Nächstenliebe als Zeichen der Gotteserkenntnis
1. Verortung im Brief
Der 1. Johannesbrief (1 Joh) gehört zu einem Dreier-Verbund von Briefen (1-3 Joh), deren Verfasser unbekannt ist. Da die Briefe insgesamt eine inhaltliche Nähe zum Johannesevangelium zeigen (z.B. Motiv des Erkennens 1 Joh 3,1), sind Evangelium und Briefe in der kirchlichen Tradition mit einem gemeinsamen Verfasser verbunden worden. Dies lässt sich jedoch nicht belegen, der Verfasser des Evangeliums wie der Briefe bleibt am Ende anonym. Allerdings steht der Verfasser der Briefe der Gemeinde des Johannesevangeliums und/oder dessen Verfasser nahe. Die Briefe sind in jedem Fall nach dem Evangelium und damit gegen Ende des 1. Jahrhunderts oder zu Beginn des 2. Jahrhunderts verfasst. Da es inhaltlich auch Berührungspunkte mit den Paulusbriefen gibt, könnte Kleinasien (heutige Türkei) Ursprungsort der Briefe sein.
Inhaltlich reagiert der Verfasser mit dem 1 Joh auf Spaltungen und Konflikte in seiner Gemeinde. Unter anderem ist die Tatsache, dass Jesus als Gottes Sohn auch wahrer Mensch ist, ein theologischer Streitpunkt. Auch das Erleben, dass auch Christen schuldig werden und wie mit dieser Erfahrung umgegangen werden kann, ist Thema des Briefes.
Die Liebe Gottes, die sich in der Menschwerdung des Sohnes und dessen Kreuzestod zeigt, als wesentliches Geschenk zu begreifen und dies im eigenen Handeln sichtbar zu machen, ist für den Verfasser daher besonders wichtig. Dies ist insbesondere in 1 Joh 4 das maßgebliche Thema. Die Verse 11-16 bilden den zweiten Teil eines Gedankengangs, der mit 1 Joh 4,7-10 begonnen hatte (zur Auslegung dieses Abschnitts). https://www.in-principio.de/sonntags-lesungen/lesung/2.-Lesung-1-Joh-47-10/
2. Erklärung einzelner Verse
Vers 11: Der Vers stellt den Anschluss zu den vorangegangenen Versen 9-10 her. Die Liebe Gottes, die sich in der Sendung seines Sohnes und dessen Hingabe zur Erlösung von den Sünden gezeigt hat, ist die eindeutige Motivation für die gegenseitige Liebe, auf die der Brief schon mehrfach hingewiesen hatte.
Verse 12-13: Der Verfasser setzt neu ein, indem er über die Gottesschau spricht. Eine direkte Erkenntnis Gottes, ein Sehen der Herrlichkeit Gottes ist bisher niemandem zuteilgeworden. Dies steht in Einklang mit der Tradition des Alten Testaments, wonach Mose mit Gott zwar „von Angesicht zu Angesicht, wie einer mit einem Freund spricht“ (Exodus 33,11), ihm aber dennoch nur in Manifestationen seiner Herrlichkeit gegenübertritt. Eine direkte Begegnung mit der Herrlichkeit Gottes kann nicht zu Lebzeiten erfolgen. Dies ist kein Gegensatz zur Aussage Jesu „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“ (Johannesevangelium 14,9). Denn der Blick auf den Vater durch die Begegnung mit Jesus bietet zwar die Chance zu erkennen und verstehen, wer und wie Gott ist. Von der Gottesschau in aller Herrlichkeit und Endgültigkeit, wie sie im Reich Gottes möglich ist, ist dies jedoch zu unterscheiden.
Aufbauend auf der Aussage „Gott ist Liebe“ (Vers 8 und 16) ist für den 1. Johannesbrief die gegenseitige Liebe jedoch eine „Vermittlungsform“ des Wesens Gottes und damit Teil einer Gotteserkenntnis, die sich im Reich Gottes vollenden wird. Einander zu lieben, stellt die Gegenwart Gottes im Menschen sicher und damit die direkte Verbindung zum Wesen Gottes, der vollendete Liebe ist.
Die bleibende Einheit mit Gott und damit seiner Liebe zu uns, wird in der Sendung des Geistes Gottes offenbar.
Verse 14-15: In einem weiteren Gedanken steht die bleibende Verbundenheit zwischen Gott und den Menschen im Mittelpunkt. Sie wird gefestigt durch das Bekenntnis, dass Jesus als Sohn Gottes vom Vater gesandt in der Hingabe am Kreuz zum Retter wird. Anders als Gott selbst, ist diese Wirklichkeit Gottes sehr wohl sichtbar („wir haben geschaut“) und damit auch anderen verkündbar („bezeugen“).
Vers 16: Der Verfasser stellt mit Blick auf sich und die angesprochenen Christen fest: Die Liebe Gottes haben wir erkannt (in Jesus Christus) und „gläubig angenommen“ (= bekannt). Für alle, die darauf ihr Leben bauen fasst er das Wesentliche der vorangegangenen Gedanken noch einmal zusammen: Gott ist Liebe. Und ein Bleiben in der Liebe, also eine gelebte Liebe, ist Ausdruck der Einheit mit Gott.