Vom 29. bis zum 33. Sontag im Lesejahr A liest die katholische Kirche als Zweite Sonntagslesung Abschnitte aus dem Ersten Thessalonicherbrief. Diese Auswahl ist kein Zufall. Denn vor dem Beginn eines neuen Kirchen- und Lesejahres mit dem Advent, der sich auf die Feier der ersten Ankunft Gottes in dieser Welt, das Geburtsfest seines Sohnes Jesus Christus, vorbereitet, wendet sich das zu Ende gehende Kirchenjahr der zweiten Ankunft des Gottessohnes, also der Erwartung der Wiederkunft Christi als Herrn der Welt zu. Und genau sie ist auch ein zentrales Thema im Ersten Thessalonicherbrief, dessen Eröffnung die heutige Zweite Lesung zum Inhalt hat.
Kurze Einführung in den Ersten Thessalonicherbrief
Er gilt als der älteste erhaltene Paulusbrief und damit sogar als das älteste Schreiben des Neuen Testaments. In den Jahren 49/50 n. Chr. hatte Paulus zusammen mit den gleich zu Beginn genannten judenchristlichen Missionsmitarbeitern Silvanus und Timotheus nach einem Gründungsaufenthalt in Philippi die weitaus bedeutendere Stadt Thessaloniki (ca. 40.000 Einwohner) in den Blick genommen. Aufgrund ihrer Nähe zum Wasser sowie zu einer bedeutenden Verkehrsverbindung (Via Egnatia) war sie von Handel und Reiseverkehr geprägt. Namensgeberin war eine Halbschwester Alexanders des Großen, die mit dem Stadtgründer Kassander verheiratet war. Durch das Wirken der Missionare entsteht gut 350 Jahre nach Stadtgründung (ca. 315 v. Chr.) eine christliche Hausgemeinde, die sich im Wesentlichen wohl aus Heiden ohne Bezug zum Judentum und sogenannten Gottesfürchtigen zusammensetzte. Letztere waren ebenfalls Heiden, die sich aber durchaus zum jüdischen Glauben hingezogen fühlten, ohne allerdings den letzten Schritt der Beschneidung zu tun. Gerade aus diesen Kreisen, die ja auf jeden Fall schon entgegen ihrer Herkunft mit dem Glauben an einen einzigen Gott sympathisierten, konnte das frühe Christentum viele Menschen gewinnen.
Ob aus gemeindeinternen Anlässen oder einfach nur aus dem Drang zur Mission an anderen Orten - in jedem Fall verlässt das Missionarstrio Paulus, Silvanus und Timotheus Thessaloniki und gelangt über Athen nach Korinth. Bald ist Paulus um die zurückgelassene Gemeinde besorgt. Der zur "Visitation" ausgesandte Timotheus kann jedoch nur Gutes berichten (1 Thessalonicher 3,6). Auf dieser Basis kann Paulus nun, vermutlich um das Jahr 51 n. Chr., seinen Brief formulieren, der gleichermaßen von Dank angesichts der beruhigenden Nachrichten als auch von Sehnsucht nach einem Wiedersehen erfüllt ist. Zugleich scheint ihm zusätzlich eine Frage zu Ohren gekommen zu sein, welche die Gemeinde beschäftigt: Was passiert mit den Verstorbenen, wenn der Herr - also Jesus Christus - wiederkehrt? Bleiben sie ausgeschlossen und gilt die Gemeinschaft mit Christus bei seiner Wiederkunft (die sogenannte Parusie) nur denen, die der Herr dann lebend antrifft?
Aus diesen inhaltlichen Setzungen ergibt sich der Gesamtaufbau des Briefs, der sich prinzipiell am damals üblichen griechischen Briefformular orientiert:
1, 1-10: Briefeingang mit Anschrift/Gruß und Dank
2,1 - 5,11: Hauptteil, sogenanntes Briefcorpus
2,1 - 3,13: Geschichte der gemeinsamen Beziehung
4,1 - 5,11: Leben in der Erwartung der Wiederkunft
5,12-28: Briefschluss
Einordnung der Lesung in den Zusammenhang
1 Thessalonicher 1,1-5b setzt sich aus zwei Teilen zusammen: Vers 1 nennt die Absender, von denen Paulus wohl der maßgebliche ist, und die Adressatengemeinde. Daran schließt sich ein eröffnender Segensgruß an. Diese drei Elemente zusammen bilden in griechischen Briefformularen die übliche Eröffnung, die "Präskript" genannt wird.
