Wach und nüchtern sein heißt die Parole, die Paulus angesichts der erwarteten Wiederkunft Christi ausgibt. Das ist das Gegenteil von angststarrer Lähmung, von handlungsersetzenden Rechenoperationen, wann der Tag kommen könnte, aber auch von sinnentrüber Gleichgültigkeit, die mit dem Einbruch des Anderen gar nicht rechnet.
Einordnung der Lesung in den Zusammenhang
Im zweiten Teil seines Briefes an die thessalonikische Gemeinde (beginnend mit 1 Thessalonicher 4,1) zielt Paulus auf die Gestaltung des Lebensalltags seit und aufgrund der Hinkehr zu Jesus Christus in der Taufe und angesichts der Erwartung von Jesu Wiederkunft zur Rettung vor dem "Zorn Gottes" im Endgericht (vgl. 1 Thessalonicher 1,10). Nach der "Behandlung" der Themen "Über die Bruderliebe" (1 Thessalonicher 4,9) und "Über die Entschlafenen" (Vers 13) schreibt Paulus in 1 Thessalonicher 5,1-11 "Über Zeiten und Stunden" (5,1). Mit der Formulierung "Wir bitten euch" ändert Paulus in 1 Thessalonicher 5,12 erkennbar den Stil und leitet das Brief-Finale (Verse 12-28) ein.
Auch wenn der Apostel dem Wortlaut nach sich nicht "über Zeiten und Stunden" auslassen müsste, weil alle Bescheid wissen, tut er es zumindest in den Versen 2-3 tatsächlich doch. Was wichtig ist und gilt, kann nicht oft genug wiederholt werden! Und sicher wird es irgendjemanden unter den Angesprochenen geben, der bzw. die es immer noch nicht begriffen hat.
Die Verse 4-5 sprechen die Gewissheit aus, dass nicht berechenbare Kommen des Gerichtstages für dei Gemeinde keinen Schrecken haben wird. Sie leben in der Erwartung der Wiederkunft Christi und als die auf ihn hin Getauften leben sie bereits in einem Heilsraum. Dieser Vergewisserung nach innen wird verstärkt durch die Abgrenzung nach außen, also zunächst einmal gegenüber den Bewohnern von Thessaloniki, die sich nicht zum Christentum bekehrt haben und anderen Lebensprinzipien folgen. Im die Lesung abschließenden Vers 6 ist nur undeutlich vom "Schlafen der anderen" die Rede, dem auf der eigenen Seite "Wachen" und "Nüchternheit" gegenüberstehen.
Die für die Lesungsauswahl ausgelassenen Verse 7-11 schaffen etwas mehr Klarheit, was gemeint sein könnte. Übermäßiger Alkoholkonsum lautet ein Vorwurf an die übrigken Thessalonicher (Vers 7: "wer sich betrinkt"), und damit die Flucht aus der Realität. Die Betonung der eigenen Nüchternheit und des - auf christlicher Seite - Gerüstetseins "mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf Rettung" (Vers 8) konkretisiert diese Anklage nach außen noch dahin, dass "die anderen" es offensichtlich an Tatkraft mangeln lassen, und erst recht an Taten zum Guten ("Liebe"). Das Fehlen einer wirklichen Perspektive ("Hoffnung auf Rettung") führt, zumindest bildlich gesprochen, in den Dämmerschlaf (Vers 6: "nicht schlafen wie die anderen"). Verse 9-10 begründen die eigene Hoffnung noch einmal mit dem Grundbekenntnis zu Jesus Christus. Und wie schon im Lesungsabschnitt des vorigen Sonntags (1 Thessalonicher 4,13-18) macht Paulus im Schlusssatz deutlich, worauf er bei seinen Adressatinnen und Adressaten eigentlich hinaus will: nicht bei den Gemeindezusammenkünften lamentieren, sondern - falls es Unsicherheiten und Zweifel geben sollte - sich gegenseitig "trösten" (vgl. 4,18 und 5,11). Dazu möchte Paulus mit seinen Ausführungen das geistliche und argumentative Rüstzeug geben.
Vers 1
Die Rede von "Zeit und Stunde" gehört in den Glaubenszusammenhang, dass Gott allein der Herr der Zeit ist- ein Thema, das besonders in der apokalyptischen Zeit (s. dazu Anmerkung 1 unter "Überblick" am vorigen Sonntag) wichtig geworden ist (vgl. Daniel 2,21: "Er bestimmt den Wechsel der Zeiten und Fristen" [im Griechischen steht derselbe Wortlaut wie bei Matthäus]). Das gilt auch für die Festlegung des Endes dieser Weltzeit. Im Streit der Ansichten, ob dieses Ende, das das Judentum als "Tag des Herrn" oder "Tag des Zorns" erwartete und christlich als Tag der Wiederkunft Christi verstanden wird, in absehbarer und berechenbarer Zeit erfolge oder prinzipiell unplanbar und unkalkulierbar sei, positioniert sich Paulus eindeutig: Terminliche Kalkulationen sind nicht angebracht. Die Formulierung erweckt den Eindruck, als habe Paulus schon bei seiner Erstverkündigung in Thessaloniki, also bei seiner Gründung der Gemeinde, zu diesem Thema deutliche Worte gesagt. So kann er sich jetzt darauf beschränken, die Gewissheit des Kommens des Tages der Herrn und dessen unplanbare Plötzlichkeit herauszustellen.
