Es ist kein Zufall, dass an den letzten Sonntagen des Lesejahres in Vorbereitung auf das Christkönigsfest der Zweite Thessalonicherbrief als Zweite Lesung ausgesucht ist. Denn an der Grenze zwischen zu Ende gehendem Kirchenjahr und beginnendem neuen Kirchenjahr (1. Adventssonntag) "spielt" die Liturgie mit einem doppelten Verständis der "Ankunft" (lateinisch: adventus): nämlich der ersten Ankunft des Gottessohnes Jesus Christus in seiner Menschwerdung (Advent/Weihnachten) und der "zweiten Ankunft", d. h. seiner Wiederkunft am Ende der Zeiten (Christkönigsfest). Hier geht es um den Satz des Glaubensbekenntnisses: "... bis er kommt in Herrlichkeit, zu richten die Lebenden und die Toten, und seiner Herrschaft wird kein Ende sein". Unter diesem Vorzeichen stehen auch schon die Evangelien der Sonntage im November als Vorbereitung auf das Christkönigsfest. "Wiederkunft" ist aber auch das Thema des des Zweiten Thessalonicherbriefs! Das deutet sich bereits in der heutigen Lesung an.
Unter dem Geischtspunkt des reinen Hörverständnisses ist die Begrenzung des heutigen Lesungsabschnitts mehr als unglücklich gewählt. Die offensichtlich beabsichtigte Kürze der Lesung lässt kaum eine Chance, in die Logik des Briefes einzutauchen.Auch wenn dieser mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht von Paulus stammt, sondern aus späterer Zeit (ausgehendes 1. Jh. n. Chr.), sich also nur als Paulusbrief ausgibt und dabei deutlich auf den Ersten Thessalonicherbrief zurückgreift (ein mit Sicherheit echter Paulusbrief), so hat der Zweite Thessalonicherbiref nichtsdestoweniger eine sehr klare und geradezu vorbildliche Struktur. Für die ersten beiden Kapitel sieht sie folgendermaßen aus:
1,1-2 Gruß
1,3-4 Dank an die Gemeinde
1,5-10 Vorbereitung des Themas "Wiederkunft"
1,11-12 Fürbitte für die Gemeinde
2,,1-2 Eröffnung des ersten Hauptteils (insgesamt: 2,1-12).
In dieser Struktur sind die Verse 1,11-12 (erste Hälfte der Lesung) die Forsetzung, näherhin die Folgerung aus der Danksagung 1,3-4 und setzen diese voraus. Die Verse 2,1-2 hingegen (die zweite Häfte des Lesungstextes) setzt die vorausverweisenden Bemerkungen aus 1,5-10 voraus und sind ohne diese eigentlich nicht zu verstehen.
Die Fürbitte (Verse 1,11-12)
Mit dem Stichwort "Berufung" greift der Zweite Thessalonicherbrief durchaus einen Begriff auf, den auch Paulus gerne verwendet. Bei ihm gilt die Berufung einem Lebensauftrag (Paulus versteht sich in Galater 1,1 und Römer 1,1 als "berufener Apostel") bzw. einer bestimmten Lebensweise, die statt auf auftriumphierende Stärke in der Nachfolge des Gekreuzigten auf "Schwäche" setzt (1 Korinther 1,26-31) oder als "Heiligung" im Gegensatz zur "Unzucht" interpretiert wird (1 Thessalonicher 4,7). Demgegenüber meint der Zweite Thessalonicherbrief mit Berufung das, was den Glaubenden im Endgericht bei der Wiederkunft Christi erwartet. Es geht also um die Berufung zur "Rettung". Diese wird so stark betont und zum Gegenstand der Fürbitte, weil für die Gemeinde eine Bedrängung durch angeblich "Gottnicht Kennende" (so in Vers 8) vorausgesetzt wird. Ihnen sollen die Gemeindeglieder auf gar keinen Fall nachgeben und so ihre "Berufung" aufs Spiel setzen. Die Bitte um "Vollendung" allen guten Willens und Glaubens knüpft an die Danksagung an, dass schon bislang so viel an Standhaftigkeit und Glauben in allen Bedrängissen für diese Gemeinde bezeugt ist (vgl. die ausgelassenen Verse 3-4). Aber aller Dank kann ja nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch der Stärkste in Versuchung geraten kann. Daher also die Fürbitte: Gott möge noch all das hinzufügen, was den Menschen eventuell an Kraft fehle.