Auf diese eher formelle Eröffnung folgt ein erster inhaltlicher Teil, der zum eigentlichen Thema des Briefes hinführen kann oder ganz allgemein das Wohlwollen der Adressaten für das dann erst folgende Briefanliegen gewinnen will. Im Ersten Thessalonicherbrief reicht dieser "Prömium" genannte Teil von Vers 2 bis 10 und ist vom Motiv des Dankes bestimmt. Dieser Dank wird vom griechischen Wortlaut her in vier Satzgefügen entfaltet:
Verse 2-5c: Gebetsdank;
Verse 6-7: Beispielhaftigkeit und Vorbildlichkeit der thessalonikischen Christ/innen;
Vers 8: Wirkung des guten Beispiels weit über die Stadtgrenzen hinaus;
Verse 9-10: Inhalt dessen, was man sich bei den anderen über die Christ/innen von Thessaloniki erzählt: Ablassen vom Götzendienst und Ewartung der Wiederkunft des auferweckten Herrn Jesus Christus.
Aus dieser dichten Passage wählt die Lesung nur den Gebetsdank aus.
Der Rest des Prömiums einschließlich Vers 5c, der bereits zu Vers 6 überleitet, wird am kommenden Sonntag gelesen.
Vers 1: Gruß und Zuspruch
Das Besondere an dieser Brieferöffnung ist ihre Kürze. In späteren Briefen kann Paulus sie sehr viel ausführlicher gestalten. Vor allem fällt auf, dass er auf jede Selbstvorstellung als "Apostel" oder "Berufener Jesu Christi" verzichtet (vgl. z. B. Röm 1,1; 1 Korinther 1,1; Galater 1,1). Die zeitliche Nähe zur Gründung der Gemeinde und die noch durch keine Gegnergruppen erfolgte Verunsicherung dieser Gemeinde könnte dafür der Grund sein. Paulus steht noch - anders als in späteren Zeiten - unter keinerlei Rechtfertigungszwang.
Die Bezeichnung "Kirche" (griechisch: ekklèsía) verleiht der Gemeinde aus Sicht des Paulus öffentliches Gewicht, denn im griechischen Alltag steht der Begriff für die Bürgerversammlung der Stadt (griechisch: pólis). Diesem weltlichen Gebilde steht die in Gott selbst gründende und ganz vom Glauben an seinen Sohn Jesus Christus geprägte christliche "Bürgergemeinde" gegenüber, deren "Herr" kein römischer Kaiser oder Provinzgouverneur ist, sondern eben dieser Jesus Christus, dessen (Wieder-)Kommen man erwartet.
Der doppelte Segenswunsch spiegelt den doppelten Identitätsbezug: Die "Gnade" als Gabe Gottes verweist ganz auf den, dem sich die Gemeinde verdankt und dem sie ihre Gründung zuschreibt: Gott selbst. Der "Friede" ist die Haltung und der Umgang miteinander, die aus dem Glauben an Jesus Christus und aus der gespannten Erwartung seines Kommens erwachsen und die Gemeinde prägen sollen.
Verse 2-3: Intensiver Dank
Die Bgriffe "euch alle", "sooft" und "unablässig" zeugen von der Intensität des Dankes, den Paulus in Gebetssprache kleidet. Denn der eigentliche Adressat seines Dankes ist nicht die Gemeinde, auch wenn es um deren Handeln geht, sondern Gott. Anders als von ihm her vermag Paulus gar nicht zu denken. Alles, was in der Gemeinde geschieht, verdankt sich Gottes "Gnade", von der in Vers 1 die Rede war. Dem Glaubenden wächst nach Paulus von Gott her alles Notwendige an Kraft und Geist zu, so dass christliches Handeln weniger als Leistung denn als Wirksamwerden-Lassen der göttlichen Gaben zu verstehen ist, die sich natürlich der leiblichen und geistigen Kräfte des Menschen bedienen.
Dieses Handeln wird dreifach entfaltet als Glaube, Liebe und Hoffnung (s. dazu unter "Auslegung").
