Lesejahr C: 2024/2025

2. Lesung (1 Thess 3,12 - 4,2)

12Euch aber lasse der Herr wachsen und reich werden in der Liebe zueinander und zu allen, wie auch wir euch lieben,
13damit eure Herzen gestärkt werden und ihr ohne Tadel seid, geheiligt vor Gott, unserem Vater, bei der Ankunft Jesu, unseres Herrn, mit allen seinen Heiligen. Amen.

41Im Übrigen, Brüder und Schwestern, bitten und ermahnen wir euch im Namen Jesu, des Herrn: Ihr habt von uns gelernt, wie ihr leben müsst, um Gott zu gefallen, und ihr lebt auch so; werdet darin noch vollkommener!
2Ihr wisst ja, welche Ermahnungen wir euch im Auftrag Jesu, des Herrn, gegeben haben.

Überblick

In Zeiten, in denen der Vorwurf des sexuellen und auch des geistlichen Missbrauchs schwer auf der Kirche lastet, rufen die Worte des Apostels in Erinnerung, was eigentlich gefordert ist: wirklich liebevoller Umgang – nicht nur mit den eigenen Gemeindemitgliedern; ein Verhalten, das keinen Grund zur Beschwerde liefert; ein Handeln, das Gott gefallen könnte. Und: in alledem immer besser werden.

 

Einordnung der Lesung in den Brief und Aufbau der Lesung

Der erste Thessalonicherbrief gilt als erster Brief des Paulus. Er schreibt ihn vermutlich aus Korinth um das Jahr 50 nach Christus. Die Gemeinde hat er erst vor kurzem auf die ihm eigene Art gegründet. Genau diese Art, die auf Großspurigkeit, Ausnutzung oder Belehrung aus der Distanz verzichtet, ist für Paulus im wörtlichen Sinne „maßgeblich“. Positiv spricht er davon, dass er mit den Menschen nicht nur das Evangelium, sondern das Leben selbst geteilt habe; dass er wie sie für seinen Lebensunterhalt gearbeitet habe und dass sie ihm im Laufe der Zeit „lieb geworden“ seien (vgl. 1 Thessalonicher 2,1-12).

Von dieser Liebe spricht auch die heutige Lesung, deren einleitender Fürbittteil die erste Briefhälfte abschließt. Sie ist eigentlich ein Loblied auf die Gemeinde, aber in der Liebe ist immer "Luft nach oben"

Um in ihr zu wachsen, bedarf es des Zutuns Gottes (Verse 12-13), aber auch der eigenen Anstrengung. Um diese geht es in der zweiten Lesungshälfte. Auf den Gesamtbrief gesehen beginnt mit 1 Thess 4,1 der zweite Briefteil, in dem Paulus konkretes moralisches Verhalten einfordert und auf Fragen der Wiederkunft Christi antwortet.

 

Verse 3,12-13: Fürbitte um Liebeswachstum

Die "Liebe", von der Paulus spricht, ist weder rührselig noch hat sie etwas mit Erotik zu tun, sondern sie ist eine respektvolle, prinzipiell wertschätzende Art der Zuwendung gegenüber jedermann, in der man nie übertreiben kann. Paulus hat selbst versucht, sie bei der Gründung der Gemeinde vorzuleben, und zwar durch Verzicht auf Unterhalt durch die Gemeinde, durch Bescheidenheit, Wahrhaftigkeit und Freundlichkeit. All das mündet in die Feststellung: "... ihr wart uns sehr lieb geworden" (1 Thessalonicher 2,8b).  Solche "Liebe", die Paulus von sich wie von jedem bzw. jeder Christusjünger*in verlangt, ist aber alles andere als selbstverständlich. Deshalb, und obwohl die Thessalonicher schon Einiges an Liebeswerken, an Hoffnung und Geduld aufweisen können (wie es im ersten Kapitel des Briefes ausdrücklich heißt), legt Paulus bei Christus Fürbitte um weiteres Wachstum ein. 