Die Bitte (Verse 2,1-2)
Damit stellt sich natürlich die Frage, worin denn genau die "Bedrängnis" besteht bzw. was der Inhalt des "falschen Glaubens" ist. Die ersten Andeutungen erfolgten schon in 1,5-10. Sehr massiv spricht Vers 8 von denjenigen, "die Gott nicht kennen und dem Evangelium Jesu, unseres Herrn, nicht gehorchen." Das ist harter Tobak. Diesem schweren Vorwurf entspricht die In-Aussicht-Stellung von "Vergeltung" (Vers 8), "ewigem Verderben" und "das Fernsein von des Herrn Angesicht" bei Christi Wiederkunft zum Gericht (Vers 9). Ausschluss von der Berfung zur Herrlichkeit lautet also das vorwegnehmende Urteil des Zweiten Thessalonicherbriefs.
Dieser furchtbare Zusammenhang von Unglaube und Verdammnis wird nun hinsichtlich des "Irrglaubens" in 2 Thess 2,1-2 etwas konkretisiert: Die "Bedränger" der Gemeinde behaupten offensichtlich unter Berufung auf einen Brief oder ein mündliches ("prophetisches") Wort des Paulus, das der "Tag des Herrn", also die Wiederkunft Christi zum Gericht, unmittelbar bevorstehe (Vers 2: "sei schon da"). Ganz offensichtlich will der unbekannte Verfasser des Zweiten Thessalonicherbirefs in vorangeschrittener Zeit des Christentums weg von einer allzu nahen und konkreten Naherwartung. Der "Tag des Herrn" lässt sich nicht terminieren, ist erst recht noch nicht da. Weder der Verweis auf eine angebliche Verkündigung des Paulus noch vielleicht die Griffigkeit der Parole selbst soll die Gemeinde "aus der Fassung bringen und in Schrecken jagen" (Vers 2).
Doch was ist daran so schlimm, dass der Brief mit so harten Strafen für die gegenteilige Sicht rechnet? Die Antwort wird erst das 3. Kapitel geben: Wer schon heute oder morgen mit der Wiederkunft Christi rechnet - und zwar nicht als Möglichkeit, sondern als sicherem Datum -, der entschließt sich zur Faulheit, stellt das Arbeiten ein, lässt höchstens andere für sich schaffen und genießt den Müßiggang (vgl. 3,6-12; zu dieser Lesung vgl. Überblick und Auslegung am 33. Sonntag im Jahreskreis).
Auch wenn die theologisch begründete Selbstbefreiung vom Leistungseinsatz kaum gutgeheißen werden kann, wird man aus heutiger Sicht denooch sagen müssen, dass der Verfasser des Zweiten Thessalonicherbriefs mit seiner harten Sicht wohl doch das Maß verloren hat. Zugute zu halten ist ihm sicherlich, dass Paulus selbst im Ersten Thessalonicherbrief und auch an anderen Stellen deutlich macht, dass er nie auf Kosten anderer Leute lebte, sondern bei aller Verkündigungsarbeit immer auch seiner Erwerbsarbeit als Zeltmacher nachging. Ob er aber diese ihn ehrende und zugleich unangreifbar machende Vorbildlichkeit in solcher Radikalität zum Maßstab gemacht hätte, wie es in der heutigen Lesung geschieht, bzw. zu vergleichbar harten Konsquenzandrohungen gegriffen hätte, darf zumindest angefragt werden. Belege dafür aus den echten Paulusbriefen (Römer, 1/2 Korinther, Galater, Philipper, 1 Thessalonicher, Philemon) gibt es jedenfalls nicht.