntnis zum dreifaltigen Gott, das Gott als den eigentlich Handelnden in allem herausstellt. Anschließend wird in vier Strophen, die alle mit "in ihm" beginnen, dieses Handeln des Vaters als Handeln in Christus erläutert. In Christus hat "der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus" (Vers 3) erwählend (Verse 4-6), erlösend (Verse 7-10), vorherbestimmend (Verse 11-12) und mit allem Notwendigen ausrüstend (Vers 13: "Wort der Wahrheit", Verse 13-14: "Heiliger Geist") gehandelt.
Vers 3: Ein Gottes-Lied
Auffallend ist die gemeinsame Nennung von "Vater", "Sohn" und "Heilgem Geist". Damit erweist sich dieser markante Beginn des Gottesliedes wie übrigens der gesamte Epheserbrief, der mehrfach vergleichbar formuliert, als ein entscheidender Wegbereiter der Rede vom dreifaltigen Gott (vgl. z. B. noch Epheser 5,18-20: "... sondern lasst euch vom Geist erfüllen! ... 20 Sagt Gott, dem Vater, jederzeit Dank für alles im Namen unseres Herrn Jesus Christus!"). Der Glaube an den dreifaltigen Gott findet seine endgültige Ausformulierung ja erst in deutlich nach-neutestamentlicher Zeit, besonders in den Glaubensbekenntnissen von Nicaea (325 n. Chr.) und Konstantinopel (381 n. Chr.). In Form des sog. Apostolischen Glaubensbekenntnisses erklingt das, was der Epheserbrief eher noch andeutet, aus dem Mund der Gläubigen in jeder Sonntagsmesse: "Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, ... Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, ... Ich glaube an den Heiligen Geist ...".
Vers 4: "immer schon"
Hinter allen Formulierungen der ersten Strophe des Lobpreises muss man sich wie als "Hintergrundstrahlung" die Worte "i m m e r s c h o n" vorstellen (wörtlich heißt es: "vor der Grundlegung der Welt"). Es gibt keine vorstellbare Zeit in Gott - auch wenn für Gott jeder Zeitbegriff versagt -, in der nicht "immer schon" Jesus zugegen war. Seine Existenz hängt nicht an der irdischen Existenz. Und insofern der Sohn "immer schon" als der ganz auf seine Menschwerdung und seine Todesüberwindung (Auferweckung) hin "gedachte" beim Vater war, war das ewige Heil eines jeden menschlichen Lebens bei Gott "schon immer" beschlossene Sache. Auf diesem Hintergrund hat die Schlussformulierung "damit wir heilig und untadelig leben vor ihm" eine doppelte Bedeutung: Sie beschreibt die Folge des in Jesus Christus beschlossenen Heils für die Menschen als Zusage (in Jesus hat uns Gott in einen Zustand des heiligen und untadeligen Lebens versetzt) wie auch als moralische Aufforderung, diesem Zustand tatsächlich im Handeln zu entsprechen ("Nun lebt auch heilig und untadelig!"). Genau diese beiden Teile - Zusage und Mahnung - prägen den Aufbau des ganzen Epheserbriefs: Kapitel 1-3 belehren über das, was gilt, Kapitel 4-6 mahnen zu einem entsprechenden ethischen Handeln.
Gerade die aktuelle Gegenwart stellt den Glauben an das "immer schon" des Heilswillens Gottes auf eine harte Probe. Aber die Heilige Schrift, die selbst über Jahrhunderte gewachsen ist, mahnt auch immer, die Dinge nicht nur aus dem unter Umständen furchtbaren "Augenblick" heraus (der sich auch zu Jahrzehnten dehnen kann, wie biblisch das ca. 40jährige Exil nach Babylon oder in neuerer Zeit ein Dreißigjähriger Krieg zeigen) zu betrachten, sondern in den Erfahrungsräumen von zig Generationen zu denken oder auch die eigenen Jahre in den Blick zu nehmen, in denen es anders war.