Dabei treibt ihn die Verantwortung für diejenigen um, die für das Evangelium von Jesus Christus gewonnen hat. Denn sie werden sich am Ende verantworten müssen bei der Wiederkunft Christi, die Paulus als ein Gerichtshandeln versteht.1

 

Verse 4,1-2: Ermahnung zur Nachahmung des eigenen Vorbilds

Im (langen) Warten auf die Wiederkunft Christi, das ja letztlich bis heute andauert und weiter währen wird, liegt ein möglicher Keim, dass der Eifer um ein vorbildliches Leben aus dem Geiste Jesu erkalten könnte. Es ist das Phänomen, wenn groß angekündigte Ereignisse ausbleiben, dann ziehen Gewöhnung und eine gewisse Gleichgültigkeit ein. Das gilt auch im Bereich der ethischen Anstrengungen. Diese Gefahr sah Paulus wohl bei den Thessalonichern gegeben.

Die Gefahr der Erlahmung könnte verstärkt worden sein  durch den Druck, den die Gemeinde durch jüdische Gruppierungen erfahren, die in der römischen Provinz Achaia um ihre Existenzberechtigung kämpfen und die in den von Rom  geduldeten Christen eine Gefahr sehen. Paulus ist so sehr um seine Gemeinde besorgt, dass er, weil er selbst nicht kommen konnte, schon einmal seinen Gefährten Timotheus vorgeschickt hatte. Dessen Auskünfte waren beruhigend. Und dennoch: Die Sorge bleibt. (Das alles ist Thema in dem der Lesung direkt vorangehenden Passus 1 Thessalonicher 3,1-10).

So wundert es nicht, dass die Eröffnungsverse des zweiten Briefteils im selben dringlichen Ton einsetzen, wie der erste Teil endet. Nur liegt diesmal kein Gebet vor, sondern die ausdrückliche Bitte und Mahnung des Paulus. Der Hinweis auf das eigene Vorbild wird unterstrichen durch den Auftrag Jesu selbst,von dem Paulus zutiefst überzeugt ist. Dieser Zusammenhang ist entscheidend: Paulus stellt nicht persönliche Maximen auf, spricht also nicht als Wertephilosoph mit eigenem Anspruch, sondern leitet die Grundforderung nach"Liebe" aus dem Auftrag Jesu selbst ab. Mehr als einmal sagt er in seinen Briefen - und teilt darin die Botschaft Jesu, wie sie uns besonders die Evangelien anch Markus, Matthäus und Lukas überliefern: "Wer den andern liebt, hat das Gesetz erfüllt."

 

 

 

1

Auslegung

"Wachsen und reich werden in der Liebe" (Vers 12)

„Pleonasmus“ – so nennt man die Häufung von bedeutungsgleichen Ausdrücken (z. B. „pechrabenschwarz“) als Stilmittel der Verstärkung und Intensivierung. Das dahinter stehende griechische Wort „pleonázo“ „reichlich vorhanden sein“, „in Überfülle vorhanden sein“, „wachsen (lassen) bis zum Überfließen“ wird nun tatsächlich „zu allem Überfluss“ gleich im ersten Vers der Lesung gedoppelt. Denn auch hinter dem Wort „reich werden lassen“ steht im Griechischen eine  Vokabel („perisseúo“), die ebenfalls die Vorstellung des „Überfließens“ beinhaltet. Wenn aber im „Überschäumen und Überfließen“ gedoppelt wird, bekommt man vielleicht ein Gespür dafür, mit welcher Energie Paulus um Anstrengungen aus der Liebe heraus bittet und wirbt. Sie ist für ihn das Markenzeichen der Christen schlechthin, bei dem sie unschlagbar sein, besser: an dem sie prinzipiell erkennbar sein sollen. Jegliche Art von Übergriffigkeit, Geringachtung, Machtmissbrauch, Unanständigkeit, Schadenfreude, Freude an der Unwahrheit – um nur einige Beispiele zu nennen, die sich aus dem Ersten Thessalonicherbrief oder aus dem Hohenlied der Liebe in 1 Korinther 13 [s. dazu unter "Kontext"] ergeben – unterwandern die Kraft des Zeugnisses für das Evangelium. Was Paulus mit klarem und eiferndem Verstand gesehen hat, hat nichts an Bedeutsamkeit und Richtigkeit verloren.

Kunst etc.

Paulus, 6./7. Jh. (Paris, Musée de Cluny). Creative commons licence
Paulus, 6./7. Jh. (Paris, Musée de Cluny). Creative commons licence

Dieses Byzantinische Elfenbeinrelief aus dem 6.–7. Jahrhundert (Paris, Musée de Cluny) zeigt etwas von der Güte und Liebe, von der Paulus selbst im Rahmen seiner Missionsarbeit erfüllt war und die er auch in der Gemeinde von Thesaloniki gelebt wissen wollte.