In Zeiten, in denen der Vorwurf des sexuellen und auch des geistlichen Missbrauchs schwer auf der Kirche lastet, rufen die Worte des Apostels in Erinnerung, was eigentlich gefordert ist: wirklich liebevoller Umgang – nicht nur mit den eigenen Gemeindemitgliedern; ein Verhalten, das keinen Grund zur Beschwerde liefert; ein Handeln, das Gott gefallen könnte. Und: in alledem immer besser werden.
Einordnung der Lesung in den Brief und Aufbau der Lesung
Der erste Thessalonicherbrief gilt als erster Brief des Paulus. Er schreibt ihn vermutlich aus Korinth um das Jahr 50 nach Christus. Die Gemeinde hat er erst vor kurzem auf die ihm eigene Art gegründet. Genau diese Art, die auf Großspurigkeit, Ausnutzung oder Belehrung aus der Distanz verzichtet, ist für Paulus im wörtlichen Sinne „maßgeblich“. Positiv spricht er davon, dass er mit den Menschen nicht nur das Evangelium, sondern das Leben selbst geteilt habe; dass er wie sie für seinen Lebensunterhalt gearbeitet habe und dass sie ihm im Laufe der Zeit „lieb geworden“ seien (vgl. 1 Thessalonicher 2,1-12).
Von dieser Liebe spricht auch die heutige Lesung, deren einleitender Fürbittteil die erste Briefhälfte abschließt. Sie ist eigentlich ein Loblied auf die Gemeinde, aber in der Liebe ist immer "Luft nach oben"
Um in ihr zu wachsen, bedarf es des Zutuns Gottes (Verse 12-13), aber auch der eigenen Anstrengung. Um diese geht es in der zweiten Lesungshälfte. Auf den Gesamtbrief gesehen beginnt mit 1 Thess 4,1 der zweite Briefteil, in dem Paulus konkretes moralisches Verhalten einfordert und auf Fragen der Wiederkunft Christi antwortet.
Verse 3,12-13: Fürbitte um Liebeswachstum
Die "Liebe", von der Paulus spricht, ist weder rührselig noch hat sie etwas mit Erotik zu tun, sondern sie ist eine respektvolle, prinzipiell wertschätzende Art der Zuwendung gegenüber jedermann, in der man nie übertreiben kann. Paulus hat selbst versucht, sie bei der Gründung der Gemeinde vorzuleben, und zwar durch Verzicht auf Unterhalt durch die Gemeinde, durch Bescheidenheit, Wahrhaftigkeit und Freundlichkeit. All das mündet in die Feststellung: "... ihr wart uns sehr lieb geworden" (1 Thessalonicher 2,8b). Solche "Liebe", die Paulus von sich wie von jedem bzw. jeder Christusjünger*in verlangt, ist aber alles andere als selbstverständlich. Deshalb, und obwohl die Thessalonicher schon Einiges an Liebeswerken, an Hoffnung und Geduld aufweisen können (wie es im ersten Kapitel des Briefes ausdrücklich heißt), legt Paulus bei Christus Fürbitte um weiteres Wachstum ein.
Dabei treibt ihn die Verantwortung für diejenigen um, die für das Evangelium von Jesus Christus gewonnen hat. Denn sie werden sich am Ende verantworten müssen bei der Wiederkunft Christi, die Paulus als ein Gerichtshandeln versteht.1
Verse 4,1-2: Ermahnung zur Nachahmung des eigenen Vorbilds
Im (langen) Warten auf die Wiederkunft Christi, das ja letztlich bis heute andauert und weiter währen wird, liegt ein möglicher Keim, dass der Eifer um ein vorbildliches Leben aus dem Geiste Jesu erkalten könnte. Es ist das Phänomen, wenn groß angekündigte Ereignisse ausbleiben, dann ziehen Gewöhnung und eine gewisse Gleichgültigkeit ein. Das gilt auch im Bereich der ethischen Anstrengungen. Diese Gefahr sah Paulus wohl bei den Thessalonichern gegeben.
Die Gefahr der Erlahmung könnte verstärkt worden sein durch den Druck, den die Gemeinde durch jüdische Gruppierungen erfahren, die in der römischen Provinz Achaia um ihre Existenzberechtigung kämpfen und die in den von Rom geduldeten Christen eine Gefahr sehen. Paulus ist so sehr um seine Gemeinde besorgt, dass er, weil er selbst nicht kommen konnte, schon einmal seinen Gefährten Timotheus vorgeschickt hatte. Dessen Auskünfte waren beruhigend. Und dennoch: Die Sorge bleibt. (Das alles ist Thema in dem der Lesung direkt vorangehenden Passus 1 Thessalonicher 3,1-10).
So wundert es nicht, dass die Eröffnungsverse des zweiten Briefteils im selben dringlichen Ton einsetzen, wie der erste Teil endet. Nur liegt diesmal kein Gebet vor, sondern die ausdrückliche Bitte und Mahnung des Paulus. Der Hinweis auf das eigene Vorbild wird unterstrichen durch den Auftrag Jesu selbst,von dem Paulus zutiefst überzeugt ist. Dieser Zusammenhang ist entscheidend: Paulus stellt nicht persönliche Maximen auf, spricht also nicht als Wertephilosoph mit eigenem Anspruch, sondern leitet die Grundforderung nach"Liebe" aus dem Auftrag Jesu selbst ab. Mehr als einmal sagt er in seinen Briefen - und teilt darin die Botschaft Jesu, wie sie uns besonders die Evangelien anch Markus, Matthäus und Lukas überliefern: "Wer den andern liebt, hat das Gesetz erfüllt."