Vers 5: "Sohn" - oder: Beziehung ist alles
Die "Erwählung in Christus" (Vers 4) wird verstärkt durch die Formulierung: "seine Söhne zu werden durch Jesus Christus". Hier wird deutlich: Am Anfang steht nicht die Moral, sondern der tiefe Wunsch nach Beziehung. Die Beziehung Vater - Sohn ist keine exklusive, sondern zielt darauf, alle Menschen in diese Beziehung mit hineinzunehmen. "Sohn" bezieht sich nicht auf das Geschlecht, sondern auf den Stand: geliebt und mit allen Rechten ausgestattet. Da Töchter in damaliger Zeit weniger galten, werden zum Ausdruck der Gleich- und Hochrangigkeit Aller auch die Frauen "Sohn" genannt.
Vers 6: "Herrlich"!
"Herrliche Gnade" nennt ein Stichwort, das am Ende wiederkehren wird: "Herrlichkeit". Dieses Wort hat es vom Hebräischen her und dann auch im Griechischen mit "Strahlglanz" und "Bedeutsamkeit" zu tun, mit dem "Respekt, dessen jemand würdig ist". All dies verleiht Gott dem Menschen, in dem er in Christus immer schon das Menschsein in seinem Heilsplan "vorausgedacht" hat - um es mit menschlicher Bildsprache auszudrücken.
Vers 7: "Erlösung durch sein Blut"
Als hätte der Epheserbrief Sorge, mit seiner "Herrlichkeits-Theologie" zu triumphalistisch und abgehoben daherzukommen, ruft er in Vers 7 den Kreuzestod Jesu in Erinnerung. Seine Lebenshingabe am Kreuz - dafür steht das "Blut" -, die gegen alle menschliche Logik und ganz besonders gegen alle Verbrecherlogik ("Sünde") zu neuem Leben führt (Auferweckung/Ostern), zeugt von der Vergebung Gottes: Im Sohn erleidet Gott eher ungerechte Gewalt, als an ihrer Kreisläufigkeit mitzuwirken, überwindet aber zugleich die schlimmste Folge der Gewalt: den Tod.1
Verse 8-9: "Reichtum seiner Gnade"
Diese beiden Verse entfalten die Schlussbemerkung von Vers 7, der vom "Reichtum der der Gnade" Gottes spricht. Der griechische Text ist eindeutiger als die deutsche Übersetzung: In Jesus Christus hat Gott den Menschen in überreichem Maße Weisheit und Einsicht geschenkt. Das knüpft sprachlich an das Alte Testament an (so gilt z. B. der Seher Daniel als besonders mit "Weisheit und Einsicht" begabt: Daniel 1,17.20; 5,11.14) und bedeutet: In Jesus hat Gott den Menschen auf ganz besondere Weise die Augen dafür geöffnet, wie gut er es immer schon mit dem Menschen meint. Einfach formuliert: In der Sendung seines Sohnes hat Gott sein eigenes "Geheimnis" "gelüftet" ("kundgetan"). Diese "Geheimnislüftung" bedarf aber beim Menschen eines besonderen Verständnisses für diesen Jesus, um ihn überhaupt als "Sohn Gottes" und "Offenbarer" ("Kundtuer") zu erkennen. Den Weg dahin spricht gleich die vierte Strophe des Gottesliedes an.