Verse 2-3
Die nächsten beiden Verse veranschaulichen dieses Moment der unplanbaren Plötzlichkeit mit Bildern aus zwei sehr unterschiedlichen Erfahrungsbereichen: der überraschende Einbruch des Diebes bei Nacht und die wie aus dem Nichts einsetzenden Wehen einer Frau. Die Nebeneinanderstellung beider Beispiele macht bereits deutlich: Es geht sicher nicht um die Nacht als Zeitpunkt der Wiederkunft Christi. Sondern die "Nacht" steht wie das sich Wiegen in "Frieden und Sicherheit" für die Zeiten, in denen man überhaupt nicht an den alles ändernden Einbruch Gottes in die eigene Welt rechnet. Man schläft gerade so selig und ruht sich einfach von seinem Tagewerk aus oder man glaubt einfach aufgrund der Umstände, es könne einem überhaupt nichts passieren und es ginge immer weiter so. Heute würde Paulus vielleicht auf eine Après-Ski-Party in Bad Ischgl verweisen, in die von einem Moment zum anderen die Nachricht vom Ausbruch eines tödlichen Corona-Virus trifft. Diese ist mitnichten mit der Wiederkunft Christi zu verwechseln (sowenig wie ein Diebstahl oder der Ausbruch von Wehen). Aber das erschreckende Überraschungsmoment ist immer dasselbe. Bei den Wehen kommt das Moment der Unentrinnbarkeit hinzu als Entsprechungsbild zur Gewissheit des Eintreffens des Tages des Herrn. Auf beides will Paulus hinaus, setzt es aber zugleich als bekannt voraus: "Ihr selbst wisst genau ..." (Vers 2).
Vers 4-5
Mit diesen beiden Versen will Paulus sagen: Der Tag der Wiederkunft Christi kann die christusgläubige Gemeinde von Thessaloniki nicht erschrecken, also in einem negativen Sinn überraschen, weil sie ihn prinzipiell erwartet und auf ihn hin hofft. Dies jedenfalls unterstellt Paulus seinen Adressaten und formuliert deshalb in reinen Beschreibungssätzen, die wörtlich lauten: "Ihr seid nicht in der Finsternis"; "Ihr seid alle Söhne [und Töchter] des Lichts bzw. des Tages"; "Wir sind weder der Nacht noch der Finsternis (zugehörig)". Dabei sind "Licht" und "Tag" Bilder für Heil, Rettung und alles Positive, was der Mensch von Gott her erwarten darf, während "Nacht" und "Finsternis" für das Unheil steht, das den Menschen erwartet, der mit Gott nicht rechnet, ihn für seine Zwecke zu vereinnahmen sucht oder ihn in bewusster Entscheidung aus seinem Leben ausklammert (zu weiteren Hintergründen des Bildes von Licht und Finsternis s. unter "Auslegung").
Die Begründung für die "These" der "Licht"- und "Tages"-Zugehörigkeit im Sinne einer Heilszugehörigkeit reicht Paulus erst einige Verse später nach, die leider aus dem Lesungsabschnitt ausgespart sind. Die Verse 9-10 sagen ausdrücklich: "9 Denn Gott hat uns nicht für das Gericht seines Zorns bestimmt, sondern dafür, dass wir durch Jesus Christus, unseren Herrn, die Rettung erlangen. 10 Er ist für uns gestorben, damit wir vereint mit ihm leben, ob wir nun wachen oder schlafen." "Licht" und "Tag" stehen also letztlich für Christus selbst.
Vers 6
Geschickt hatte Paulus schon im letzten Satz von Vers 5 vom belehrenden "ihr" zum solidarischen "wir" umgeschaltet. Was von dem in Christus begründeten Heil zu sagen ist (ewiges Leben, Bestehen des Gerichts), gilt allen, die an diesen Christus glauben, gleichermaßen: dem Verkündiger (Paulus) wie denen, denen er verkündet.
Gemeinsam ist auch beiden die Anstrengung, aus dieser Heilshoffnung heraus das Leben zu gestalten und dementsprechend täglich in gespannter Erwartung zu leben. "Wachen" nennt Paulus diesen Zustand. Dies meint nicht etwa Schlafverzicht, sondern so zu leben, dass, wenn Christus im nächsten Augenblick käme, ich mich dieses Augenblicks nicht schämen müsste. Ein solches Leben setzt den klaren Blick für die Realitäten und Erfordernisse des Lebens voraus und verträgt keine Trübung der Sinne durch Alkohol oder ein Leben in Illusionen und Verdrängungen, für die der alkoholisierte Zustand dann nur ein Bild wäre. Um im Bild zu bleiben: Wer nicht nüchtern ist, kann auch nicht wachen, weil er eh nichts mitbekommt. Wer aber am Tage mitbekommt, was zu tun ist, und in der Nachfolge Chrsiti liebend handelt, kann sich nachts beruhigt schlafen legen. Die Begegnung mit Christus wird keine böse Überraschung werden - ob in der Nacht oder am Tage.