Die heutige Lesung setzt den Eröffnungsteil des Ersten Thesslonicherbriefs vom letzten Sonntag fort und schließt ihn ab. Er ist ganz vom Motiv tiefer Dankbarkeit bestimmt, die Paulus für das vorbildliche Glaubensleben der Gemeinde von Thessaloniki empfindet. Zur Intensivierung dieses Dankes rekapituliert er deren Glaubensgeschichte, angefangen vom Beginn der Mission bis zum Wirksamwerden des Zeugnisses weit über die Gemeindegrenzen hinaus.
Einordnung in den Zusammenhang
Der Eröffnungsteil des Briefes (1 Thessalonicher 1,2-10) lässt im griechischen Satzbau, der in der Übersetzung in mehrere kürzere Sätze aufgeteilt ist, insgesamt vier Teile erkennen:
1. Verse 2-5c: Gebetsdank;
2. Verse 6-7: Beispielhaftigkeit und Vorbildlichkeit der thessalonikischen Christinnen und Christen;
3. Vers 8: Wirkung des guten Beispiels weit über die Stadtgrenzen hinaus;
4. Verse 9-10: Inhalt dessen, was man sich bei den anderen über die Christen und Christinnen von Thessaloniki erzählt: Ablassen vom Götzendienst und Ewartung der Wiederkunft des auferweckten Herrn Jesus Christus.
Aus ihnen enthält der heutige Lesungsabschnitt die Teile 2 - 4. Hinzugenommen ist Vers 5c, der von der Leseordnung als Einleitung zu Vers 6 aufgefasst wird.
Vers 5c: Ein Vorausverweis
Bei genauerer Betrachtung bleibt Vers 5c für sich genommen etwas unverständlich, weil ja nicht ausgeführt wird, wie das Missionarstrio Paulus, Timotheus und Silvanus in Thessaloniki aufgetreten sind. Tatsächlich handelt es sich um einen Vorausverweis, der sich den heutigen Brieflesenden erst in Kapitel 2 erschließen wird: Dort beschreibt Paulus in den Versen 1-12 ganz ausführlich die Art und Weise seines missionarischen Vorgehens.
An diesem kleinen Beispiel wird deutlich, dass es ein gewaltiger Unterschied ist, ob die Originalempfänger/innen einen Brief lesen, die aufgrund ihrer persönlichen Kenntnis des Briefschreibers wie auch der Situation, von der er spricht, bereits feine Anspielungen verstehen können, oder ob wir zwei Jahrtausende später diesen Brief lesen und zussätzliche Hintergrundinformationen zum Vestehen solcher Anspielungen brauchen.
Im griechischen Text wird deutlich, dass Vers 5c als Untermauerung des in Vers 5a-b Gesagten zu verstehen ist: Die Art und Weise des Auftretens des Paulus in Thessaloniki belegen, wie kraftvoll, geisterfüllt und überzeugend seine Evangeliumsverkündigung einst erfolgt ist.
Verse 6-7: Ein Ruhmesblatt
Vers 6 hingegen bringt einen neuen Gedanken ein. "Mimetiker" (griechisch: mimētaì), also "Nachahmer" des Paulus und seiner Gefährten sind die Thessalonicher darin geworden, dass sie auch "in Bedrängnis" das Wort Gottes angenommen haben, und das auch noch "mit der Freude des heiligen Geistes" (zur "Freude" bei Paulus s. unter "Auslegung"). Christsein in einem mehrheitlich nicht christlichen Lebenszusammenhang bedeutet in damaliger Zeit automatisch "Bedrängnis". Dabei muss man nicht gleich an Todesgefahr denken. Doch Züchtigungsstrafen und Gefängnisaufenthalte sind ebenso einzukalkulieren wie ein Ausschluss aus dem von Rom oder oder den Stadtkulten (z. B.Dionysos-Kult) bestimmten Geschäftsleben. Diese Bedrängnisse kennt Paulus selbst (vgl. 1 Thessalonicher 3,4: "Denn als wir noch bei euch waren, haben wir euch vorausgesagt, dass wir in Bedrängnis geraten werden; und so ist es, wie ihr wisst, auch eingetroffen."). Und zugleich weiß er durch den Bericht des Timotheus (s. Einleitung in den Thessalonicherbrief am 29. Sonntag unter "Überblick"), dass es den thessalonikischen Christen und Christinnen nicht besser geht. Nur so ist verständlich, wenn Paulus in 1 Thessalonicher 3,3 schreibt "... damit keiner wankt in diesen Bedrängnissen. Ihr wisst selbst: Für sie sind wir bestimmt."