Vers 10: Der "krönende Abschluss"
Zuvor wird jedoch in Vers 10 die große Zielrichtung des Handelns Gottes angegeben. Dabei wird die Zeit verstanden als sich immer weiter ansammelnde Summe von Einzelzeiten (griech. kairoí), die aber nicht zerstieben, sondern zu einer großen Fülle anwachsen, Und als bilde diese Zeitenfülle eine Art Leib, so erhält sie am Ende ein "Haupt", einen "Kopf" (griechisch: kephalḕ): Jesus Christus. In ihm findet alles, was in den Einzelzeiten geschehen ist, seine Zusammenfassung und Vollendung (griechisch: anakephalaíosis). Und dieser "krönende Abschluss" des universalzeitlichen und -kosmischen Geschehens gehört - so der Epheserbrief - von Anfang an zu Gottes Geheimnis hinzu. Er ist "schon immer" sein Heilsbeschluss, der in Jesus Christus konkrete Gestalt gewonnen hat als ewiger Sohn, der in die Welt kam und wieder beim Vater ist, um - wie es im Johannesevangelium heißt - "alle an sich zu ziehen" (vgl. Johannes 12,32).
Verse 11-12: "Lob seiner Herrlichkeit"
Das große Ganze in den Blick zu nehmen, heißt aber nicht die, die Gegenwart aus dem Auge zu verlieren. Sie holt der Epheserbrief mit dem Wörtchen "wir" ein, mit dem er sein konkretes Gegenüber und die Menschen seines "kairós", seiner Epoche anspricht. Auch sie sind Teil dieses großen Heilsplans Gottes. Neutestamentlich betrachtet dauert diese "Epoche" immer noch an und wird zusammengefasst im dem alles überwolbenden Begriff der Kirche. Dabei meint "Kirche" weder ein Gebäude noch nur eine bestimmte Konfession, auch nicht eine Institution, sondern die durch die Zeiten sich auf ihr Haupt zubewegende Gemeinschaft derer, die diesem Heilsplan Gottes trauen und sich auf ihn einlassen. Die menschliche Reaktion auf die Erkenntnis solcher Aussichten, zu denen der Mensch also von Gott her bestimmt ist, kann nur das Lob dieses Gottes sein. Dieses Lob schließt das Gebet ebenso ein wie die alltägliche Lebensgestaltung. Denn das Lob Gottes geschieht auch dadurch, dass "wir heilig und untadelig leben vor ihm" (Vers 4b).
Vers 12b ("die wir schon früher in Christus gehofft haben") scheint vorauszusetzen, dass die Hoffnung, die ihren Grund einzig in Jesus Christus hat, schon in irgendeiner Weise in den Menschen angelegt war, ehe sie sich zum christlichen Glauben bekhrten. Dies wäre dann ein Ausdruck des "Vorherbestimmtseins" durch Gott.
Verse 13-14: "unser Erbe"
Die beiden letzten Verse spielen mit der Gegenüberstellung von "ihr" ("ihr habt gehört") und "uns" ("unser Erbe"). Damit wird greifbar, dass der Weg zum Kennenlernen des Evangeliums über diejenigen lief, die die Gemeinde gegründet haben. Die wahren Namen bleiben unbekannt, der Briefschreiber verbirgt sich, indem er als Briefabsender Paulus nennt, in dessen Spur er sich ganz offensichtlich versteht. Aber auch wenn Menschen das Evangelium gebracht haben, war es nicht "einfaches" Menschenwort, sondern "Wort der Wahrheit", die Christus selbst bzw. Gott selbst ist. Der diese "Gleichung" absichert, ist der Geist Gottes. Er wirkt in den Boten ebenso wie in denen, die sie für Christus gewinnen und die diesen selben Geist in der Taufe empfangen. Er ist das Prägemal ("Siegel") der Christen und zugleich Gottes Garantiezeichen, dass er es mit diesem "Eigentumsvermerk" (also solches kann ein Siegel ja auch verstanden werden) ernst meint: Die Gemeinschaft mit ihm geht nie verloren - und diese Verlässlichkeit spricht ganz und gar für Gott oder - in den Worten des Epheserbriefs: Sie (die VerlässlichkeitGottes) ist selbst das "Lob seiner Herrlichkeit". Die Treue lobt den Treuen, das Erbe lobt den Erblasser. Die Empfänger von Treue und Erbe setzen dieses Lob in Worte und Taten um.