Jesus Christus ist wahrer Gott und wahrer Mensch. Dieser Satz gehört zum Grundbestand christlichen Glaubens, klingt aber unter Umständen eher abstrakt. Der Hebräerbrief entwickelt daraus aber die Voraussetzung dafür, dass Jesus und in ihm Gott selbst mit den Schwächen der Menschen mitfühlen und sie zugleich stärken kann, den Verführungen zu falschen Entscheidungen nicht zu erliegen. Wo es doch geschieht, wartet er am Ende einmal mehr mit Einfühlsamkeit: mit Gnade und Erbarmen.
Einordnung in den größeren Zusammenhang
Die Lesung des Karfreitags verbindet zwei zentrale Abschnitte aus den eröffnenden Teilen zum Hohepriestertum Christi, die insgesamt die Kapitel Hebr 4,14 - 10,31 umfassen. Die Auslassung der dazwischen liegenden Verse 5,1-6 erklärt sich daraus, dass sie ein Unterthema des Hohepriestertums andeuten, nämlich die alttestamentliche Gestalt Melchisedeks aus Genesis 14. Was mit dieser Anspielung gemeint ist, führt der Hebräerbrief aber erst in Hebr 7,1-10 wirklich aus. Es bliebe also im Rahmen der heutigen Lesung unverständlich.
Hebr 4,14: Jesus als "Himmelsdurchschreiter"
Der erste Vers der Lesung greift ein Thema auf, das zum ersten Mal in Hebr 2,17-18 anklingt:
17 Darum musste er [d. i. Christus] in allem seinen Brüdern gleich sein, um ein barmherziger und treuer Hohepriester vor Gott zu sein und die Sünden des Volkes zu sühnen.
18 Denn da er gelitten hat und selbst in Versuchung geführt wurde, kann er denen helfen, die in Versuchung geführt werden.
Vorausverweisend endet mit diesen Versen das Eröffnungskapitel Hebr 1 - 2 und führt damit ein zentrales Motiv ein, dessen Ausführung aber erst ab Hebr 4,14 folgt, nämlch in Hebr 4,14 - 10,25 (in Hebr 10,21 begegnet das Stichwort "Hohepriester" zum letzten Mal im Brief; s. dazu etwas ausführlicher die Einleitung in die Zweite Lesung am 5. Fastensonntag/Lesejahr B).
Genau hier, also am Beginn des großen Abschnitts zum Hohepriestertum Christi, setzt die Zweite Lesung zum Karfreitag ein. Alllerdings bleibt hier noch alles räselhaft. Das liegt daran, dass dieser Vers zwar das Stichwort "Hohepriester" aufgreift, zunächst aber auch noch zurückgreift auf die Passage Hebr 3,1 - 4,13. In ihr ging es um die Gegenüberstellung von Treue und Unglaube. Dieses Thema verwundert nicht in einem Schreiben, dass sich an eine Gemeinde wendet, die Auflösungstendenzen aufweist. Den Glauben aufzugeben und lieber - um des eigenen Erfolges willen oder auch um der befürchteten Lebensgefahr zu entgehen -, mit Rom zu kollaborieren, war eine wirkliche Gefährdung, der der Autor des Schreibens mit Mahnungen zum Festhalten am Glauben entgegentritt.
An diesen Gedanken knüpft nun der erste Vers der Karfreitagslesung an: "Lasst uns an dem Bekenntnis festhalten!" .Gemeint ist das Bekenntnis zum Hohepriester Jesus Christus. Ergänzend zu dieser Aussage wird festgehalten: Er ist - anders als jeder irdischer Hohepriester, der je am Tempel von Jerusalem Dienst tat - himmlischer Herkunft. Er ist nämlich Gottes Mensch gewordenes Wort, (vgl. Hebr 1,1-4) und er ist mit seiner Auferweckung vom Tode wieder zum Vater zurückgekehrt. Diese Bewegung des Herabstiegs vom Himmel und der Rückkehr dorthin wird mit der Wendung "der die Himmel durchschritten hat" zusammengefasst.
Was aber hat es nun mit dem "Hohepriestertum" Jesu auf sich?
Hebr 4,15: Der Gottessohn als "einfühlsamer Hohepriester"
Noch einmal wird die Antwort ein wenig hinausgezögert. Stattdessen wird dem Bekenntnis zum "himmlischen" Gottessohn ein zweites zur Seite gestellt:
Dieser Jesus Christus war zugleich ganz und gar Mensch, also kein der irdischen Wirklichkeit enthobenes Wesen. Als "typisch" menschlichen Wesenszug nennt der Hebräerbrief dabei die Versuchbarkeit/Verführbarkeit. Auch Jesus war Verführungen ausgesetzt. Dabei könnte der Verfasser des Hebräerbriefes hier an die Versuchungen Jesu durch Satan in der Wüste denken, die.Markus 1,12-13 nur kurz benennt, Matthäus 4,1-11 hingegen sehr ausführlich darstellt (unter "Kontext" sind die entsprechenden Stellen ausgeführt.). Wie Jesus hier Satan "abblitzen" lässt und sich nicht auf die Versuchung einlässt, Satan als Gott anzuerkennen, kann veranschaulichen, was der Hebräerbrief damit meint, wenn er festhät: Jesus war zwar wie jeder Mensch Verführungen ausgesetzt, ist ihnen aber nicht erlegen. Er hat nicht gesündiigt.