Wahrscheinlich ist - ganz im Sinne der Ursächlichkeit Gottes von allem - auch die Formel "vor Gott , unserem Vater" nicht, wie in der Übersetzung, auf das Gedenken zu beziehen. Hierbei würde man am ehesten an ein gottesdienstliches Dankgebet denken, das natürlich auch nicht völlig ausgeschlossen werden kann. Die Parallelformulierung in 1 Thessalonicher 3,13 aber: "damit eure Herzen gestärkt werden und ihr ohne Tadel seid, geheiligt vor Gott, unserem Vater, bei der Ankunft Jesu, unseres Herrn, mit allen seinen Heiligen" lässt eher vermuten, dass Paulus sagen will: das Werk (des Glaubens), die Mühe (der Liebe) und die Standhaftigkeit (der Hoffnung) als Kennzeichen dieser vorbildlichen Gemeinde in Thessaloniki geschehen "vor Gott", also im Wissen darum, dass es sich um Gnadengaben handelt und nicht um sich selbst zuzuschreibende Leistungen.
Vers 4: Identitätsstärkung
Die Erwählungszusage stärkt die Gemeinde in ihrer Identität. Immerhin geht es ja um Menschen, die sich mit ihrer Entscheidung für den christlichen Glauben von der Mehrheitsgemeinschaft der Einwohner Thessalonikis abgewandt haben, die Kulten verschiedener Art (z. B. Dionysos) anhängen. Dabei ist der Begriff "Erwählung" vom Alten Testament her, das für Paulus als Jude natürlich immer als Hintergrund mitzudenken ist, eine Umschreibung für die Liebeswahl durch Gott, also wieder für die Initiative Gottes in allem (vgl. ausführlicher unter "Auslegung"). Der Glaube daran verbindet die Gemeinde mit ihren Missionaren (vgl. Vers 6 [am kommenden Sonntag]: "Und ihr seid unserem Beispiel gefolgt und dem des Herrn").
Vers 5a-b: Die Botschaft und der Bote
Einmal mehr bemüht der Erste Thessalonicherbrief die Kraft der Dreizahl (s. bereits Vers 3: Glaube, Liebe und Hoffnung). Diesmal geht es Paulus darum, die Überzeugungskraft seiner Verkündigung herauszustellen. Erstmals fasst er diese Verkündigung im Begriff "Evangelium" zusammen, den er in allen ihm sicher zuzuschreibenden Briefen insgesamt fast 50mal verwendet. "Evangelium" steht bei Paulus dafür, dass der damit bezeichneten Botschaft eine von innen her wirkende Kraft zukommt, die sich aus dem eigentlichen Urheber des "Evangeliums" ableitet, der Gott selber ist (vgl. Römer 1,1, wo Paulus seine Aufgabe umschreibt, "das Evangelium Gottes zu verkünden"). Den Inhalt des Evangeliums resümiert Paulus in 1 Thessalonicher 1,9-10. Da diese Verse erst am kommenden Sontnag vorgelesen werden, seien sie hier schon einmal zitiert. Nach ihnen fordert das Evangelium,
"dem lebendigen und wahren Gott zu dienen 10 und seinen Sohn vom Himmel her zu erwarten, Jesus, den er von den Toten auferweckt hat und der uns dem kommenden Zorn entreißt."
Gottes Einzigkeit, Tod, Auferweckung und Wiederkunft seines Sohnes sowie die Bewahrung vor dem Gericht sind also die entscheidenden Inhalte.
Über die Überzeugungskraft dieses Verkündigungsinhalts hinaus (Vers 5: "nicht im Wort allein") wirken 1. die Kraft im Auftreten des Verkündigers, welche die Kraft des Evangeliums zur Wirkung kommen lässt; 2. die erkennbare Erfülltheit des Paulus mit dem Geist Gottes, die aus seiner Redeweise offensichtlich ableitbar war; 3. die gottgegebene Überzeugungskraft, die eine unerschütterliche Gewissheit in der Verkündigung vermittelt.
Zusammenfassend: Paulus stellt sich als authentischer Zeuge des Evangeliums vor, der keine Sekunde der Gefahr unterliegt, die Botschaft von Gott und seine eigene Person miteinander zu verwechseln.