Von Herzensurteilen und einer tiefen Gewissheit.
1. Verortung im Brief
Der 1. Johannesbrief (1 Joh) gehört zu einem Dreier-Verbund von Briefen (1-3 Joh), deren Verfasser unbekannt ist. Da die Briefe insgesamt eine inhaltliche Nähe zum Johannesevangelium zeigen (z.B. Motiv des Erkennens 1 Joh 3,1), sind Evangelium und Briefe in der kirchlichen Tradition mit einem gemeinsamen Verfasser verbunden worden. Dies lässt sich jedoch nicht belegen, der Verfasser des Evangeliums wie der Briefe bleibt am Ende anonym. Allerdings steht der Verfasser der Briefe der Gemeinde des Johannesevangeliums und/oder dessen Verfasser nahe. Die Briefe sind in jedem Fall nach dem Evangelium und damit gegen Ende des 1. Jahrhunderts oder zu Beginn des 2. Jahrhunderts verfasst. Da es inhaltlich auch Berührungspunkte mit den Paulusbriefen gibt, könnte Kleinasien (heutige Türkei) Ursprungsort der Briefe sein.
Inhaltlich reagiert der Verfasser mit dem 1 Joh auf Spaltungen und Konflikte in seiner Gemeinde. Unter anderem ist die Tatsache, dass Jesus als Gottes Sohn auch wahrer Mensch ist, ein theologischer Streitpunkt. Auch das Erleben, dass auch Christen schuldig werden und wie mit dieser Erfahrung umgegangen werden kann, ist Thema des Briefes. Die Liebe Gottes, die sich in der Menschwerdung des Sohnes und dessen Kreuzestod zeigt, als wesentliches Geschenk zu begreifen und dies im eigenen Handeln sichtbar zu machen, ist für den Verfasser daher besonders wichtig.
Die Verse 1 Joh 3,18-24 gehören einem Abschnitt an, in dem die „Bruderliebe“ und damit der Umgang der Christen miteinander den roten Faden bildet. Die Erzählung von Kain und Abel bildet die Grundlage, um die gegenseitige Liebe innerhalb der Gemeinde als sichtbares Merkmal der Liebe Gottes in den Fokus zu rücken.
2. Aufbau
Die Verse 18-19a verbindet die folgenden Verse mit den vorangegangenen, ist aber zugleich als Überschrift zu verstehen. In den Versen 19b-22 erfolgt eine Ermutigung der Gemeinde angesichts der Erfahrung des Scheiterns. Die Verse 23-24 formulieren ein Doppelgebot für das christliche Leben und geben die Umsetzung dieses Gebots als Markenkern der Christen zu erkennen.
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 18-19a: Die Aufforderung, in „Tat und Wahrheit“ statt in „Wort und Zunge“ zu lieben, stellt den Gemeindemitgliedern vor Augen, worauf es ankommt: Lippenbekenntnisse helfen nicht, wenn den notleidenden Brüdern und Schwestern nicht konkret geholfen wird. Dies verweist zurück auf Vers 17, in dem der Autor genau dies sehr deutlich gemacht hatte. Die Pointierung dieser Forderung („Bruderliebe“) lässt die Haltung einiger in der Gemeinde durchscheinen. Sie waren offenbar der Meinung, ihr in der Taufe geschenktes Heil würde aktives Handeln in der Nachfolge Jesu (zum Beispiel in der Sorge um den Nächsten) überflüssig machen. Diese Einstellung wird sicher nicht die ganze Gemeinde umfasst haben, der Autor des 1. Johannesbriefes möchte jedoch jede Tendenz in dieser Richtung von Anfang an unterbinden bzw. diskreditieren. Deshalb ist für ihn die „Tat“ am notleidenden Mitchristen das Zeichen des „Erkennens“, ob jemand in der Wahrheit, also wirklich mit Gott verbunden lebt.
Verse 19b-22: Hinter diesen Versen steht die Grunderfahrung, dass es trotz persönlicher Anstrengung nicht immer gelingt, in „Tat und Wahrheit“ zu lieben. Wenn dann das Herz als Ort der Verbundenheit mit Gott ins Zweifeln gerät, dürfen sich die Christen darauf verlassen, dass Gott auch die Herzen der Menschen und den größeren Zusammenhang des Lebens sieht.
Dort, wo ein Handeln und Sprechen nach den Geboten Jesu gelingt und das eigene Herz nicht verurteilt, besteht ohnehin „Zuversicht“. Denn aufgrund des Einklangs mit dem Willen Gottes („tun, was ihm gefällt“) wird jede Bitte gewährt – alles, was erbeten wird, ist ja aus der Verbundenheit mit Gott selbst formuliert.
Verse 23-24: Der Autor beendet seinen Gedanken mit der Formulierung des christlichen Grundgebots. Er bezieht sich darin auf „das Gebot“, das Jesus selbst den Jüngern mitgegeben hat, und ruft seiner Gemeinde damit Johannesevangelium 13,34-35 in Erinnerung. Allerdings mit doppeltem Fokus: In einem ersten Schritt geht es um den „Namen seines Sohnes Jesus Christus“, an den die Christen glauben sollen. Der Glaube an den „Namen“ schließt das ganze Wirken und Wesen der Person ein. Die Gemeinde soll sich also zu erkennen geben als Nachfolger eines menschenliebenden Gottessohnes, der sein Leben zur Erlösung von Schuld hingibt. Der zweite Schritt betritt die gegenseitige Liebe, die „in Tat und Wahrheit“ Ausdruck findet.
Die Umsetzung dieses Gebotes führt dazu, dass die Christen mit hinein genommen werden in die Gemeinschaft, die zwischen Vater und Sohn besteht (Johannesevangelium 10,30). So wie Vater und Sohn eins sind, so werden die Christen durch Befolgung dieses Gebotes „in Gott“ sein und Gott in ihnen. Es wird also zu einer beständigen Gemeinschaft der Glaubenden mit Gott kommen. Zeichen dieser Gemeinschaft ist der Geist, der den Christen in der Taufe geschenkt wird.