"Versöhnung" ist für Paulus nicht nur ein Wort und auch keine abstrakte Theologie. Sie ist ihm Lebensauftrag, innerstes Anliegen und zugleich von Gott her Maßgabe für die Gestaltung des Alltagslebens, auch wenn die zusammenlebenden Menschen noch so unterschiedlich sind.
Einordnung der Lesung in den Zweiten Korintherbrief
Anders als die Gemeinde von Phlippi, die als Lieblingsgemeinde des Paulus gilt, bereitete die Gemeinde von Korinth Paulus zahlreiche Probleme. Eine ganze Zeitlang drohte das Verhältnis zwischen ihnen zu zerbrechen. Nicht nur entsprach das Leben in der Gemeinde in manchen Punkten nicht dem Christus-Maßstab, wie es sich Paulus vorstellte. Wanderprediger untergruben sein Missionswerk. Unsicherheit in der Gemeinde war die Folge bis hin zum Vorwurf der Unterschlagung von Kollektengeldern gegenüber Paulus.
Damit hatte Paulus ein Vertrauensproblem, das sich vermutlich über ein Jahr zwischen den Jahren 54 und 56 n. Chr. hinzog. Lange versuchte er, die Spannungen brieflich sowie mit der Sendung seines Gefährten Titus als Boten aufzulösen. Am Ende reiste er allerdings auch selbst nach Korinth, scheint sich mit der Gemeinde einigermaßen ausgesöhnt zu haben und schreibt von dort seinen Brief an die Gemeinde in Rom.
Der Zweite Korintherbrief erweckt nun den Eindruck, in seinen letzten Kapiteln (10- 13) aus der Zeit der heftigen Auseinandersetzung zu stammen, während der erste große Briefteil (2 Kor 1 -9) vom Thema die Versöhnung ist. Ihr wdmet Paulus eine Grundsatzausführung, die insgesamt von 2 Kor 5,11 bis 6,10 reicht. Aus diesem Absatz sind die Lesungsverse ausgewählt.
Einordnung der Lesung in den näheren Zusammenhang
Dabei weist Paulus in
5,11-13: Paulus weist auf, wie sehr er seine bisherigen (schriftlichen) Bemühungen als Dienst der Versöhnung verstanden wissen möchte.
5,14-17: Er verankert die Versöhnung im Kreuzestod Jesu Christi.
5,18-21: Der eigentliche Urheber aber ist schließlich Gott selbst: "Aber das alles kommt von Gott ..." (Vers 18). Aus diesem Teil stammen die ersten Verse der Lesung (Verse 20-21).
6,1-2: Es folgt eine Ermahnung, die Chance der Versöhnung nicht zu verpassen bzw. sie nicht abzulehnen. Sie bildet den zweiten Teil der Lesung.
6,3-10: Diese Verse knüpfen wieder an 5,11-13 an: Paulus redet noch einmal von sich selbst und spricht eine Selbstempfehlung als Vermittler in Sachen gottgewollter Versöhnung aus.
Versöhner "an Christi statt" (Verse 20-21)
Im ersten Vers steht die entscheidende Aussage am Schluss: "Lasst euch mit Gott versöhnen!" Es geht also um eine Veränderung der Beziehung zwischen Gott selbst und der korinthischen Gemeinde. Tatsächlich hat das griechische Wort katallásso ("versöhnen") weder etwas mit "Sühne" nocht mit "Sohn" zu tun, wie es das Deutsche zumindest klanglich nahelegt, sondern mit állos "(der) andere". Um Veränderung vom Schlechten zum Guten geht es, um den Austausch von Feindschaft durch Liebe, vom Gegeneinander zum Miteinander. Konkret im Blick hat Paulus so manches Gebaren in der korinthischen Gemeinde von Angeberei und Selbstdarstllung, um Einfluss und Macht zu gewinnen, aber auch von übler Nachrede und ehrabschneidender Beleidigung. Dies alles betrachtet Paulus aber nicht einfach unter juristischen Gesichtspunkten oder unter der Rubrik menschlicher Anstand. Denn er hat mit der Gemeinde von Korinth nicht einen weltlichen Verband vor sich, sondern Menschen, die sich aufgrund ihrer Taufe zusammenghörig und auf Jesus Christus bezogen wissen. Den sollen sie in ihrem (Gemeinde-)Leben widerspiegeln. Insofern aber Christus ganz auf die Seite Gottes gehört, geht es also in allem Tun immer um die Frage: Ist das jeweilige Handeln wirklich mit Gott vereinbar, oder schafft es nicht vielmehr einen Riss in der Verbindung Mensch - Gott.
Der Glaube sagt nun dem Paulus: Gott selbst ist an der Kittung dieses Risses interessiert, der durch uns Menschen aufgrund unserer Schwäche immer wieder entsteht. Gott zieht sich nicht beleidigt zurück, lässt uns aber auch nicht hängen. In Christus sagt er: "Ihr Menschen müsst nicht die letzte Folge Eures Fehlverhaltens tragen; die trage ich lieber selber. Dies zeige ich euch dadurch, dass mein Sohn Jesus gestorben ist, ohne selbst eine einzige Sünde begangen zu haben. Unser Verhältnis war immer ohne einen Riss." Dieser schuldlose Tod Jesu schafft - bildlich gesprochen - ein Vakuum, in das alle denkbare Schuld dieser Welt hineinpasst. Sie ist, weil Jesus nicht im Tod geblieben, sondern auferstanden ist, in Leben verwandelt. Das ist die Bedeutung der sehr verdichteten Formulierung in Vers 21, dass Gott den sündenlosen Christus für unsere Gerechtigkeit zur Sünde gemacht hat.
Das glauben zu können und wrklich zu glauben - so Paulus - verändert die Beziehung zu Gott, führt aber aus solchem Vertrauen auf Gottes Zuwendung auch zu einem zugewandten, versöhnlichen Verhalten untereinander. Wenn also die Gemeinde untereinander versöhnt lebt, bezeugt sie nach innen wie nach außen, wie sehr sie vom Glauben an Gott wirklich getragen ist.
Da aber weder Gott selbst in direkter Weise zu hören ist und auch Christus nach Tod und Auferweckung nicht mehr sicht- und greifbar in dieser Welt ist, braucht es diejenigen, die von dieser Versöhnung sprechen, sie zu ihrem Herzensanliegen machen und so weit wie möglich vorleben. In dieser Funktion sieht sich Paulus. Er sieht sich als Gesandten Jesu, für den er unterwegs ist. Dieses "für" (griechisch: hypèr) ist doppelt zu verstehen: Paulus missioniert zugunsten Jesu, aber auch stellvertretend für ihn ("an Christi statt").
Die Zeit der Gnade ist da (Verse 6,1-2)
Auf die "Grundsatzerklärung" in den vorangehenden Versen folgt die eindringliche Ermahnung des Paulus, die Chance, in der Zeit nach Kreuzestod und Auferweckung Jesu zu leben, auch tatsächlich zu nutzen. Die Gemeinde soll sich von Gottes Versöhnungswillen in ihrer konkreten Lebenspraxis wie auch zur "Reparatur" des von Misstrauen getrübten Verhältnisses zwischen ihr und Paulus anstecken lassen. Unter Rückgriff auf ein Wort aus dem Buch Jesaja (Jesaja 48,9) beschreibt er diese Zeit als "Zeit der Gnade", als gottgewährte Zeit der Veränderung.