Dieses Wissen, dass die Gemeinde von Thessaloniki auch in Bedrängnissen ihren Glauben durchhält, macht Paulus nicht nur dankbar, so dass Vers 6 wie ein großes Lob zu verstehen ist, sondern es tröstet ihn ganz sicher auch, weiterhin eigene Bedrängnisse zu ertragen. Vor allem aber sieht er, wie sich ein solches kraftvolles Glaubenszeugnis herumspricht (Vers 7). Er schreibt ja seinen Brief aus Korinth, der Hauptstadt der Provinz Achaia. Offensichtlich erzählt man sich dort von den Christinnen udn Christen in Thessaloniki und ihr Beispiel hat angesteckt. Dasselbe hat vermutlich Timotheus bei seiner Reise zum Zwischenbesuch in der Gemeinde von Thessaloniki erfahren, die ihn durch die zugehörige Provinz Mazedonien führte. Das Ergebnis dieses missionarisch wirkenden Ansteckungsprozesses kann Paulus im Begriff "ein Vorbild für alle Glaubenden in Mazedonien und in Achaia" zusammenfassen.
Vers 8: "euer Glaube an Gott"
Vers 8 erweitert den Wirkungsradius des thessalonikischen Zeugnisses sogar noch einmal. Dabei wird mit dem Stichwort "Glaube an Gott" die Besonderheit der thessalonikischen Gemeinde deutlich: Anders als für Juden, für die der "Glaube an Gott" selbstverständlich war, aber der Glaube an Jesus Christus die große Herausforderung, ist für die ursprünglich heidnischen Mazedonier der "Glaube an Gott" die entscheidende Bekehrung und zugleich Abkehr von der Mehrheit ihrer Mitbürger/innen.
Verse 9-10
Genau dieser Gedanke wird in den abschließenden Versen über ein sehr geschicktes rhetorisches Mittel zum Ausdruck gebracht. Eigentlich muss Paulus ja den Thessalonichern nicht schreiben, was sie selbst schon wissen, nämlich zu welchem Glauben sie gekommen sind. Aber Paulus muss ihnen zur Ermutigung und zur Stärkung ihrer Identität schreiben, wie sehr er um diesen Existenzwechsel vom Heidetum zum Christentum bei seiner Gemeinde weiß. Dazu wählt er das Stilmittel der indirekten Darlegung, indem er das zitiert, was "man" sich in Mazedonien, Achaia und darüber hinaus von den thessalonikischen Christinnen und Christen erzählt. Das gibt ihm zugleich noch einmal die Gelegenheit, das, was er sicher einst bei der Erstverkündigung in Thessaloniki als "Evangelium" (Vers 5a) vorgestellt hat, in wenigen Worten kernhaft zusammenzufassen. Paulus erweist sich als ein Meister der Kurzformel, um den Glauben auf den Punkt zu bringen.
Entsprechend der späteren Thematik des Briefes (1 Thessalonicher 4,13 - 5,10) liegt bei dieser Evangeliumszusammenfassung der Schwerpunkt auf der sogenannten Eschatologie, also dem, was Christen nach ihrem Tod und nach dem Ende dieser Weltzeit erwarten (vgl. 1 Thessalonicher 4,13: "Brüder und Schwestern, wir wollen euch über die Entschlafenen nicht in Unkenntnis lassen, ..."). Deshalb wird das für Paulus so zentrale und sonst durchaus für sich stehende Geheimnis von Tod und Auferweckung Jesu (vgl. grundlegend 1 Korinther 15,3b-4: "Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift, 4 und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift") gerahmt von der Erwartung des Sohnes Gottes "vom Himmel her" sowie der sich damit verbindendenden Hoffnung, vor dem Zorngericht Gottes gerettet zu werden, also seine dauerhafte Zuwendung nicht zu verlieren (dazu vgl. weiter unter "Auslegung").
Liturgisch gesehen weist die Lesung damit schon auf das Christkönigsfest am letzten Sonntag des Jahreskreises vor dem Ersten Advent voraus.