Gott ist da! Merkst du es noch? Der Titusbrief stellt uns als zweite Lesung der Heiligen Nacht vor Augen, welcher Auftrag mit dem Geschenk der Menschwerdung Gottes an uns ergeht.
1. Verortung im Brief
Der Brief an Titus gehört zur Gruppe der sog. Pastoralbriefe, die vermutlich erst im 2. Viertel des 2. Jahrhunderts in Kleinasien (der westlichen Türkei) entstanden sind. Zu diesem Zeitpunkt sind der Verfasser des Briefes, Paulus, und der Adressat des Briefes, sein Mitarbeiter Titus, längst gestorben. Der von einem unbekannten Verfasser stammende Brief lässt dennoch die Stimme des Paulus neu erklingen, als spräche er zu seinem Mitarbeiter und durch ihn zu einer Gemeinde, die sich mit den Problemen des „christlichen Alltags“ plagt. Dazu gehört auch die Frage, wie sich christliches Leben in einer „Übergangszeit“ gestaltet. Liegt doch das Wirken Jesu einige Zeit zurück und kann nicht mehr von Augenzeugen vermittelt werden und bleibt die Ersehnte Wiederkunft Christi bislang aus.
2. Aufbau
Die vier Verse des Titusbriefes (Tit) sind eng miteinander verknüpft und bilden in gewisser Weise eine Grundlegung zum vorangegangenen Abschnitt (Tit 2,1-10), der sich dem Verhalten unterschiedlicher Gruppen in der Gemeinde widmete. Mit dem einleitenden Vers 11 wird diesem Verhalten eine theologische Begründung gegeben, die dann in den Versen 12 und 13 in die Lebenswelt der Gemeinde übertragen wird. Vers 14 schließt den Abschnitt mit einem Verweis auf das Erlösungshandeln Jesu ab.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 11: Durch die Einleitung mit „denn“ wird deutlich, dass der Vers ein Bindeglied zwischen dem vorangegangenen Abschnitt (Tit 2,1-10) und den nun folgenden Versen ist. Die grundlegende Feststellung von der Erscheinung der Gnade Gottes ist Begründung und Ausgangspunkt zugleich.
Mit dem Begriff „Erscheinung“ (epiphaneia, griechisch: „ἐπιφάνεια“) wird in antiker Zeit das sichtbar oder offenbar Werden einer Gottheit umschrieben. Das Christentum verwendet diesen Begriff ebenfalls und bringt mit ihm die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus zum Ausdruck. Dies spiegelt sich in der Bezeichnung des 6. Januar als Epiphanie-Fest bis heute wieder. Denn man feierte ursprünglich das Weihnachtsfest 12 Tage lang, vom 25. Dezember bis zum 6. Januar. Der 6. Januar schließt dann die Feier der Erscheinung Gottes ab, in der westlichen Kirche mit der Anbetung der Weisen aus dem Morgenland, in der Ostkirche mit der Taufe Jesu.
Hier ist das „Erscheinen“ der Gnade Gottes jedoch nicht nur auf die Geburt Jesu bezogen, sondern auf das Geheimnis der Menschwerdung als Ganzes, das auch das irdische Leben und Leiden umfasst. Es geht hierbei um das erste Erscheinen Gottes im Unterschied zum zweiten Erscheinen am Ende der Tage, das mit der Wiederkunft (Parusie) Jesu Christi verbunden wird.
Die universalistische Perspektive („um alle Menschen zu retten“) zieht den Wirkungsradius, den die Erscheinung der Gnade Gottes zieht, weit über die christliche Gemeinde hinaus.
Verse 12-13: Ausgehend von der Feststellung der geschenkten Gnade in der Menschwerdung Jesu Christi wird nun die Wirkung dieses Geschenks beschrieben. Sie zeigt sich in der „Erziehung“ der Christen, wobei „Erziehung“ im Sinne von „Ermutigung zum Wachsen“ zu verstehen ist. Was die Gnade bewirkt, wird positiv und negativ beschrieben. Dabei ist das Lossagen von der Gottlosigkeit und den irdischen Begierden etwas, was die Mitglieder der christlichen Gemeinde bereits hinter sich haben. Sie haben sich von alten Lebens- und Glaubensgewohnheiten entfernt und sich taufen lassen. Das „Lossagen von“ dürfte die Adressaten des Briefes an ihre eigene Taufe erinnert haben. Das Bekenntnis zu Christus und Lossagen von fremden Mächten hat aus frühester Tradition bis in die heutige Taufliturgie hinein Bestand. Die „negative“ Wirkung, also das Abstandnehmen von etwas, haben die Gemeindemitglieder bereits vollzogen. Die „positive“ Wirkung, die mit Vokabeln umschrieben wird, die der antiken Ethik entlehnt sind, ist hingegen nicht abgeschlossen, sondern wirkt fort. Der Autor will deutlich machen, dass das Leben als Christ unter dem Anspruch der Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus steht. Es geht also um das Leben in der Welt, was durch die erschienene Gnade eine bestimmte Richtung bekommt. Weil der Autor die Begriffe der griechischen Ethik hier in den Kontext der Menschwerdung Gottes stellt, werden sie zu christlichen Lebenshaltungen umgedeutet.
Die Zielperspektive dieser Lebensweise ist das Erscheinen der Herrlichkeit Gottes und des Retters Jesus Christus am Ende der Zeit. Die Worte des Autors stehen damit unter der Perspektive der Vorläufigkeit. Denn in der Menschwerdung ist das Heil Gottes bereits gegenwärtig geworden, es wartet aber auf seine Vollendung am Tag der Wiederkunft. Entsprechend ist die erste Erscheinung der Gnade Gottes Anlass und Befähigung, sich so zu verhalten, dass das Leben in der Jetztzeit die Hoffnung auf die zweite Erscheinung und damit das Reich Gottes wiederspiegelt.
Vers 14: In einem Bogen zu Vers 11 wird nun die Art und Weise, in der die Gnade erschien, dargestellt. Die hier verwendeten Begriffe schließen sich an die paulinische Akzentuierung vom befreienden und rettenden Tod Jesu an (z.B. 1. Korintherbrief 1,30). Dabei ist die Selbsthingabe der Weg des Mittlers, Jesus Christus, und auch der Weg aller Christen. Das Vergangene, das Heilshandeln Gottes in der Menschwerdung Jesu, wird feierlich in Erinnerung gebracht, um damit die Ermutigung der Verse 12-13 zu unterstreichen. Gottes Handeln wird zur Motivation eines menschlichen Handelns, das sich im Lossagen von fremden Mächten und einer positiven Lebensgestaltung zeigt. Diese positive Antwort („das Gute zu tun“) wird durch die Stellung am Ende des Verses noch einmal besonders betont. Dabei ist der Gedanke der Bewährung im eigenen Handeln in den Pastoralbriefen ein ganz wichtiges Motiv und immer wieder zu finden.