Gerade aber die Erfahrung von Versuchungen im Leben Jesu verleihen ihm eine Eigenschaft, die man einem rein "himmlischen", weltenthobenen Wesen nicht zutrauen würde: Er kann mit den menschlichen Schwächen mitfühlen. Das moderne Wort dafür heißt Empathie: die Fähigkeit, sich in den anderen einzufühlen.Wenn es letztlich darum geht, die Verwundungen zu heilen, die jemand innerlich davonträgt, wenn er einer Verführung zum absolut Falschen erlegen ist, dann ist diese Empathie eine ideale Vorassetzung. Dies gilt um so mehr, wenn dieser "Heiler" zwar selbst solche Verführung zum absolut Falschen kennt, ihr aber selbst eben nicht erlegen ist.,
Genau als einen solchen "Heiler", als "Erlöser" von den Sünden, genauer: von den negativen Folgen für das, was eigenes falsches Handeln der Seele an Schaden zufügt - genau als einen solchen "Sündentilger" will der Hebräerbrief Jesus vorstellen. Das ist auch der Hintergund des Vergleichs mit dem Hohepriester am Tempel, der auch in einem feierlichen Ritus einmal im Jahr einen Sündenvergebungsritus vollzog. Doch traut der Hebräerbrief diesem Ritus keine große Wirkkraft zu, musste er doch jährlich wiederholt werden. Vor allem wissen wir weder etwas von der besonderen Einfühlungsfähigkeit der jüdischen Hohepriester noch sind sie himmlisch-göttlicher Herkunft. Unter beiden Vergleichspunkten steht also Jesus Christus für den Hebräerbrief überragend da.
Hebr 4,16: Christus als Ansprechpartner in der Entscheidungsnot
Er ist damit auch der ideale Ansprechpartner für solche, die sich gerade in einer Situation befinden, in der sie auf der Kippe zu einer falschen Entscheidung stehen, - der Hebräerbrief denkt natürlich besonders an die Gefahr, sich für Rom und gegen den eigenen Glauben zu entscheiden. Im Glauben an den mitfühlenden und zugleich heilenden, vielleicht auch Inspiration zur Überwindung von Verführungen gebenden "Hohepriester" Christus dürfen und sollen sich die Menschen betend an ihn wenden.
Die "rechte" Zeit, von der der Vers spricht, ist also besonders die Stunde der Anfechtung, wo die Hilfe am nötigsten ist. Das Motiv knüpft vertrauensvoll an die Gebetstradition der Psalmen an: "Aller Augen warten auf dich und du gibst ihnen ihre Speise zur rechten Zeit" (Psalm 145,15).
Der "Thron der Gnade" hingegen löst sich von Hebr 8,1 her auf: "Wir haben einen solchen Hohepriester, der sich zur Rechten des Thrones der Majestät im Himmel gesetzt hat," Der zum Vater in den Himmel zurückgekehrte Gottessohn (vgl. Christi Himmelfahrt) ist zugleich der Richter am Ende der Zeit. Das Symbol des Richters ist biblisch der "Thron", von dem aus er das Urteil spricht. Mit dem Richter Jesus aber verbinden sich, wenn Empathie und Heilung seine Hauptwesenszüge sind, nicht das Todesurteil, sondern Gnade und Erbarmen.
Hebr 5,7-9: Was der Garten Getsemani lehrt
Der zweite Teil der Lesung spitzt das Motiv der wahren Menschheit und Versuchbarkeit Jesu zu. Jetzt geht es nicht mehr um die Versuchungen Jesu in der Wüste, sondern um seine Todesangst im Garten Getsemani vor seiner Verhaftung und schließlichen Kreuzigung. (Die Lukasfassung der Szene wird vollständig unter "Kontext" wiedergegeben).
Der Hebräerbrief entwickelt aus der Erinnerung an Getsemani eine eigene Theologie: Er verbindet die Erfahrung tiefer, versucherischer Angst ("mit lautem Schreien und unter Tränen", "Leiden") mit der Grundhaltung eines noch tieferen Gottvertrauens ("Gebete", "Bitten", "Gottesfurcht"). Dem Hebräerbrief liegt so sehr an der wahren Menschheit Jesu, dass er festhält: Auch der Sohn Gottes musste Gehorsam durch Leiden lernen. Das Motiv des "Gehorsams durch Leiden" ist zur Zeit des Hebräerbriefs im philosophischen Denken bekannt. Es steht für eine mögliche menschliche Erfahrung, die bei Jesus aber noch einmal neue Züge gewinnt. Denn das "Leiden" ist hier nicht etwa der Schmerz von erzieherischen Schlägen oder Krankheit. Vielmehr geht es um das Ringen mit der Frage, wirklich den Weg des Todes als den Heilsweg Gottes auf sich zu nehmen oder nicht.
Indem Jesus auch der Versuchung widerstanden hat, "kurz vor Ende" lieber am irdischen Leben festzuhalten und z. B. zu fliehen, hat er genau den Weg gewählt, über den allein es Gott möglich war zu zeigen, dass der Tod und die Sünde (die Kreuzigung eines Unschuldigen) nicht das letzte Wort haben, sondern Gott und das Leben. Deshalb ist dieser Hohepriester Jesus, der nicht - wie der alttestamentliche Hohepriester - Opfertiere, sondern sich selbst "opferte", Ursache unseres Heils. In seiner durchgehaltenen Treue zu Gott ist er aber zugleich auch Vorbild, unter keinen Umständen den eigenen Glauben aufzugeben (vgl. ausführlicher zu diesem Teil der Lesung die Kommentierung derselben Perikope am 5. Fastensonntag/Lesejahr B)